Deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen
Reuters/Hannibal Hanschke
EU-Topjobs

Das Kalkül hinter den Postenvergaben

Die Nominierung der deutschen Konservativen Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin gilt auch noch am Tag danach als große Überraschung. Fragen ranken sich um den Hergang der Entscheidung. Jedenfalls führt sie eines vor Augen: Befindlichkeiten von Staaten und Parteien stehen über allen anderen Mechanismen. Das zeigte insbesondere der Schwenk der Visegrad-Länder und Italiens.

Dabei hatte insbesondere die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zwischenzeitlich wie die große Verliererin ausgesehen, als ihr gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eingebrachter Vorschlag, den Sozialdemokraten Frans Timmermans zum Kommissionschef zu machen, von Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei und Italien wortgewaltig torpediert wurde.

Zu diesem Zeitpunkt sahen viele bereits eine doppelte Niederlage für Merkel: zunächst den deutschen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber (vor allem gegen Frankreich) nicht durchgebracht und dann mit dem anderen SPE-Spitzenkandidaten Timmermans bei EVP und Ostländern abgeblitzt.

Deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und deutsche Kanzlerin Angela Merkel
APA/AFP/John Macdougall
Die deutsche Kanzlerin Merkel sah lange nicht wie die Gewinnerin des Jobpokers aus – am Ende wendete sich das Blatt

Die Osteuropäer revanchierten sich, indem sie die von den Italienern ungeliebte Liberale Margrethe Vestager verhinderten. Alle Auswege waren also blockiert. Doch dann folgte das, was große Teile des EU-Parlaments – insbesondere Sozialdemokraten und Grüne – wütend als „Hinterzimmer“-Deal bezeichnen.

Totes Spitzenkandidatenprinzip

Eine Parteikollegin Merkels tauchte im Plan von Ratspräsident Donald Tusk als Vorschlag für den Chefposten der Kommission auf, ohne dass sie davor jemand auf der Rechnung gehabt hätte. Rasch war vom Umstand die Rede, wonach das Spitzenkandidatenprinzip tot sei – und das war es in der Tat: Denn was folgte, war im Sinne der nötigen Lösungsfindung zwar erleichternd, aber nicht nur aus Sicht des EU-Parlaments fragwürdig.

Es kam nämlich zu einem raschen Schwenk – jene Länder, die noch vehement gegen sämtliche Vorschläge gepoltert hatten, schienen rasch zufriedengestellt mit dem anfangs recht unrealistisch erscheinenden Personalvorschlag. Bemerkenswert die Reaktionen insbesondere aus Ungarn und Italien: Über einen Sprecher des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban wurde recht rasch kommuniziert, dass die Visegrad-Staaten den Plan mit von der Leyen unterstützen.

Italiens Schwenk

Bemerkenswert erschien die Motivlage für eine Zustimmung aus Italien. Dessen Regierungschef Giuseppe Conte, der sich im Vorfeld gegen alle Kompromissvorschläge sperrte, begründete die Eignung von der Leyens auf eine spezielle Art: So sah er die deutsche CDU-Politikerin als ehemalige Familienministerin gerade mit dem Blick auf in Italien hochgehaltene Familienwerte als geeignet.

Im Deal enthalten war auch eine Personalentscheidung zugunsten Roms. Denn am Mittwoch wurde der Italiener David-Maria Sassoli, ein Sozialdemokrat, vom EU-Parlament als dessen künftiger Präsident bestätigt. Hier hätte das Land verlieren können, schließlich steht derzeit mit Antonio Tajani ebenfalls ein Italiener an der Spitze der europäischen Volksvertretung. Es ergab sich trotzdem eine signifikante Schlechterstellung: EZB-Chef Mario Draghi und Außenbeauftragte Federica Mogherini werden durch eine Französin (Christine Lagarde) bzw. einen Spanier (Josep Borrell) ersetzt.

Französin statt Deutscher

Und auch EU-Schwergewicht Frankreich, das zusammen mit Deutschland anfangs als Verlierer im Personalpoker erschien, konnte in dem letztlich beschlossenen Plan einen gewünschten Posten geltend machen – mit der IWF-Chefin Lagarde wurde eine Französin für den Chefposten bei der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgeschlagen. Verhindert wurde damit auch der Deutsche Jens Weidmann, gegen den sich etwa Macron gestellt hatte.

Französischer Präsident Emmanuel Macron und Christine Lagarde (nominiert als neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank)
APA/AFP/Eric Feferberg
Lagarde wird EZB-Chefin – Macron machte seine Vorstellungen geltend

Ein Zeitungskommentar aus einem östlichen EU-Staat bringt es auf den Punkt – so sah die polnische „Rzeczpospolita“ eine These widerlegt: nämlich den Umstand, dass der „französisch-deutsche Antrieb kaputtgegangen“ und die Länder „in einen Konflikt geraten“ seien. Die Vereinbarung habe „ausgezeichnete Effekte für beide Seiten“, so die Zeitung.

„Merkel hat Partie hervorragend gespielt“

Ebenfalls widerlegt sah die Zeitung die These, wonach das Fiasko des Timmermans-Pakts ein Beweis für Merkels politisches Ende sei. Es handle sich wohl eher um einen „Traum“, der mit der Ablehnung des Pakts mit Timmermans erst begann: „Der Widerstand einiger Länder gegen den Niederländer war so stark, dass von der Leyens Kandidatur als gemäßigter Kompromiss erschien“, so die Zeitung. Merkel habe „diese Partie hervorragend gespielt“.

Andere sehen Merkel hingegen beschädigt – bzw. die Demokratie in der EU. Am Spitzenkandidatenmodell habe sie nicht festhalten können, bemerkt der „Spiegel“: „Am Ende musste sie eingestehen, dass es nicht einmal gelungen ist, eine faire Lösung für die düpierten Kandidaten Weber und Timmermans zu finden“, so das Magazin. Der „Spiegel“, aber auch andere europäische Medien sahen darin einen Rückschritt für die „Demokratisierung der EU“.

„Zynisches Kräftemessen“

Die belgische Zeitung „De Standaard“ beschrieb die Verteilung der Jobs als „zynisches Kräftemessen“, das „keiner der Spitzenkandidaten überlebte“. Die Verteilung der Macht gleiche immer einem „Schlachtfeld aus fragilen Gleichgewichten, rohen Interessen, unvereinbaren Rivalitäten und persönlichen Ambitionen“. „Kein schöner Anblick“, aber „normal“ bei 28 Ländern und ebenso vielen Interessen. Die Kluft zu den Bürgerinnen und Bürgern könne man so aber nicht schließen.

Peter Fritz (ORF) über den Widerstand gegen von der Leyen

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet über den Widerstand gegen Ursula von der Leyen und wie wahrscheinlich es ist, dass diese dennoch Kommissionschefin wird.

Ungeachtet dessen startete von der Leyen ihre Kampagne zur Wahl als EU-Kommissionspräsidentin. Sie warb am Mittwoch im Europäischen Parlament in Straßburg um Zustimmung. Am Donnerstag will von der Leyen nach Brüssel reisen. Es ist unsicher, ob sie Mitte Juli eine ausreichende Mehrheit im Parlament erhält. Sollte sich das Parlament gegen den EU-Rat stellen, droht in Europa nach Aussage von EU-Diplomaten eine institutionelle Krise.