Bei einer Rede in seiner Wahlkampfzentrale präsentierte Selenski das Ergebnis als Signal an andere Länder, die ebenfalls früher zur Sowjetunion gehört hatten. „Als Bürger der Ukraine kann ich allen postsowjetischen Ländern sagen: ‚Schaut auf uns! Alles ist möglich!‘“, sagte er.
Für die Ostukraine, in der Regierungstruppen seit Jahren gegen von Russland unterstützte Separatisten kämpfen, kündigte er neue Friedensgespräche an. Zudem versprach er, für die Rückkehr derjenigen Ukrainer zu sorgen, die in den von Separatisten kontrollierten Gebieten und in Russland festgehalten würden. Seit Beginn des Konflikts, in dessen Rahmen Russland die Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektierte, wurden rund 13.000 Menschen getötet.
Poroschenko weiterhin politisch aktiv
Selenski gelang es, bei der Wahl in allen Regionen der Ukraine die meisten Stimmen zu holen. Die Wahlbeteiligung lag nach vorläufigen Angaben bei 62 Prozent. Ende März hatte Selenski bereits die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen, obwohl er über keinerlei politische Erfahrung verfügt. Selenski sieht seine eigene politische Unerfahrenheit nicht als Nachteil, im Gegenteil: „Ich bin ein frisches Gesicht. Ich habe nie etwas mit Politik zu tun gehabt“, sagte er.
Der amtierende Präsident Petro Poroschenko, der in der Stichwahl gerade einmal auf 25,5 Prozent der Stimmen kam, räumte zwar seine Niederlage ein, betonte aber, er werde sich „nicht aus der Politik zurückziehen“. Der 53-Jährige rief seinen Anhängern zu, niemals aufzugeben.
Die Partei Poroschenkos hatte zuvor erklärt, nun die Parlamentswahl im Oktober in den Blick zu nehmen. „Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen, um das Land zu verteidigen“, sagte Poroschenko. Er warnte immer wieder vor einer russischen Aggression gegen sein Land. Er werde nun das Amt verlassen, aber den Kampf nicht aufgeben. „Der neue Präsident wird eine starke Opposition haben, eine sehr starke“, meinte er kämpferisch.
Poroschenko bot Selenski Hilfe an
Poroschenko war im Mai 2014 ins Amt gewählt worden, wenige Monate nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch als Folge der Maidan-Proteste. Poroschenko fiel die Aufgabe zu, die Ukraine nach der Abspaltung der Halbinsel Krim durch prorussische Kräfte und den Unruhen im Osten des Landes zu einen und aus einer schweren Krise zu führen. Viele Ukrainer trauten ihm zuletzt aber nicht mehr zu, die Lebensverhältnisse im Land zu verbessern. Zudem werfen ihm Kritiker vor, beim Kampf gegen die Korruption in der Ukraine kaum vorangekommen zu sein.
Selenski berichtete, dass ihm Poroschenko zum Wahlsieg gratuliert habe und ihm seine Hilfe angeboten habe. „Ich bin Präsident Poroschenko dafür dankbar“, erklärte er. Keinen Zweifel ließ er daran, am Austausch von Spitzenvertretern des ukrainischen Staats interessiert zu sein, konkret war von Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko die Rede, der – so Selenski – zum alten Team gehöre. Details zu Personalfragen würden in einer Pressekonferenz in wenigen Tagen präsentiert werden.
Russland: Ergebnis ist Entscheidung für Wandel
Viele Ukrainer hatten dem Wahlergebnis mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. In Mariupol, unweit der Front des blutigen Konflikts in der Ostukraine, hatten am Sonntag gepanzerte Polizeiautos die Wahllokale gesichert. Rebecca Harms, Leiterin der Wahlbeobachtungsmission des Europäischen Parlaments in der Ukraine, war am Sonntag in Kiew unterwegs. Sie habe eine „ruhige, sehr gut organisierte“ Wahl erlebt, sagte die Grünen-Politikerin der Nachrichtenagentur AFP. Sie und die anderen Mitglieder der EU-Parlamentsdelegation hätten „keine Vorfälle“ beobachtet. Allerdings werde die Gesamtbilanz gemeinsam mit den Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erst am Montag gezogen.
Die russische Regierung wertete das Wahlergebnis als Entscheidung der ukrainischen Bürger für einen Wandel. Vizeaußenminister Grigori Karasin sagte der Nachrichtenagentur RIA Novosti, die neue Führung müsse nun „die Wünsche ihrer Wähler verstehen und umsetzen“. Das gelte in der Innen- und Außenpolitik. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind seit Jahren schwer belastet. Russland hatte 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und unterstützt außerdem separatistische Kämpfer im Osten des Landes.
Kurz „ermutigt“ Selenski zur Korruptionsbekämpfung
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat Selenski bereits zur Wahl zum Präsidenten gratuliert. „Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit zur weiteren Vertiefung unserer guten bilateralen Beziehungen“, erklärte Kurz in einer der APA übermittelten Stellungnahme.
Österreich sei einer der größten Investoren in der Ukraine und habe daher starkes Interesse an einer guten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, ergänzte Kurz. „Ich ermutige Präsident Selenski, notwendige Reformen, insbesondere in der Bekämpfung der Korruption, fortzusetzen.“
„Populist ohne Programm für die Zukunft des Landes“
Der in seiner Heimat gefeierte Showstar Selenski spielt seit Jahren einen Präsidenten der Comedy-Serie „Sluha Narodu“ – zu Deutsch: Diener des Volkes. Wie in der Serie des Fernsehsenders 1+1, in der ein Geschichtslehrer überraschend Staatschef wird, will er nun als „einfacher Mensch“, wie er sagte, das von Korruption geprägte System in seiner Heimat zerstören. „Ich werde euch niemals hinters Licht führen“, versprach er am Abend.
Kritiker werfen dem Komiker vor, ein Populist ohne echtes Programm für die Zukunft des Landes zu sein. Immer wieder Thema ist auch Selenskis Nähe zu dem Oligarchen Igor Kolomoiski, der mit seinem TV-Kanal 1+1 Stimmung gegen Poroschenko machte.
Das zwischen ukrainischen Nationalisten und russlandfreundlichen Bevölkerungsteilen hin und her gerissene Land zu einen, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für den neuen ukrainischen Präsidenten gehören. Viele Menschen hoffen besonders auf mehr Wohlstand – vor allem auf steigende Löhne und Renten sowie sinkende Lebenshaltungskosten.