Gruppenfoto beim EU-Gipfel
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EU-Gipfelerklärung

„Vereint durch dick und dünn gehen“

Mit einem Gipfel zwei Wochen vor der Europawahl haben die EU-Staats- und -Regierungschefs versucht, ein Zeichen der Geschlossenheit zu setzen. In einer am Donnerstag in Rumänien verabschiedeten Erklärung sicherten sie zu, sie wollten „vereint durch dick und dünn gehen“ – Differenzen gab es in Sibiu dennoch weiter genug.

Man habe sich zum informellen Gipfel in Sibiu zusammengefunden, „um unsere gemeinsame Zukunft zu erörtern und zu planen“, heißt es gleich zu Beginn der insgesamt zehn Punkte umfassenden Gipfelerklärung. Von deren „Geist und Buchstaben“ wollen sich die EU-Staats- und -Regierungschefs nun bei ihren Entscheidungen „leiten lassen“.

Am Nachmittag berieten die Staats- und Regierungschefs über mögliche Themenschwerpunkten bis zum Jahr 2024. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte dazu eine zweiseitige Stichwortliste zu Themen wie Migration, Klimaschutz und Zukunftstechnologien erstellt. Nach den Rückmeldungen der Mitgliedsstaaten will er einen Entwurf für eine „strategische Agenda“ erstellen, die im Juni beschlossen werden soll.

Familienfoto
Reuters/Stoyan Nenov
Die EU-Staats- und -Regierungschefs beim „Familienfoto“ in Sibiu

„Kein Europa ohne Rechtsstaatlichkeit“

Tusk stellte nach dem Gipfeltreffen mit Blick auf die in der EU umstrittenen Justizreformen in Polen, Ungarn und Rumänien die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in die Auslage. Diese sei „die Essenz unserer Politik“, so Tusk, dem zufolge die Rechtsstaatlichkeit auch eine zentrale Rolle bei der strategischen Agenda der EU für die nächsten Jahre spielen werde. „Es gibt kein Europa ohne Rechtsstaatlichkeit.“

Dass in Sibiu noch keine zentralen Weichen für die Zukunft der EU gestellt werden, stellten Beobachter bereits im Vorfeld außer Frage. Hintergrund dafür ist unter anderem der noch ausstehende Brexit: Großbritannien ist bei dem informellen Treffen zwar nicht durch Premierministerin Theresa May vertreten, aber noch immer Mitglied der EU.

ORF-Korrespondenten zum EU-Gipfel

Christophe Kohl in Paris, Andreas Jölli in Berlin und Tim Cupal in Sibiu kommentieren die Vorstöße von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beim EU-Gipfel in Rumänien.

Und auch die Gipfelerklärung ist im Wesentlichen von symbolischem Wert. Die Versicherung der europäischen Staats- und -Regierungschefs zwei Wochen vor der Europawahl, „durch dick und dünn“ zu gehen und geeint zu bleiben, ist so allgemein formuliert, dass sie leicht von allen mitgetragen werden kann.

Die Formulierung einer konkreten strategischen Agenda bis 2024 mit konkreteren Zielvorgaben zu Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit, Europas Rolle in der Welt und dem inneren Zusammenhalt der EU steht erst beim nächsten regulären EU-Gipfel im Juni in Brüssel an.

Auf EU-Wahl folgt Sondergipfel

Bereits zuvor soll es am 28. Mai ein zusätzliches Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs geben. Wie Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Sibiu bekanntgab und kurz darauf auch Tusk via Twitter bestätigte, ist für 28. Mai nun ein Sondergipfel geplant, um unmittelbar nach der Europawahl mit der Auswahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten zu beginnen.

Bei dem Treffen in knapp drei Wochen dürfte es zwar schon erste Hinweise geben, wer eine Chance hat, Chef der mächtigen EU-Behörde zu werden. Es wird aber mit einem wochenlangen Streit gerechnet.

Nach der Europawahl stehen auch abseits der Juncker-Nachfolge gleich mehrere weitere zentrale Personalentscheidungen an. Gesucht werden auch ein neuer Ratspräsident sowie die Nachfolge für EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Schließlich endet auch das Mandat des italienischen Amtsinhabers Mario Draghi am 31. Oktober.

Tusk will ausgewogenes Gesamtpaket

Erklärtes Ziel sei es, bis Juni ein Gesamtpaket zu schnüren, das ausgewogen die Regionen der EU, die Parteien und Männer und Frauen berücksichtige, so Ratspräsident Tusk. Dieser kündigte zudem eine schnelle und entschiedene Vorgangsweise an. Sollte sich kein Konsens abzeichnen, werde er eine Mehrheitsentscheidung einleiten.

Doch nicht nur beim anstehenden Personalpoker wird sich weisen, wie geeint die EU wirklich die Herausforderungen der nächsten Jahre angeht. Auch dass die EU zunehmend gegenüber China und den USA ins Hintertreffen gerät, ist allen klar. „Wir müssen innovativ sein, wir müssen stark sein, wir müssen geeint sein“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die in diesem Zusammenhang sagte: „Die Welt schläft nicht.“

Emmanuel Macron, Angela Merkel, Mark Rutte und Sebastian Kurz
Reuters/Olivier Hoslet
Ungeachtet der auf Geschlossenheit setzenden Gipfelerklärung offenbart auch der Sibiu-Gipfel weiter reichlich Diskussionsbedarf

Kurz für „Generationswechsel“

Kurz bezeichnete den Gipfel in Sibiu als „notwendige Diskussion zur Zukunft der Europäischen Union.“ Er habe seine Vorschläge für eine EU-Vertragsänderung eingebracht. „Niemand kann mit dem Status quo zufrieden sein. Es gibt auch keinen Grund für Selbstzufriedenheit, denn viele andere Regionen dieser Welt sind sehr schnell, sind sehr effizient, holen uns ein. Manche überholen uns sogar. Da ist es wichtig, dass wir auch gemeinsam daran arbeiten, die Europäische Union besser zu machen“, sagte der Kanzler.

Kurz zufolge brauche es einen „Generationswechsel“ in der Europäischen Union und nicht nur neue Personen. Die EU brauche ein neues Fundament, also einen neuen Vertrag. Die EU sollte schlanker und effizienter werden, forderte Kurz. Konkret nannte er eine Verkleinerung der EU-Kommission und die Frage der Entscheidungsprozesse, der Parlamentssitzzusammenlegung und das Thema Wettbewerbsfähigkeit.

Juncker: Mehr aus geltenden Verträgen machen

Der amtierende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach sich in Sibiu zwar nicht gänzlich gegen Vertragsänderungen aus, zunächst sollte die EU allerdings mehr im Rahmen der geltenden Verträge machen. Der Lissabon-Vertrag lässt etwa bereits jetzt einen Übergang zu leichteren Mehrheitsentscheidungen – etwa in der Steuer- und Außenpolitik – zu, wenn alle das einstimmig beschließen.

Eine echte Vertragsänderung dauert dagegen mehrere Jahre und erfordert die Einstimmigkeit aller Staaten, die in der derzeitigen Situation der EU wohl nur schwer hinzukriegen wäre. Mehr Unterstützung für Kurz kam vom Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU).

Dieser sieht sich zunehmend mit einem starken Gegenwind konfrontiert. In der EVP hat sich der von der Partei suspendierte ungarische Premier Viktor Orban offen gegen den CSU-Politiker aus Bayern als nächsten EU-Kommissionschef ausgesprochen.

Widerstand gegen Spitzenkandidatensystem

Und mehrere Staats- und Regierungschefs aus dem liberalen Lager betonten in Sibiu, sie würden das Spitzenkandidatensystem nicht unterstützen. Mit Juncker war 2014 erstmals ein Spitzenkandidat Kommissionschef geworden. Das EU-Parlament will dieses Verfahren beibehalten. Die Mitgliedsstaaten sehen nach einem Beschluss von 2018 aber „keinen Automatismus“ und behalten sich vor, auch andere Kandidaten vorzuschlagen.

Während bei den Konservativen dieses Mal Weber als Spitzenkandidat antritt, ist es bei den Sozialdemokraten der Niederländer Frans Timmermans. Auch weitere Parteifamilien haben Spitzenkandidaten. Für das Amt des Kommissionspräsidenten ist eine 72-Prozent-Mehrheit im Kreis der Staats- und Regierungschefs nötig. Im Europaparlament muss er dann mit der Mehrheit der Mandate bestätigt werden.

Kurz warnte vor negativen Reaktionen der Bürger, wenn die Mitgliedsstaaten sich „im kleinen Kreis“ auf einen anderen Vorschlag als einen Spitzenkandidaten einigten. Das werde nicht „das Vertrauen in die Europäische Union stärken“. Gegen das Spitzenkandidatensystem ist unter anderem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Das sei nicht der richtige Weg, sagte er. Das Vorgehen sei nur sinnvoll, wenn es bei der Wahl auch länderübergreifende Kandidatenlisten gebe.

Uneinigkeit auch beim Thema Klimaschutz

Auf Widerstände stieß unterdessen Macron, bei dem Gipfel für eine Klimainitiative zu werben. Er werde das Vorhaben nicht unterstützen, „weil wir den Weg, auf Atomkraft zu setzen, für vollkommen falsch erachten“, sagte Kurz.

Acht EU-Länder unter Führung Frankreichs hatten vor dem Gipfel dazu aufgerufen, den Klimaschutz zum Kernaspekt der EU-Strategie bis 2024 zu machen. Die Unterzeichner fordern sofortige Schritte, um den Ausstoß an Treibhausgasen spätestens bis zum Jahr 2050 auf netto null zu senken. Macron zeigte sich überzeugt, dass letztlich auch Deutschland beitreten wird.

Auch Juncker begrüßte den Vorstoß. Die EU habe sich jedoch bereits ein Ziel für 2030 gesetzt, wie der Kommissionschef nach dem Gipfeltreffen sagte: „Lasst uns auf unverzügliche und dringende Maßnahmen konzentrieren.“ Man dürfe nicht versuchen, der eigenen Verantwortung durch spätere Ziele davonzulaufen.

Brexit: Viele Frage weiter offen

Schließlich klebt auch der Brexit noch immer als Klotz am Bein der EU. Es ist heute noch nicht klar, ob Großbritannien die Europäische Union zum Ablauf der Frist Ende Oktober tatsächlich verlässt. Auch das gehört zu den noch ungelösten Zukunftsfragen der Gemeinschaft.