Andrea Nahles und Angela Merkel
Reuters/Hannibal Hanschke
Debakel in Hessen

Deutsche Koalition taumelt weiter

Das zweite Debakel innerhalb von 14 Tagen: Nach der Bayern-Wahl haben Union und SPD auch bei der Landtagswahl in Hessen jeweils Verluste von mehr als zehn Prozentpunkten eingefahren. Für die Große Koalition in Berlin wird es nun noch enger. Union und SPD beschwören zwar einen Neustart und eine neue Arbeitskultur. Doch parteiintern rumort es immer lauter.

Der Denkzettel in Hessen galt eindeutig der Regierung in Berlin, darin waren sich alle Spitzenkandidaten am Wahlabend einig. „Die Botschaft, die man von Hessen natürlich nach Berlin geben kann und muss: Die Menschen möchten weniger Streit, sie möchten sachorientierte Arbeit“, sagte der hessische Ministerpräsident und CDU-Spitzenkandidat Bouffier.

SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel sprach von einer „schweren Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise“. Die SPD in Hessen sei gegen den Bundestrend hilflos und machtlos gewesen: Man habe „nicht nur keinen Rückenwind aus Berlin erhalten, sondern wir hatten regelmäßig Sturmböen im Gesicht“.

Kramp-Karrenbauer: „Schmerzhaftes“ Ergebnis

Für die CDU ist die Katastrophe ausgeblieben: Bouffier kann wohl im Amt bleiben, was der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vielleicht eine Atempause in den Auseinandersetzungen inder Union verschafft. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich schon kurz nach Schließung der Wahllokale erleichtert darüber, dass der Merkel-Gefolgsmann Bouffier seinen Sessel nicht räumen muss – auch wenn sie von einem „schmerzhaften“ Ergebnis sprach.

„Bouffier bleibt im Amt“, war die zentrale Botschaft der Bundes-CDU. Dank der starken Gewinne der Grünen hat Schwarz-Grün, das seit 2013 in Hessen regiert, eine Mehrheit von einem Sitz im neuen Landtag. Für eine „Jamaika“-Koalition müsste man noch die FDP ins Boot holen. Kramp-Karrenbauer forderte eine „neue Arbeitskultur“ der Großen Koalition. Union und SPD müssten nun entscheiden, „welche drei großen Projekte für die Zukunft Deutschlands sie gemeinsam konzentriert und geschlossen angehen wollen“. Mitte November soll es nach den Worten von Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) eine Kabinettsklausur geben.

Grafik zur Wahl in Hessen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/ARD

Wer kann Merkel ablösen?

Schon nächsten Sonntag will die CDU in eine Vorstandsklausur gehen, im Dezember steht dann der Parteitag an. Merkel habe erklärt, dass sie „auf dem Parteitag noch mal antreten wird. Und ich habe bis zur Stunde keine anderen Signale“, sagte Kramp-Karrenbauer am Sonntag. Vor allem „bis zur Stunde“ irritierte die Abwesenden.

In der CDU-Führung wird davon ausgegangen, dass Merkel unbedingt neues Chaos in der Regierung und eine schnelle Neuwahl vermeiden will. Doch ihre parteiinternen Gegnerinnen und Gegner könnten in den kommenden Wochen immer noch aus der Deckung kommen und einen ernsthaften Gegenkandidaten oder eine Gegenkandidatin präsentieren.

Anfang vom Ende Merkels?

„Das Problem der Kritiker ist aber derzeit: Für den einen kommt ein Aufstand gegen die CDU-Chefin zu früh, für die anderen zu spät“, analysierte ein Präsidiumsmitglied die Lage. Weder Kramp-Karrenbauer noch Gesundheitsminister Jens Spahn könnten beispielsweise mit einer geschlossenen Unterstützung rechnen.

Mit den Verzicht Merkels auf den CDU-Vorsitz und der Ankündigung sich nach Ende der Legislaturperiode aus der Politik zurückzuziehen, wurde das Rennen um ihre Nachfolge prompt eröffnet.

Desaströse Umfragewerte

In Bayern war das Argument der CDU-Spitze gewesen, dass die CSU wegen ihres klaren Rechtskurses verloren habe. Nun verlor allerdings die CDU in Hessen mit einem moderaten Kurs ebenfalls stark. Und die Umfragewerte sind vernichtend. Im „Sonntagstrend“ von EMNID für die „Bild am Sonntag“ fielen CDU und CSU auf ein neues Rekordtief und kamen nur noch auf 24 Prozent Zustimmung. In einer neuen Forsa-Umfrage verloren sie einen Prozentpunkt und liegen nun bei 26 Prozent. Dagegen hält der Höhenflug der Grünen an: Sie erreichen 20 beziehungsweise 21 Prozent Zustimmung und liegen klar auf Platz zwei.

Birgit Schwarz über die Wahl in Hessen

Die Koalition von Kanzlerin Merkel hat mit der Wahl in Hessen einen weiteren Dämpfer erhalten. ORF-Korrespondentin Birgit Schwarz schildert, wie sehr Merkel in Bedrängnis ist.

Noch dramatischer sind die Werte des Koalitionspartners: Die SPD erreicht im „Sonntagstrend“ wie in der Woche davor 15 Prozent und liegt jetzt hinter der AfD mit 16 Prozent (plus ein Prozentpunkt) auf Platz vier. Linke und FDP kommen laut EMNID erneut auf jeweils zehn Prozent. Die Forsa-Umfrage für RTL/n-tv sieht die SPD bei 14 Prozent. Die AfD verliert gegenüber der Vorwoche einen Prozentpunkt und kommt ebenfalls auf 14 Prozent. Die Linken legen um einen Punkt zu und erreichen zehn Prozent Zustimmung, die FDP erhält neun Prozent.

Nahles mit – großzügigem – Ultimatum

SPD-Chefin Andrea Nahles fand am Wahlabend deutliche Worte und stellte ein Ultimatum für die Große Koalition. Union und SPD müssten nun einen „verbindlichen Fahrplan“ vereinbaren, sagte sie. An dessen Umsetzung bis zur „Halbzeitbilanz“ der Regierung zur Mitte der Legislaturperiode werde sich entscheiden, ob die SPD in der Koalition noch „richtig aufgehoben“ sei.

SPD-Chefin Andrea Nahles
APA/AFP/Tobias Schwarz
SPD-Chefin Nahles will Zeit gewinnen

Sie bediente sich einer Doppelstrategie: Sie will der Union Fristen zur Umsetzung von Regierungsvorhaben setzen und gleichzeitig den Erneuerungsprozess der SPD beschleunigen. Das kann man als Rettungsversuch für die Koalition werten oder als Schaffung der Bedingungen für einen Ausstieg und Neuwahlen. Allerdings: Mitte der Legislaturperiode ist erst in rund einem Jahr. Ob das Spiel auf Zeit aufgeht, kann bezweifelt werden. Dass die Grünen in Hessen die SPD auch noch hauchdünn auf Platz drei verdrängt haben, ist vor allem psychologisch der nächste Rückschlag.

Debatte über Koalitionsausstieg und Parteivorsitz

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Malu Dreyer forderte indes eine schärfere Abgrenzung ihrer Partei von der Union in der Großen Koalition im Bund. „Wir waren zu nachsichtig mit dem Koalitionspartner in Berlin“, sagte sie der „Rheinischen Post“ (Montag-Ausgabe). Der Streit zwischen den Unionsparteien CDU und CSU habe die SPD als Koalitionspartner ebenfalls beschädigt.

Die Parteilinke Hilde Mattheis hatte schon vor dem Wahlabend die Parole ausgegeben, in einer Mitgliederbefragung solle über das Schicksal der Großen Koalition abgestimmt werden. Auch der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert stellte das Regierungsbündnis in Berlin abermals infrage: „Unter den Bedingungen, unter denen wir in Berlin arbeiten, kann die SPD in keinem Bundesland einen Fuß auf die Erde bekommen.“

Auch Nahles als Parteichefin steht zur Debatte. Allerdings gibt es bisher kaum Alternativen, was viel über den Zustand der Partei sagt. Der enttäuschte Spitzenkandidat Schäfer-Gümbel brachte es am Wahlabend auf den Punkt: „Wir haben ein bisschen häufig unsere Vorsitzenden ausgetauscht, und es hat ehrlich gesagt im Ergebnis auch nichts gebracht.“