Demonstrantin mit Flagge und Mütze
AP/Frank Augstein
Brexit-Poker

Stunde der Wahrheit schlägt in Westminster

Im Dezember hat Premierministerin Theresa May die Abstimmung mangels Aussicht auf Erfolg verschoben, am Dienstag aber gibt es kein Entkommen mehr: Das britische Parlament entscheidet am Abend über den Brexit-Vertrag mit der Europäischen Union. Eine Niederlage für May ist deutlich absehbar, wie es danach weitergeht, weniger.

Möglich ist, dass das Parlament am Dienstag selbst schon einen Weg dafür weist: Die Beschlussvorlage kann noch vor der eigentlichen Abstimmung abgeändert werden. Abgeordnete können Änderungsvorschläge einbringen, über die separat abgestimmt wird – bisher liegt rund ein Dutzend vor. Sollte ein Antrag eine Mehrheit erhalten, würde der Zusatz in den Vertragstext aufgenommen, wäre aber nicht bindend für die Regierung.

Einige Änderungsanträge sind inhaltlich aber so weitreichend, dass ihre Annahme dazu führen würde, dass nicht weiter abgestimmt würde und das Brexit-Abkommen als abgelehnt gälte. May muss daher eine ganze Serie von Abstimmungen und nicht nur eine gewinnen, um ihr Abkommen durchzubringen. Sollte das der Premierministerin wider Erwarten gelingen, könnte der EU-Austritt wie geplant am 29. März über die Bühne gehen.

Grafik zum Brexit-Votum
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Eigene Reihen verweigern Gefolgschaft

In einer Übergangsphase bliebe bis Ende 2020 im Alltag fast alles, wie es ist. Brüssel und London könnten noch über Details verhandeln. Hochumstritten ist vor allem der „Backstop“, eine Auffanglösung für die Grenze zu Nordirland. Damit soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland vermieden werden, falls nach einer 21-monatigen Übergangsfrist immer noch keine Lösung gefunden ist – in dem Fall würde Nordirland auf einigen Gebieten enger mit der EU verbunden bleiben als das restliche Großbritannien.

May braucht für das Durchbringen des Abkommens mindestens 320 Stimmen – allein von den 317 Abgeordneten ihrer eigenen konservativen Partei haben aber etwa 100 ein Nein angekündigt. Erst am Montag gab zudem der Konservative Gareth Johnson seinen Rücktritt bekannt. Johnson war als einer der „Whips“ (etwa: „Einpeitscher“) dafür zuständig, die Abgeordneten bei Abstimmungen auf Parteilinie zu bringen. Auch die nordirische DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, verweigert die Gefolgschaft. Entsprechend bitter droht das Votum für May zu enden.

Theresa May
APA/AFP/Ben Bhirchall
May warnte noch am Montag vor einem Auseinanderbrechen Großbritanniens im Falle eines EU-Austritts ohne Abkommen

Höhe der Niederlage entscheidend

Fällt die Ablehnung doch nicht zu deutlich aus, könnte May versuchen, einen zweiten Anlauf zur Annahme des Vertrags zu nehmen. In London wie in Brüssel wird als maximale Zahl ein Abstand von etwa 40 Abgeordneten beim Votum genannt. In jedem Fall ist die Premierministerin nach einem vergangene Woche angenommenen Parlamentsantrag verpflichtet, binnen drei Tagen nach einer Abstimmungsniederlage einen Plan B vorzulegen.

Was „harter“ Brexit heißt

Die Briten verstehen unter einem „harten“ Brexit den Plan, ihr Land nicht nur aus der EU herauszuführen, sondern auch aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Andernorts wird mit dem Ausdruck oft der Extremfall beschrieben – ein Scheitern der Verhandlungen und ein Ausscheiden ohne Vertrag und ohne Übergangslösung. In Großbritannien wird dieser Brexit ohne Abkommen meist als „No-Deal“-Szenario oder „Brexit-Cliff-Edge"bezeichnet.

Auch ein Sturz Mays könnte am Dienstag seinen Anfang nehmen: Die Abgeordneten im Unterhaus könnten die Regierung mit einfacher Mehrheit mittels Misstrauensvotums stürzen. Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn kündigte ein Misstrauensvotum "bald“ nach einer Ablehnung des Brexit-Vertrags an, würde für einen Erfolg aber wohl Stimmen aus dem Regierungslager brauchen. Verliert May das Misstrauensvotum, könnte das zur Bildung einer neuen Regierung führen. Andernfalls könnte eine Neuwahl angesetzt werden – sollte dabei Labour gewinnen, werde der Brexit wegen neuer Verhandlungen mit Brüssel wahrscheinlich verschoben, kündigte Corbyn an.

Bekommt May den Deal trotz aller Versuche nicht durchs Parlament, droht ein chaotischer Austritt ohne Abkommen. Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft würden am 29. März 2019 gekappt. Sollte es so weit kommen, könnten beide Seiten lediglich Notvereinbarungen schließen. Die EU-Kommission hat dabei insbesondere den Luftverkehr und Aufenthalts- und Visafragen als „vorrangige Bereiche“ identifiziert.

Ansicht der Hafenstadt Dover
Reuters/Toby Melville
Die britische Regierung hat für über 100 Milliarden Pfund Fährkapazitäten in andere Häfen gechartert, um Dover zu entlasten

Vielschichtiges Schreckensszenario

Für Großbritannien werden bei dem „No-Deal“-Szenario horrende Folgen vorausgesagt: Einbruch der Wirtschaft um bis zu acht Prozent, Jobverluste, geringere Steuereinnahmen, Absturz des Pfundes um bis zu 25 Prozent, Einbruch des Immobilienmarkts. Die nach dem EU-Austritt nötige Zollabfertigung bei Warenlieferungen könnten für lange Warteschlangen von Lastwagen sorgen. Im Hafen von Dover dauert die Lkw-Abfertigung derzeit zwei Minuten. Nur zwei Minuten mehr würden laut Betreiber Staus von 27 Kilometern verursachen.

Wegen drohender Lieferengpässe horten britische Unternehmen bereits Importware, die sie für ihre Produktion dringend benötigen – berichtet wird von „Hamsterkäufen wie nach einer Sturmwarnung“. Inzwischen sind in Großbritannien aber kaum noch Lagerflächen zu bekommen, da sich auch Supermärkte und Pharmakonzerne auf Versorgungsengpässe vorbereiten und Lebensmittel und Medikamente auf Vorrat kaufen. Auch im Flugverkehr droht Chaos: Viele Airlines würden ihre Lizenzen verlieren, um von und nach Großbritannien zu fliegen. Mit Sonderregeln für zwölf Monate will die EU zumindest einige Flüge aufrechterhalten.

Parlament in London
AP/Mark Duffy
May sprach sich entschieden gegen eine Verschiebung des Austrittstermins aus

Letzter Appell an die Verantwortung

Formal besteht für London bis zum Austrittsdatum im März die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Das bestätigte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Dezember. May warnte aber vor „katastrophalen“ Folgen für die britische Demokratie, wenn das Ergebnis des Brexit-Referendums von 2016 missachtet würde.

Die EU hielt bis zuletzt auch eine Verschiebung des Brexits für möglich, May lehnte aber auch diese ab: „Wir treten am 29. März aus“, beteuerte sie am Montag. „Es gibt einige in Westminster, die den Brexit verzögern oder sogar stoppen wollen und die jedes ihnen zur Verfügung stehende Mittel nutzen werden, um das zu tun“, sagte die Premierministerin. Die Abgeordneten seien eindringlich aufgerufen, „die Folgen ihres Handelns für den Glauben des britischen Volkes an unsere Demokratie zu berücksichtigen“.