Auschnitt des Buchcovers von „Ein einfaches Leben“, Roman von Min Jin Lee
dtv-Verlag/ORF.at (Repro)
Wundervoller Wälzer

So fremd, wie man sich fühlen kann

„Ein Einfaches Leben“ heißt das dicke Buch von Min Jin Lee. Auf 550 Seiten erzählt sie die Geschichte einer koreanischen Einwandererfamilie in Japan, durchdrungen von den Zeitläuften, von Krieg und Unterdrückung, aber auch voll von Glücksmomenten – die das Buch zudem jenen beschert, die es lesen. Im Gespräch mit ORF.at spricht Lee über Identitätspolitik und über ihr langes Ringen mit dem Roman.

Lee ist von entwaffnender Ehrlichkeit und völlig uneitel. Bei ihrem Telefonat von Boston aus lacht die 49-Jährige viel, manchmal auch dann, wenn sie Dinge erzählt, die eigentlich nicht zum Lachen sind. Etwa, dass man noch lange nicht reich ist, wenn man einen internationalen Bestseller landet, der in sämtlichen ernst zu nehmenden Medien, vom „Guardian“ bis zur „New York Times“, über den grünen Klee gelobt wird.

Das Buch verkaufte sich in seiner Hardcover-Version nicht rasend gut, obwohl es ins Finale beim renommierten „National Book Award“ gekommen war. Als dann noch ihr Mann seinen Job verlor, wurde es eng, die beiden wussten nicht, wie sie für die Krankenversicherung bezahlen sollten. Doch das ist Schnee von gestern. Der Gatte hat eine neue Anstellung und mit ein wenig Verspätung haben die Buchverkäufe kräftig angezogen, vor allem seit der Veröffentlichung des Taschenbuchs und seit den Übersetzungen, jetzt etwa ins Deutsche. Und ein Stipendium hat sie obendrein bekommen.

„Das sind nicht irgendwelche Opfer“

Den Erfolg hat sich Lee hart erarbeitet, in jeder Hinsicht. Erstens, weil die studierte Historikerin und Juristin darin nicht zuletzt ihre eigene Geschichte als koreanische Einwanderin in die USA verhandelt, zweitens aufgrund des schieren Aufwandes. Seit sie 19 ist, hat sie die Idee für das Buch im Kopf – über 30 Jahre lang. Einmal bereits hatte sie es komplett fertig – und komplett wieder gekübelt. Sie schrieb dann zunächst ein anderes Buch, ihr Debüt „Free Food for Millionaires“, das zu einem Überraschungserfolg wurde.

Dann lebte sie vier Jahre lang in Japan, weil ihr Mann dort einen Job bekommen hatte, aber auch, um das Schicksal der Menschen aus Korea, die im 20. Jahrhundert eingewandert waren, zu erforschen. Sogleich wurde ihr klar, warum das erste Manuskript so fad und akademisch geworden war: Weil sie die Leute nicht kannte. Erst jetzt kam Leben in die Sache: „Plötzlich bin ich draufgekommen: Oh, das sind nicht irgendwelche traurigen Opfer. Die sind interessant und leidenschaftlich, ganz anders, als ich dachte!“

Der Ausweg führt ins Ghetto

Alles von dem, was sie sagt, findet man im Buch wieder. Das lange Überlegen, die Vorsicht, aber auch die Leidenschaft und die Obsession, mit der sie ihr Ziel verfolgt hatte. Im Mittelpunkt des Buches steht Sunja, ein Mädchen, das während der Zwischenkriegszeit nach dem frühen Tod des Vaters mit seiner Mutter in bescheidenen Verhältnissen aufwächst. als sie schwanger wird, ohne einen Kindsvater nennen zu wollen, gibt es nur einen Ausweg aus der Schande – und der führt ausgerechnet nach Japan, wo doch die dortige Bevölkerung Menschen aus Korea abgrundtief verachtet.

Schriftstellerin Min Jin Lee
Elena Seibert
Min Jin Lee, 49 Jahre alt, als Achtjährige aus Südkorea in die USA ausgewandert

Was folgt, ist ein Leben im Ghetto, mit Familienanschluss zwar, aber doch isoliert. Der tägliche Kampf ums Überleben, wirtschaftlich zunächst, aber auch physisch, weil die japanischen Behörden jeden Vorwand nutzten, um Koreanerinnen und Koreaner zu schinden, wenn nicht zu töten. Alte Generationen gehen, neue kommen, Krankheiten, Todesfälle, die Liebe, Geburten, Erfolge, ständiges Auf und Ab, Lebenswege, die auseinanderklaffen zwischen Yakuza und intellektueller Gelehrtheit: Das Buch würde genug Drama für eine Soap-Opera mit Tausenden Folgen bieten. Aber es ist keine Soap-Opera geworden.

Wegschauen, um dranzubleiben

Akribisch war Lee darum bemüht, ihr Buch niemals in Sentimentalitäten oder reißerische Gefühlsausbrüche abgleiten zu lassen. In den Momenten größter Emotion blendet sie sogar aus: Die allerdramatischsten Situationen beschreibt sie nüchtern mit wenigen Sätzen, oft erst im Rückblick, nachdem die Handlung bereits Jahre weiter ist. Zeitlöcher schlucken das Drama. Und warum? Nur, damit sie ihre Botschaft nicht desavouiert.

Buchcover von „Ein einfaches Leben“, Roman von Min Jin Lee
dtv-Verlag

Min Jin Lee: Ein einfaches Leben. Dtv, 551 Seiten, 24,70 Euro.

Denn Lee gibt unumwunden zu: Ihr Roman ist ein ethischer, ein moralischer gar. Getrieben von den Zeitläuften und vom Schicksal zwar, aber sich immer an den Fragen der Identität entlanghantelnd, nach Zugehörigkeit, Integration, Rassismus. Das Buch hat genügend Platz für Charaktere, die ganz unterschiedlich mit dem Fremdsein umgehen: die Überanpassung auf der einen, der schiere Hass auf die „Gastgebernation“ Japan auf der anderen Seite; manchmal sogar vereint in einer Person.

Integriert nur in die Bibliothek

Lee leidet, wenn sie heute sieht, wie allerorten Fremdenfeindlichkeit und Rassismus fröhliche Urständ’ feiern. Leicht war es auch damals für sie nicht. Sie konnte kein Englisch und hatte in den ersten Jahren überhaupt keinen Anschluss in der Schule. Ihre Zeit verbrachte sie entweder mit ihren Schwestern oder in der Bibliothek, wo sie von den alten Klassikern nicht nur perfekt Englisch lernte und wie man sich im Westen zueinander verhält, sondern auch das Denken in großen, epischen Zusammenhängen. Und die Lust am Schreiben erwachte in ihr.

Die Klassiker – ihren Einfluss merkt man „Ein einfaches Leben“ an. Eindringlich, konzentriert, spannend ist dieses Buch mit seinen Dutzenden beglückenden und bestürzenden Wendungen. Ein lukullisches Buch ist es auch, das tief in die Lebenswelten marginalisierter Frauen eindringt. Es duftet förmlich nach dem Essen, das sie zubereiten. Das Buch ist ein wundervoller Wälzer und einer jener Romane, bei denen man gegen Ende immer langsamer und langsamer liest, damit man die Lektüre wenigstens noch ein bisschen verlängert. Irgendwann war trotzdem Schluss – und die Tränen sind geflossen.