Tempolimit auf einer deutschen Autobahn
AP/Mathias Rietschel
Sakrileg Tempodebatte

Kampf um Deutungshoheit in Deutschland

Auch in Deutschland werden derzeit hitzige Kontroversen über Tempolimits auf Autobahnen geführt – jedoch anders als in Österreich. Um dem Klimaschutz Rechnung zu tragen, überlegt eine Arbeitsgruppe im Auftrag der deutschen Regierung, ein Tempolimit von 130 km/h einzuführen. Und auch wenn der Vorschlag nur eine – nicht spruchreife – Erstversion war, gingen die Wogen sofort hoch.

Bisher ist Deutschland das einzige Land Europas ohne solche Begrenzung auf Autobahnen. Am vergangenen Freitag wurden Überlegungen der Arbeitsgruppe bekannt, die Vorschläge für mehr Klimaschutz erarbeiten soll. Darunter fanden sich höhere Spritsteuern, eine Quote für Elektroautos – und das Tempolimit.

In der Expertenkommission sitzen Vertreterinnen und Vertreter unter anderem des deutschen Autofahrerclubs ADAC, der Industrie, des Autoverbands VDA, von Volkswagen, Deutscher Bahn und auch Umweltverbänden. Es handle sich bei dem Papier der Gruppe um einen ersten Vorschlag, „mit dem in keiner Weise Vorfestlegungen verbunden sind“, hieß es in dem Dokument von Anfang Dezember.

Minister strikt gegen Begrenzung

Die ersten Berichte über die Vorschläge waren dennoch der Startschuss für Befürworter und Gegner eines Tempolimits, auf die Barrikaden zu steigen. Der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer etwa wies die Überlegungen sofort zurück, sie seien „gegen jeden Menschenverstand“ gerichtet. Scheuers Ressort sagte zudem einen bereits für Mittwoch veranschlagten Termin der Arbeitsgruppe ab. Begründet wurde das mit Abstimmungsbedarf zu mehreren anderen Arbeitsgruppen. Das Gremium solle aber weiterhin tagen und seine Ergebnisse wie geplant Ende März vorlegen.

Grafik zeigt Tempolimits in Europa
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/ÖAMTC

Im Kampf um die Deutungshoheit wurden aber bereits die Argumente platziert. Die Befürworter einer Geschwindigkeitsbegrenzung meinen, langsamerer Verkehr führe zu weniger Schadstoffausstoß, weniger Unfällen und besserem Verkehrsfluss. Die Gegner bezweifeln das: Der ADAC meinte, Länder mit einer generellen Geschwindigkeitsbeschränkung wie Österreich schnitten bei der Verkehrssicherheit nicht besser ab als Deutschland.

Auch wenn sich ein Tempolimit vielerorts in Europa durchgesetzt habe, „belegt das nicht sogleich die Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme“. Vielmehr verringere ein guter Verkehrsfluss die Gefahr von Staus und Unfällen. Der ADAC plädierte hier für Beschränkungen auf unfallträchtigen Strecken statt genereller Tempolimits sowie für bauliche Maßnahmen.

Klimaschutz als Auslegungssache

Auch der Effekt für den Klimaschutz sei gering, meinte der ADAC und verwies in der aktuellen Debatte auf eine Studie des deutschen Umweltbundesamtes (UBA), laut der sich bei Tempo 120 die CO2-Emissionen um neun Prozent reduzieren – bezogen auf den Pkw-Verkehr auf Autobahnen. Im Jahr könnten so rund drei Millionen Tonnen CO2 eingespart werden – zu wenig für den ADAC.

Die zitierte UBA-Studie stammte allerdings aus dem Jahr 1999, die zugrundeliegenden Daten waren also mehr als 20 Jahre alt. Neuere Untersuchungen dazu gab es schlicht nicht. Der ADAC untersuchte aber selbst, wie sich Tempo 30 im Vergleich zu Tempo 50 auf die Emissionen auswirkt. Sein Ergebnis: Tempo 30 führt aus Sicht des ADAC weder zur Reduzierung der Stickoxid- noch der CO2-Emissionen.

Flexible Beschränkungen als Alternative

Der ADAC wies auch darauf hin, dass es bereits auf rund einem Drittel der deutschen Autobahnen Geschwindigkeitsbeschränkungen gebe, darunter aber flexible Beschränkungen je nach Verkehrslage. „Autobahnen sind bei Weitem die sichersten Straßen in Deutschland. Im Jahr 2017 wurden hier etwa ein Drittel aller Kraftfahrzeugkilometer gefahren. Der Anteil der Verkehrstoten ist im Vergleich dazu mit rund zwölf Prozent unterdurchschnittlich“, so der ADAC.

Für Aufsehen sorgte auch die Argumentation eines deutschen Stauforschers: „Ein Tempolimit ist nicht zielführend“, sagte Michael Schreckenberg, Verkehrsexperte von der Universität Duisburg-Essen. „Ich halte geregelte Geschwindigkeitsbeschränkungen für gerechtfertigt, wenn der Verkehr dichter wird – durch variable Anzeigen. Das gibt es bereits auf vielen Strecken.“ Weder Klimaschutz noch Verkehrsfluss ließ er als Argument gelten, auf beides sei der Effekt gering. „Das dritte ist die Verkehrssicherheit. Aber ob ich mit Tempo 100 oder 160 vor den Baum fahre – ich bin in beiden Fällen tot.“

Polizei für Tempolimit

Mit dieser Begründung können wiederum die Freunde eines Tempolimits wenig anfangen – in ihren Augen wären die Geschwindigkeitsunterschiede geringer, wenn es weniger Raser gäbe. Das mache den Autobahnverkehr flüssiger und sicherer. „Die Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Fahrspuren nehmen immer mehr zu“, sagte Siegfried Brockmann von den Unfallforschern der Versicherer (UDV) in Deutschland.

Auch die Polizei sah das ähnlich: „Wenn jemand mit Tempo 180 unterwegs ist und vor ihm schert ein Fahrzeug mit Tempo 90 auf die Überholspur aus, geht das schnell schief“, so der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Michael Mertens. „Wenn wir uns nicht damit abfinden wollen, dass jedes Jahr rund 3.200 Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen, müssen wir uns etwas einfallen lassen“, sagte Mertens. „Dabei spielt die Begrenzung der Geschwindigkeit eine wichtige Rolle.“

„Amtlich verfügte Potenzminderung“

Der frühere Vorsitzende der deutschen Grünen, Cem Özdemir, sagte, ein Tempolimit sei ein „Gebot der Vernunft“. Die Debatte werde in Deutschland irrational geführt. „Ich weiß, das ist in Deutschland so, als wenn Sie für Männer eine Art amtlich verfügte Potenzminderung durchsetzen würden“, so Özdemir. Aus der FDP kam der Vorwurf, die Grünen führten einen Kampf gegen das Auto: „Diese grüne Politik ist extrem unsozial“ und werde zudem großen wirtschaftlichen Schaden in der deutschen Schlüsselindustrie anrichten, sagte Oliver Luksic von der FDP.

Die deutsche Regierung hielt sich noch bedeckt. Man wolle ein Gesamtkonzept und keine Diskussion über einzelne Maßnahmen. Für Stephan Weil, sozialdemokratischer Ministerpräsident des Bundeslands Niedersachsen, hat sich die ohnehin schon erledigt. „Die Realität auf unseren vollen Straßen hat diese Diskussion nicht nur eingeholt, sondern überholt“, sagte Weil, der als Ministerpräsident auch im Aufsichtsrat von Volkswagen sitzt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Ich fahre viel auf deutschen Autobahnen. Nach meinen Erfahrungen gibt es de facto fast bei keiner Fahrt mehr eine Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 130 km/h.“

Kommission unter Druck

Sicher ist – laut deutschem Statistischen Bundesamt –, dass der CO2-Ausstoß im Autoverkehr in den vergangenen Jahren gestiegen ist (zwischen 2010 und 2017 um 6,4 Prozent). Im Jahr 2017 war zudem laut dem Bundesamt mehr als ein Drittel der Autobahnunfälle auf zu schnelles Fahren zurückzuführen.

Bis die konkreten Vorschläge im März auf dem Tisch liegen, dürfte sich die Debatte zwischen Lobbyvertretern, Politikern und Betroffenen fortsetzen. Die deutsche Bevölkerung ist beim Thema gespalten. Nach einem aktuellen ARD-Deutschlandtrend ist die Hälfte (51 Prozent) dafür, 47 Prozent sind dagegen. Und die Arbeit der Arbeitsgruppe der deutschen Regierung ist nicht einfacher geworden, so ein Mitglied des Gremiums: „Die Regierungskommission Mobilität ist durch das gezielte Durchstechen von emotional aufgeladenen Einzelvorschlägen und die Überreaktion des Bundesverkehrsministers in schwieriges Fahrwasser geraten“, sagte der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene.