Jan Lauwers vor Logo Salzburger Festspiele
SF / Simon Kerschner
Jan Lauwers zu „Intolleranza 1960“

„Es wird wie ein Faustschlag ins Gesicht“

Ein Erlebnis, dem man sich nicht entziehen können wird – weder auf der Bühne noch im Publikum. „Es wird ein Faustschlag ins Gesicht“ – das verspricht der belgische Regisseur Jan Lauwers im Gespräch zu der vielleicht riskantesten Festspielproduktion, Luigi Nonos „Intolleranza 1960“, die am 15. August Premiere haben wird. Die sozialen Netzwerke und die darin ständig stattfindenden Urteile und Verurteilungen, das ist für Lauwers die „Intolleranza“ unserer Zeit, wie er im Vorabgespräch mit ORF.at verrät. Kunst müsse fundamental dagegen positioniert werden.

Seit der „Incoronazione di Poppea“, die zuerst in Salzburg bei den Festspielen zu sehen war und nach den Erfolgen im Juni auch in der kommenden Saison wieder an der Wiener Staatsoper zu erleben ist, hat sich Theatermacher Lauwers in die Geschichte der Gegenwartsoper eingeschrieben. Lauwers ist der Mann für intensive Erlebnisse, für eine Opulenz des Bildlichen und der Bewegung. Fast so etwas wie ein Lazarus des Theatermachens weiß er mit seiner Needcompany jeden Stoff über einen Hebel ungemein zu beleben.

ORF.at traf ihn an einem probenfreien Tag am Dach der Felsenreitschule, also dort, wo er gemeinsam mit Ingo Metzmacher, der hinter dem Pult steht, ein Gesamterlebnis zur schwierigen wie zugleich soghaften Musik Nonos schaffen wird. Die Arbeit, die anstehe, gleiche sehr der „Poppea“, nur werde die Schönheit daraus verschwinden. Dagegen gäbe es aber einige Elementarerfahrungen zu machen, wie sie nur im Liveerlebnis, im analogen Raum, zu bekommen seien. Man werde mit diesem Werk an seine eigenen Grenzen gebracht, so Lauwers. Aber, so Lauwers: Er glaube fest daran, dass uns Kunst bei allen Fragen, die sie aufwerfe, besser machen könne.

Das gesamte Interview

ORF.at: Herr Lauwers, können Sie beschreiben, aus welcher Tradition Sie kommen – und wie sich das auf Ihre jüngsten Opernarbeiten auswirkt?

Jan Lauwers: Meine Wurzeln liegen in der bildenden Kunst. Und als ich darüber nachdachte, entdeckte ich, wie stark dieser visuelle Ansatz mit der katholischen Tradition verbunden ist, mit der ich aufgewachsen bin. Im Katholizismus ist alles ein Bild. Christus am Kreuz ist eines der ersten Bilder, die Sie im Zeitalter eines Säuglings sehen. Das sieht man auch in den Werken meines Kollegen Romeo Castellucci. Und ich denke, dass wir diese Kultur der Visualität teilen. Mit dieser starken visuellen Tradition beschäftige ich mich in meiner Arbeit jeden Tag. Und natürlich gibt es zusätzlich dieses Schuldproblem, das so tief in der katholischen Tradition verwurzelt ist. Und Nono hatte diesen Hintergrund auch. Es gibt Themen, auf die ich jeden Tag in meiner Arbeit zurückkomme. Und der Katholizismus mag der stärkste Teil darin sein.

Gerald Heidegger im Gespräch mit Jan Lauwers
SF / Simon Kerschner
Jan Lauwers auf dem Dach der Felsenreitschule. Bei „Intolleranza“ würden alle Beteiligten ein hohes Risiko eingehen, ist er sich sicher.

ORF.at: „Intolleranza“ könnte als moderne Passionsgeschichte gelesen werden. Gerade die italienische Linke, Charaktere wie Pier Paolo Pasolini oder Luigi Nono hatten eine Neigung zu Leidenschaftsgeschichten. Wie steht es mit Ihnen? Wie gehen Sie mit dieser Tradition um?

Lauwers: Meine Herangehensweise an „Intolleranza 1960“ ist wie in jeder meiner anderen Arbeiten: die Ambiguität in der Kunst zu erhalten. Heute leben wir mit Social Media in vulgären Zeiten, in denen jeder eine Meinung hat. Aber sehr oft gibt es wenig Grund für diese Meinung. Wir wollen Klarheit in der Kunst haben, wir wollen Antworten auf Fragen, aber es gibt keine Klarheit, es gibt keine Antworten. Ich glaube fest an diese Form der Ambiguität. Social Media, wie wir es heute sehen, ist für mich die „Intolleranza“.

Nono hat ein absolutes Meisterwerk geschaffen, das ein mehrdeutiges Meisterwerk ist. Seine Vision von Musik war auch eine politische Vision. Man kann da nicht mitsingen wie früher. Zu dieser Musik kann man nicht tanzen. So entwickelte er eine neue Sprache in der Musik. Auf der anderen Seite war er ein Kommunist, der sehr klare Ziele hatte, indem er die Worte Brechts oder Sartres benutzte. Das Libretto ist im Vergleich zur Musik sehr schlicht. Sie können es in zwei Minuten lesen und sagen: Ja, ich habe es verstanden. Das Libretto ist also nicht das Ziel. Es geht um die Form. Und alles zusammen ergibt eine Emotion. Und alle zusammen, nicht irgendein Individuum, bilden diese gemeinsame Emotion.

ORF.at: Wie bringt man die von Ihnen angesprochene Ambiguität und den Aspekt einer politischen Kunst unter einen Hut?

Lauwers: Ich arbeite jetzt seit drei Jahren an diesem Stück, ähnlich wie bei „Poppea“. Und in beiden Arbeiten musste ich mich mit politischer Kunst auseinandersetzen. „Politische Kunst zerstört die Schönheit der Politik“ – das ist meine Aussage. Mit Nono haben Sie eine klare politische Aussage und eine sehr komplexe Form, sodass die Form zum Inhalt wird. Und das ist das Beste, was Sie haben können. Als Zuschauer kann man selbst entscheiden, was man sehen möchte.

ORF.at: Wie wirkt sich diese Einstellung auf Ihren Arbeitsprozess aus?

Lauwers: In Zeiten von Covid-19 ist es so wichtig, dieses Miteinander zu spüren, Ingo Metzmacher mit seiner Expertise, Sean Panikkar, der den Immigranten singt, dieser fantastische Staatsopernchor, eine Gruppe junger Tänzer: Alle arbeiten so eng zusammen und es gibt keine „Diva-Hierarchie“. Es stehen 89 Personen auf der Bühne. Und sie alle bleiben auf der Bühne. Auch wenn sie nicht singen. Und ich muss sagen, dass der Staatsopernchor phänomenal ist, wie er alles spielt: Er singt und tanzt – und wir haben jeden Tag mit ihm gearbeitet. Die Sängerinnen und Sänger sagten, dass sie nicht gewohnt wären, die ganze Zeit auf der Bühne zu stehen. Und jetzt performen und bewegen sie sich auf absolut fantastische Weise. Die Show wird ein Event sein. Und was wir tun, ist etwas ziemlich Schweres. Es ist zu grausam für Worte. „Alles kaputt.“

Notizen von Luigi Nonno zu dieser Oper
SF/Marco Borelli
Luigi Nonos Notizen zu „Intolleranza“ – zu sehen in einer sehr eindrücklichen Schau im Foyer der Felsenreitschule, die von Margarethe Lasinger kuratiert und Thaddaeus Ropac unterstützt wurde

ORF.at: Bei Nono gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Bühne und Publikum. Wie gehen Sie mit dem Ort hier um, der Felsenreitschule?

Lauwers: Der Veranstaltungsort ist fantastisch. Es ist wirklich ein magischer Ort. Und wir haben die Freiheit, hier viel zu arbeiten. Wir etablieren tatsächlich eine wilde Show. Ich möchte ein Porträt von jeder Person auf der Bühne haben. Von Anfang bis Ende sollte es eine wilde Reise werden. Du nimmst an etwas teil, das heikel ist. Und natürlich zeigen wir 20 Minuten lang Folterszenen, sodass wir an der Grenze des Zeigens und Performens sind. An bestimmten Stellen in der Probe haben wir gesehen, dass wir in diesem Prozess sehr weit gegangen sind. Auf der anderen Seite beschäftigen wir uns mit einem starken Thema der Migration. Als Regisseur habe ich allen Leuten auf der Bühne gesagt, dass sie nicht auf zwei Füßen stehen sollen. Alle auf der Bühne bewegen sich. Wir müssen die Mehrdeutigkeit in der Kunst bewahren. Und wir müssen uns an den Begriff des Zweifels halten. Sie können nicht mehr zweifeln. Jeder hat zu allem eine klare Meinung.

ORF.at: Wie bringt man den Zweifel zurück auf die Bühne?

Lauwers: Gegen diese klare Form der Meinungsbildung führe ich den blinden Poeten ein. Ich denke, Dichter können visionär sein. Seit einiger Zeit schon arbeite ich mit der Figur des blinden Dichters auf der Bühne. Der blinde Dichter ist der Clown. Er ist autonom. Denn diese Idee der autonomen Transzendenz ist heute verschwunden. Ich benutze die Figur des blinden Dichters im Stück und habe einen neuen Monolog für ihn geschrieben. Er wird auch zerstört werden, da wir nicht mehr mit Zweifeln oder Unklarheiten leben können. Ich bin fest davon überzeugt, dass Künstler auf eine gute Art und Weise zweifeln müssen. Das möchte ich auch gegen die klare Aussage von Nono stellen.

Gerald Heidegger im Gespräch mit Jan Lauwers
SF / Simon Kerschner
„Die Show wird ein Event sein. Und am Ende: ‚Alles kaputt.‘“

ORF.at: Sie haben gesagt, dass Sie in Nonos „Intolleranza“ einen sehr persönlichen Zugang zum Thema Migration haben.

Lauwers: Migration ist ein starkes Thema für mich. Im kollektiven Gedächtnis gibt es die Tragödie von Bois du Cazier (1956), als 262 Arbeiter hauptsächlich italischer Abstammung bei einer Bergbaukatastrophe starben, auf die auch in der Oper Bezug genommen wird. Ich persönlich bin schon sehr früh auf Migranten gestoßen, da mein Vater als Arzt für Einwanderer arbeitete. Und ich erinnere mich als Kind an all die Sprachen aus Marokko und anderen Ländern in unserem Haus. Wir brauchen Vielfalt auf der Bühne. Ich denke, das schafft ein wichtiges Bild. Auch mit Sean Panikkar als Sänger. Für ihn sind Migration und Rassismus ein großes Thema, und genau darüber reden wir viel. Hier in Salzburg befinden wir uns in einer Blase des Weißseins. Und ich finde es wichtig, dass Markus Hinterhäuser und auch Präsidentin Helga Rabl-Stadler versuchen, das Festival an die Grenzen zu bringen. Nono hier zu tun ist keine einfache Aussage.

ORF.at: Wie würden Sie „Poppea“ mit „Intolleranza“ vergleichen?

Lauwers: Diese Arbeit ist sehr intensiv, sehr grausam. Aber Oper wird zu etwas Magischem, wenn so viele Menschen gemeinsam an einem solchen Projekt arbeiten. Ich bin also sehr glücklich, aber ich bin auch sehr gespannt, wie am Ende alles klappt. Jetzt untergrabe ich alle meine ästhetischen Formen. Das Set ist nur der Boden und die Leute – das war’s. Die Mechanismen in dieser Arbeit sind „Poppea“ ziemlich ähnlich, aber mit „Intolleranza“ ist die Schönheit weg. Das Ganze ist eine Faust im Gesicht. Mit sehr zarten Menschen.

ORF.at: Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit beeinflusst?

Lauwers: Wir haben sehr junge Tänzer, die sehr lange in ihren privaten Räumen eingeschlossen waren. Sie denken viel nach. Es gibt eine Menge Unsicherheit in ihnen, weil sie nicht in der Lage waren, zu lernen und Leistung zu erbringen. Und ich versuche ihnen zu sagen: Hört auf zu denken! Geht hinaus! Es gibt eine junge Generation, die durch die Pandemie mehr beeinträchtigt ist, als wir dachten.

ORF.at: Steht die Intensität der Erfahrung in dieser Oper nicht in klarem Gegensatz zu allem, was wir im digitalen Zeitalter erleben? Wir sind doch mittlerweile immer gewohnt, den Replay-Button drücken zu können?

Lauwers: Liveperformance muss live sein. Ich erinnere mich in meinem Leben als Künstler, dass ich immer gerne gearbeitet habe und dann wieder rausgegangen bin. Heutzutage arbeiten jüngere Generationen und gehen nach Hause, um Netflix zu schauen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Kunstform schaffen, die sehr physisch ist, die uns über uns hinaus trägt. Sobald Sie aus dem Theater gehen, beginnt Ihr Gedächtnis zu arbeiten. Wenn die Erfahrung schnell vorbei ist, können Sie das Unterhaltung nennen.

Ich denke, Kunst wird immer in deinem Gedächtnis geboren. Kunst macht dein Leben viel reicher. Und ich glaube auch an die Güte der Kunst. Ich denke, dass Kunst die Gesellschaft besser macht.