Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein und der französische Schriftsteller Michel Houellebecq
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Staatspreisverleihung in Salzburg

Der höfliche Herr Houellebecq

Festspielstarts in Salzburg kennen ein Ritual: Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird am Rande der Festspiele vergeben. Weil Politik und Regierung zu dieser Zeit schon an der Salzach weilen. Doch heuer ist einiges anders. Nicht nur wegen einer unerwarteten Übergangsregierung, die mit Michel Houellebecq einen unerwarteten Preisträger auszeichnet. Der eigentlich keinen Preis brauche, aber dann doch höflich geblieben sei, hält Autor und Preisträger Daniel Wisser für ORF.at fest:

Während Politiker bei Preisverleihungen meist zu früh gehen, kommen die Preise für die Ausgezeichneten meist zu spät. An diesem Freitag war alles anders: Zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur an Michel Houellebecq in Salzburg kamen Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein und der erfrischend redegewandte Minister Alexander Schallenberg. Der oft als Skandalautor titulierte Houellebecq ermahnte das Publikum mit dem Satz Höflichkeit ist Heuchelei und blieb dabei höflich. Seine Abneigung gegen Rauchverbote kam nicht zur Sprache. Nur dreimal zog der Autor an seiner E-Zigarette, und ein Wölkchen Rauch störte die hinter ihm Sitzenden — die einzige und damit größte Provokation des Tages.

Der Preis werde für europäische Literatur und nicht für europafreundliche Literatur vergeben, merkte Laudatorin Daniela Strigl trocken an. Houellebecq braucht keinen Preis. Seine Romane erreichen Spitzenplätze in Bestsellerlisten und werden mit höchstem Aufwand und Effekt beworben. Dennoch hat Houellebecq den Preis zu Recht bekommen, denn er ist einer der größten Autoren der 1990er Jahre, wenn nicht der größte. Er ist das durch seinen einzigartigen, visionären Roman „Extension du domaine de la lutte“ (1994). Erst nach dem Erfolg seines zweiten Romans „Elementarteilchen“ erschien Houellebecqs Erstling 1999 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Ausweitung der Kampfzone“. Der Titel des Romans ist ein geflügeltes Wort geworden. Jeder zweite Zeitungsartikel über Houellebecq trägt eine mehr oder weniger gelungene Abwandlung desselben als Überschrift. Für jede solche Verhunzung raucht der Meister wahrscheinlich eine Extra-Tschick.

Kulturminister Alexander Schallenberg und der französische Schriftsteller Michel Houellebecq
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Alexander Schallenberg als zuständiger Kulturminister und Michel Houellebecq samt Auszeichnung.

Der Preis

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen. Die Dotation des Preises beträgt 25.000 Euro. Zuletzt erhielten Andrzej Stasiuk (2016), Karl Ove Knausgard (2017) und Zadie Smith (2018) diese Auszeichnung.

Das Lachen des Wiedererkennens

Houellebecqs Debüt besticht durch die gnadenlose Selbstdesavouierung des Erzählers, durch die Unhöflichkeit zu sich selbst, und ist dennoch ein durch und durch empathischer Roman. Das Lachen, das er auslöst, ist ein Lachen des Wiedererkennens. Selten hat ein Autor die zeitgenössische Arbeits- und Lebenswelt so schonungslos zerlegt.

Seither hat Houellebecq sieben Romane vorgelegt, zuletzt „Serotonin“ (2019), aber es blieb nicht aus, dass Provokation und Zynismus, dort wo sie sich nicht an der Wahrhaftigkeit der eigenen Lebenswelt entzünden, bloße Methode geblieben und ins Leere gelaufen sind. Die Aporien der zeitgenössischen Gesellschaft zu geißeln wird dort, wo jede Dialektik fehlt, wo der Erzählers sich nicht gegen sich selbst richtet, voyeuristisch. In „Serotonin“ ist zudem nicht nur der Tonfall wehleidig, sondern auch der Plot (ein Mann kündigt, verlässt seine Freundin, behebt alles Geld, das er hat, und geht auf die Suche nach Orten und Lieben seiner Jugend) höchst konventionell und schon x-fach da gewesen. Vielleicht steckt eine Vorahnung dieser Höflichkeit gegen sich selbst schon in „Ausweitung der Kampfzone“, wo es heißt: „Sagen wir, ich bin zu 80 Prozent normal.“

Daniel Wisser
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Daniel Wisser, Autor und Träger des Österreichischen Buchpreises 2018 – ausgezeichnet für seinen Roman „Königin der Berge“ (Jung und Jung).

„Es handelt sich bloß um einen Sanierungsplan“

Viel wurde von Daniela Strigl über die Inhalte von Houellebecqs Romanen gesagt, wenig über eine seiner bestechenden literarischen Qualitäten, nämlich Ungegenden und Unorte zu beschreiben (noch lange bevor das Wort Dystopie in jeder Diskussion über Literatur bemüht werden musste). Ein weiteres Zitat aus „Ausweitung der Kampfzone“: „Wir arbeiten in einem vollkommen verwüsteten Stadtteil, der vage an eine Mondlandschaft erinnert. Wenn man mit dem Bus kommt, könnte man wahrhaftig meinen, der dritte Weltkrieg sei gerade vorbei. Aber nein, es handelt sich bloß um einen Sanierungsplan.“

Vielleicht kann man Houellebecq heute Abend noch in einer Salzburger Mondlandschaft finden, an einer Bushaltestelle oder in einem Krater hinter einem Lokal, wo auch immer, in jedem Fall eine Zigarette rauchend.

Houellebecqs Abgang aus dem Saal war jedenfalls so höflich wie sein sonstiges Auftreten an diesem Tag: Ein Fan ging ihm hinterher und bat ihn, ein Buch zu signieren. Houellebecq signierte. Der Fan ging glücklich davon, ohne seinen Kugelschreiber mitzunehmen. Houellebecq blickte ratlos um sich. Dann ließ er den Kugelschreiber fallen und ging mit dem Minister und Laudatorin Strigl essen.