Ex-ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner
APA/Hans Klaus Techt
Abrechnung mit Kurz

Mitterlehner-Buch wirbelt viel Staub auf

Unter enormem Medieninteresse hat der frühere ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner am Mittwoch zwei Jahre nach seinem Rücktritt sein neues Buch präsentiert. Schon zuvor hatte seine Darstellung der „Machtergreifung“ in der ÖVP durch Kanzler Sebastian Kurz viel Staub aufgewirbelt – seine Kritik an der derzeitigen Regierung auch. Zur Verteidigung von Kurz rückten vor allem andere ehemalige ÖVP-Chefs aus.

Das Datum der Buchpräsentation hat Mitterlehner nicht zufällig gewählt – der 17. April ist der Gründungstag der Österreichischen Volkspartei. Er fühle sich den Prinzipien und Werten seiner Partei verpflichtet, versicherte er. Deshalb werde er Mitglied bleiben und sich „kritisch einbringen“.

In dem Buch mit dem Titel „Haltung“ beschreibt Mitterlehner aus seiner Sicht den internen Machtkampf um die Parteispitze und seine Ablöse durch Kurz im Mai 2017. Er sei weder beleidigt noch gekränkt, sondern habe schlicht eine „Klarstellung“ veröffentlicht, sagte er.

„Es ist so gewesen“

Er habe dieses Kapitel in seiner Biografie nicht verschweigen wollen – sein „beinahe unerschöpfliches Potenzial an Parteiräson“ sei auch irgendwann ausgeschöpft, zeigte er sich mit der Darstellung der Ereignisse durch das Kurz-Team unzufrieden. Das Buch sei nicht bösartig, und er habe sich und den Lesern sogar einiges erspart. „Es ist so gewesen.“ Den Namen „Sebastian Kurz“ erwähnte Mitterlehner in seiner Pressekonferenz kein einziges Mal – er wolle das nicht an Namen festmachen, sagte er auf Nachfrage.

Ex-ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner
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Mitterlehner bei der Präsentation seines Buches

„Machtergreifung“ und „Umsturz“

In der rund 200 Seiten starken Autobiografie sind es nur ein paar Kapitel, die jetzt für Aufregung sorgen – wohl auch, weil er von „Machtergreifung“ und einem „Umsturz“ schreibt: seine Ablöse als ÖVP-Chef und seine derzeitige Sicht auf die ÖVP-FPÖ-Regierung. Mit seinem Rücktritt im Mai 2017 habe er die Partei keineswegs überrumpelt, so Mitterlehner.

Kurz und seine Vertrauten hätten sich vielmehr bereits seit mehr als einem Jahr minutiös auf die Übernahme der Partei vorbereitet: „Kurz hatte das Grand Design im Mai 2016 schon im Kopf, das er dann im Jahr 2017 auch umsetzte. Ich sollte für ihn die Koalition aufkündigen und den Schwarzen Peter nehmen, damit er unbefleckt in Neuwahlen gehen könne.“ Als er abgelehnt habe, sei es zum endgültigen Bruch gekommen. Mitterlehner berichtet von „Mobbing“ und „Intrigen“ sowie „teilweise frei erfundenen“ Geschichten über ihn im Boulevard.

„Geschichtsschreibung nicht den Regierenden überlassen“

Mitterlehners Schilderungen stoßen wenig verwunderlich auf großes mediales Interesse. In etlichen Interviews erläuterte der Ex-ÖVP-Chef seine Schilderungen – und sparte dabei auch nicht an Kritik an der Regierung. „Es war halt notwendig, dass ich in diesem Buch gewisse Gespräche oder Ereignisse auch wiedergebe mit dem Ziel, die Geschichtsschreibung nicht den derzeit Regierenden zu überlassen und stattdessen zu belegen, mit welcher Energie und wie systematisch am ‚Umsturz‘ gearbeitet wurde“, sagte er in einem Interview mit dem „Wiener“. Und weiter: „So wie ich damals damit zurechtkommen musste, müssen halt jetzt andere damit zurechtkommen, dass ich die wahre Geschichte erzähle, das ist ja nichts Illegitimes.“

Scharfe Kritik an Regierungspolitik

In dem Interview meint er auch mit Blick auf den Asylwerberstundenlohn, es sei „zynisch“, jemandem 1,50 Euro pro gearbeitete Stunde anzubieten. Wenn sich im gesamten Land Vor­arlberg für 540 Asylwerber insgesamt Kosten von 22.000 Euro im Monat ergeben, also „ungefähr so viel, wie ein Minister verdient“, sei das „menschenverachtend und peinlich“.

Mitterlehner: „Von offener zu ausschließender Gesellschaft“

Der ehemalige ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner kritisiert die Arbeit der amtierenden Regierung scharf. Im ZIB2-Interview wiederholte er seine Kritik an der aktuellen Regierung.

In einem Interview mit dem „Kurier“ geizte Mitterlehner nicht mit Kritik an Kurz: Er hätte sich erwartet, „dass man Othmar Karas gegen den FPÖ-Vorwurf des Zentralismus verteidigt“. Beschäftige man sich mit der aktuellen Politik, komme man zum Schluss, dass Kurz, wenn man es zuspitzt, „ein Rechtspopulist“ sei. Das lasse sich an mehreren Fakten nachweisen, so Mitterlehner. In einem Gastkommentar im „Standard“ wiederum zeigte der EX-ÖVP-Chef mit der Klimakrise, der Pflege und Pensionsreform jene Politikfelder auf, um die sich die Regierung seiner Meinung nach zu wenig kümmert.

Warnung vor autoritärer Demokratie

Österreich sei auf dem Weg „von einer liberalen Demokratie, die wir einmal hatten, zu einer autoritären Demokratie, die wir derzeit sind oder sein werden“, sagte Mitterlehner auch bei der Buchpräsentation. Gerade in der Flüchtlingsfrage mache sich eine von der Regierung geschürte menschenverachtende Haltung breit.

„Es geht nicht mehr um den Schutz von Flüchtlingen, sondern um den Schutz vor Flüchtlingen.“ Er habe es für eine Satire gehalten, als jüngst die Aufnahmezentren für Schutzsuchende in „Ausreisezentren“ umbenannt worden seien. Zu seiner Zeit im Kabinett wäre das ein Grund für einen Rücktritt des verantwortlichen Ministers gewesen, meinte Mitterlehner weiter.

Zurückhaltende ÖVP-Reaktionen

Die Reaktion der ÖVP fiel bisher auffällig dezent aus. Verbreitet wurde lediglich ein Statement von ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer: „Es bleibt jedem unbenommen, seine Vergangenheit in einem Buch aufzuarbeiten. Natürlich gibt es beim Blick auf die Vergangenheit immer unterschiedliche Perspektiven: Gerade in diesem Fall ist das offensichtlich.“

Zu Wort meldete sich Mitterlehners Vorgänger Michael Spindelegger. In einer der APA übermittelten Stellungnahme schrieb er, dass Mitterlehners Abgang keine Intrige, „sondern die Rettung der Volkspartei“ gewesen sei. Die ÖVP sei von einer Wahlniederlage in die nächste getaumelt „und war unter Mitterlehner auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit“, so der selbst beim Wähler glücklose Spindelegger.

Das Resultat der Parteiübernahme durch Kurz sei endlich wieder die ÖVP-Kanzlerschaft, so viel ÖVP-Politik wie lange nicht mehr und die Verhinderung von Rot-Blau unter einem Kanzler Heinz-Christian Strache, so der Altvizekanzler. Spindelegger galt als Förderer von Kurz und brachte ihn als Staatssekretär überhaupt erst in Regierungsverantwortung.

Mitterlehner kontert

Dass man ihn nun aus der Partei an niedrige Umfragewerte um die 20 Prozent unter seiner Obmannschaft erinnert, sieht Mitterlehner gelassen: „Für das, was da intern abgelaufen ist, war das noch eine sehr, sehr gute Ausgangsposition.“ Wäre die ÖVP einheitlich vorgegangen, hätte die Partei auch unter ihm gute Chancen gehabt, ist der Ex-Politiker überzeugt. Der Ansage Spindeleggers, wonach seine Ablöse keine Intrige, sondern „die Rettung“ der Partei gewesen sei, regt ihn ebenfalls nicht auf: Wenn das Thema (sein Buch, Anm.) jetzt nicht überdeckt werden könne, „na dann wird man halt ein paar ausschicken, die nicht unbedingt oberste Ebene sind“.

Auch Josef Pröll kritisiert Mitterlehner

Nach Spindelegger nahm mit Josef Pröll ein weiterer ÖVP-Chef Kurz gegen die Kritik Mitterlehners in Schutz. Er sprach angesichts Mitterlehners Buch von „verletzter Eitelkeit“. Und er merkte an, dass die ÖVP mit Mitterlehner „immer mehr nach links gerückt“ sei. „Die ÖVP hatte kein Profil mehr“, so Pröll in einer der APA übermittelten schriftlichen Stellungnahme.

Zentraler Inhalt der Großen Koalition sei nur noch die Verwaltung des Stillstandes gewesen. Mit seiner linken Positionierung hätte Mitterlehner „niemals mehr eine Wahl gewonnen“, meinte der Niederösterreicher – unter dem die ÖVP bei den meisten Landtagswahlen alles andere als prächtig abgeschnitten, der aber selbst keine Nationalratswahl geschlagen hatte. Denn er gab die Obmannschaft 2011 schon nach zweieinhalb Jahren – wegen eines Lungeninfarkts – wieder ab.

Zufrieden äußerte sich Pröll über den Kurs von Kurz: Heute werde „wieder ÖVP-Politik gemacht“. Bei Nulldefizit, Familienbonus und Arbeitszeitflexibilisierung sei die ÖVP-Handschrift „ganz klar erkennbar“.

Schützenhilfe von Platter und Mikl-Leitner

Lob für Kurz und Tadel für Mitterlehner kam auch vom Tiroler Landeshauptmann Günther Platter. „Leider hat es Mitterlehner nicht geschafft, den damaligen Regierungspartner SPÖ dazu zu bringen, die notwendigen Reformen in Österreich einzuleiten.“ Aus diesem Grund sei er „erster Unterstützer für den neuen Weg“ von Kurz geworden, sagte er laut „Kurier“: „Die Wahl 2017 und die Rückmeldung aus der Bevölkerung haben bewiesen, dass Sebastian Kurz auf dem richtigen Weg ist.“

Auch aus Niederösterreich gab es am Mittwoch Kritik. „Es ist traurig zu sehen, dass der Schmerz so tief sitzt. Das tut mir für Mitterlehner persönlich auch sehr leid. Aber wenn er nun derart an die Öffentlichkeit geht, dann muss ich schon festhalten, dass es zwischen seiner Eigenwahrnehmung und der Realität doch einige Diskrepanzen gibt“, sagte Landeshauptfrau Johann Mikl-Leitner (ÖVP). Mehr wolle sie dazu auch gar nicht sagen. „Persönlich wünsche ich ihm dennoch alles Gute.“

Tiroler AK-Präsident kritisiert ÖVP-FPÖ-Koalition

Ex-Wirtschaftskammer-Obmann Christoph Leitl merkte – in seiner jetzigen Funktion als Präsident der Europäischen Wirtschaftskammern – an, „dass sich Österreich von einem unterdurchschnittlichen Nachzügler zu einem Vorreiter eines starken Wirtschaftsstandortes entwickelt hat“. Das sei „in besonderer Weise dieser Regierung zu verdanken“.

Der Tiroler AK-Präsident Erwin Zangerl (ÖVP) nützte die Gelegenheit hingegen für eine weitere Abrechnung mit der Bundesregierung. „Weltmeister“ sei die Koalition nur, „wenn man unter Reform Verschlechterungen, politisches Umfärben und Dialogverweigerung versteht“. „Absolute Verlierer“ der „Reformen“ – vom Zwölfstundenarbeitstag über die Zerschlagung der Krankenkassen und Entmachtung der Arbeitnehmervertreter bis hin zur Steuerreform, „die nur jene entlastet, die es sich ohnehin leisten können“ – seien die Arbeitnehmer.