Martin Kocher, Verhaltensökonom am IHS
ORF.at/
IHS-Direktor

„Spontane Entscheidungen nicht die besten“

Seit gut einem Jahr befindet sich am Institut für Höhere Studien (IHS) ein eigenes Kompetenzzentrum, das sich auf Verhaltensökonomie spezialisiert. Für Martin Kocher, Direktor des IHS und selbst Verhaltensökonom, wurde das langsam Zeit. Denn im privaten Sektor sei unter anderem das Nudging schon längst angekommen.

ORF.at: Herr Kocher, warum wollen Sie Menschen manipulieren?

Martin Kocher: Das wollen wir nicht.

ORF.at: Für Kritiker und Kritikerinnen des Nudging ist die Verhaltensökonomie wie die Werbung eine Maschine, die Menschen unbewusst beeinflusst.

Kocher: Die Frage ist, ob man das nun Manipulation oder Beeinflussung nennt. Jede Art und Weise der Kommunikation ist Beeinflussung bzw. Manipulation. Aber auch jede. Mit dem Kompetenzzentrum Insight Austria greifen wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurück, um Leute sowohl von irrationalen Entscheidungen abzuhalten als auch zu besseren Entscheidungen zu lenken.

Wenn ich Leute dazu bringe, Strom zu sparen, ist das in ihrem Interesse, weil sie weniger Strom zahlen müssen. Wenn sie zur Vorsorge gehen, ist das in ihrem Interesse, weil Krankheiten vorher erkannt werden. Es geht in diesen Fällen darum, dass sie zwar die Bereitschaft dazu haben, das zu machen, aber vielleicht nicht die Kraft. Da wollen wir ihnen helfen.

ORF.at: Verstehe ich Sie richtig: Menschen brauchen Hilfe, weil sie nicht die besten Entscheidungen im Leben treffen?

Kocher: Es gibt die Idee des Homo oeconomicus, ein rational denkender Mensch. Aber wie wir wissen, handeln wir nicht immer rational. Gerade bei langfristigen Entscheidungen tun wir uns schwer. Das langfristige Selbst weiß zwar, was gut für uns ist, das kurzfristige Selbst sagt aber dann: „Damit fange ich nächste Woche an.“

Denken Sie an Einkäufe im Internet. Ich klicke schnell mal auf bezahlen und komme später drauf, dass ich das gerade gekaufte Produkt gar nicht benötige. Auf das 14-tägige Rücktrittsrecht im Internet haben Verhaltensökonomen gepocht, weil sie wussten, dass spontane Entscheidungen nicht immer die besten sind.

ORF.at: In anderen Ländern haben Regierungen eigene Abteilungen dafür geschaffen, um Leute dazu zu bringen, gesünder zu leben oder ihren Abfall in die Tonne zu werfen. In Österreich gab es zwar auch einen solchen Versuch, an dem Sie beteiligt waren, der scheiterte aber offenbar.

Kocher: Es stimmt, es hat in Österreich schon einige Jahre hinweg die Idee gegeben, mit Hilfe von Methoden und Erkenntnissen der Verhaltensökonomie politische Maßnahmen zu verbessern. Erstmals erwähnt wurde es in der Aufgaben- und Deregulierungskommission im Jahr 2013. Aufbauend auf Großbritannien und USA, wo solche Nudging-Units fester Bestandteil der Politik sind, wollte man hier ein Büro schaffen, das von der Regierung und Öffentlichkeit unterstützt wird.

Wir haben ein paar kleine Projekt begonnen, aber es hat sich herausstellt, dass die Regierung das nicht als Einheit etablieren wollte. Das Problem war, dass viele Leute, die daran beteiligt waren, nicht permanent in Österreich lebten. Es ist aber wichtig, dass man eine Adresse hat, wo es eine Institution gibt. Ein Netzwerk ist zu wenig.

ORF.at: Nun gibt es seit gut einem Jahr eine Art Nudging-Unit am IHS. Wie kam das zustande?

Kocher: Meine Berufung an das IHS 2016 war die Gelegenheit, diese Idee wieder aufleben zu lassen. Die Idee ist aber jetzt nicht, nur ein Nudging-Team zu erstellen, sondern wirklich ein Team zu haben, das sowohl Forschung betreibt als auch wirtschaftspolitische Beratung anbietet.

ORF.at: Die Idee stammt von Ihnen?

Kocher: Ja, richtig, wobei die Grundlage schon in der Aufgaben- und Deregulierungskommission geschaffen wurde. Eine wichtige Rolle haben Clemens Wallner von der Industriellenvereinigung (IV, Anm.) und Sophie Karmasin als Familienministerin gespielt.

ORF.at: Das Finanzministerium und die Industriellenvereinigung unterstützen finanziell das Zentrum. Welche Interessen stehen dahinter?

Kocher: Die IV und das Finanzministerium wollen neben den traditionellen Methoden, die man für wirtschaftspolitische Maßnahmen verwendet, auch neue ausprobieren. In vielen Dingen der Verhaltensökonomie geht es eher um kleine Dinge, mit denen relativ kostengünstig Veränderungen herbeigeführt werden können. Die Interventionen ersetzen nicht die traditionellen Maßnahmen. Man versucht das zu optimieren, was relativ leicht geht.

ORF.at: Läuft das IHS nicht Gefahr, politisch vereinnahmt zu werden?

Kocher: Es gibt drei Modelle, wie Nudging international betrieben wird. Entweder sitzen Experten direkt beim Regierungschef oder in der Verwaltung, oder sie sind an einer Forschungsinstitution beheimatet, wie wir es sind. Für alle Varianten gibt es Argumente dafür und dagegen. Unser Vorteil ist, dass wir unabhängig arbeiten und wissenschaftlich unterfüttert sind.

Es muss aber nicht heißen, dass das Kompetenzzentrum immer am IHS bleiben muss. Es ist ein dreijähriger Versuch wie für alle Forschungsgruppen am IHS. Danach passen wir uns der Nachfrage und dem wissenschaftlichen Fortschritt an. Wenn es nicht genug Interesse gibt, dann wird man die Forschungsgruppe auslaufen lassen müssen.

ORF.at: Das IHS hat ein konkretes Projekt, das derzeit untersucht wird. Könnten Sie uns das näher erklären?

Kocher: Gemeinsam mit der Uni Wien und Professor Jean-Robert Tyran gehen wir der Frage nach, ob man Studierende mit verhaltensökonomischen Maßnahmen dazu bringen kann, ihr Studium nicht abzubrechen. Gerade in der späteren Phase des Studierens sind die Kosten des Studienabbruchs hoch. Da gibt es jetzt eine Reihe von Interventionen, um das zu verhindern.

ORF.at: Wie lautet die Lösung?

Kocher: Das Projekt läuft noch. Nächstes Jahr können wir hoffentlich ein Ergebnis präsentieren.

ORF.at: Aber wie können wir uns solche Interventionen vorstellen?

Kocher: Die Maßnahmen, die wir derzeit untersuchen, sind relativ milde Interventionen. Zum Beispiel kann man Informationen darüber geben, wie hoch der Verdienst ist, wenn ich das Studium fortführe oder wenn ich es abbreche.

ORF.at: Wie kann man sich einen verhaltensökonomischen Versuch bei Studierenden denn überhaupt vorstellen? Werden Sie befragt? Oder in ein Labor gesperrt?

Kocher: Es ist relativ einfach. Zuerst hat man eine Forschungsfrage, die man versucht zu beantworten. In dem Fall: Wie kann die Aussteigerquote reduziert werden? Dann macht man sich Gedanken darüber, welche Instrumente man einsetzen kann, um das Ziel zu erreichen.

Diese Instrumente werden implementiert, indem sie zufällig verschiedenen Gruppen zugeordnet werden, ein „randomized controlled trial“ (randomisierte kontrollierte Studie, Anm.), ein Experiment wie in der Medizin. Die eine Gruppe bekommt einen Placebo, die anderen Gruppen verschiedene Behandlungen. Dann schaut man, was passiert und welche „Behandlung“ am besten funktioniert.

ORF.at: Wussten die Studierenden, dass sie Teil eines Experiments sind?

Kocher: Normalerweise wissen die Teilnehmer bei solchen Feldversuchen nicht, dass sie an einem Experiment teilnehmen. Das ist so lange o.k., solange die Interventionen minimal sind. Wenn Sie eine Google-Seite aufrufen, sind sie Teil eines Experiments, wenn sie online buchen, sind Sie Teil eines Experiments.

Wir sind immer Versuchskaninchen. Wenn daraus keine negativen Folgen entstehen, dann gibt es keinen Grund, das nicht zu machen. Wir haben hier im Haus eine auch Ethikkommission eingerichtet, die Interventionen prüfen würde, die nicht so harmlos sind oder die verletzliche Gruppen betreffen.

Wir haben ein Projekt mit zwei Universitäten in Australien, wo es um die Frage geht, wie bringt man Kinder dazu, für Tests rechtzeitig zu lernen. Hier gibt es selbstverständlich eine Ethikkommission, die über das gesamte Vorhaben wacht.

ORF.at: Wird das IHS künftig auch in Auftrag von Unternehmen nudgen?

Kocher: Es ist bereits so, dass Unternehmen auf uns zukommen. Aber das ist nicht unser Fokus. Unser Fokus liegt im öffentlichen und im öffentlichkeitsnahen Bereich

Es ist schon seltsam, dass man im privaten Sektor schon lange die Instrumente der Verhaltensforschung nutzt, und das oft nicht im Interesse der Betroffenen. Es wäre schade, wenn wir dieses Feld dem Privatsektor überlassen. Im öffentlichen Bereich ist die Anwendung fast immer im Interesse des Betroffenen, und wenn nicht das, dann zumindest im Interesse der Gesellschaft.