Proteste in Moskau
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Regionalwahlen

Kreml vor Urnengang hoch nervös

Am Sonntag wählt Moskau sein Stadtparlament neu. Im Vorfeld gab es regelmäßig Demonstrationen gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidaten – und das, obwohl Polizei und Sicherheitskräfte mit Härte, Verhaftungen und teils drakonischen Strafen vorgingen. Die Strahlkraft von Präsident Wladimir Putin scheint einmal mehr verblasst.

Insgesamt nahm die Polizei bei den Kundgebungen seit Mitte Juli an die 3.000 Menschen fest – die schärfsten Strafen setzte es aber erst in der Woche vor dem Wahltag: Ein Demonstrant erhielt in Moskau eine dreijährige Gefängnisstrafe, weil er Tränengas gegen Polizisten eingesetzt haben soll.

Ein anderer wurde am Dienstag zu zwei Jahren Haft verurteilt, nachdem er zugegeben hatte, einen Polizisten gestoßen zu haben. Ein weiterer junger Mann erhielt gleich drei Jahre Straflager, weil er einem Polizisten „physischen Schmerz“ zugefügt haben soll – ein in Sozialen Netzwerken verbreitetes Video zeigt den 28-Jährigen, wie er ein Mitglied der Nationalgarde mit der Hand leicht am Kinn berührt.

Russische Regionalwahlen

Am Sonntag werden in 16 Regionen Gouverneure gekürt, in elf russischen Regionen sowie in der seit 2014 von Russland okkupierten Stadt Sewastopol und dem Rest der ukrainischen Halbinsel Krim stehen Lokalparlamente zur Wahl. 56 Millionen Wähler sind zur Stimmabgabe aufgerufen – das ist fast die Hälfte der Wahlberechtigten Russlands.

Fünf Jahre Straflager für einen Tweet

Ebenfalls diese Woche wurde der Blogger Wladislaw Siniza wegen Verbreitung einer „Hassbotschaft“ zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Er wurde schuldig befunden, angesichts des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zu Angriffen auf Kinder von Sicherheitskräften aufgerufen zu haben. Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der erst in der Vorwoche nach einer 30-tägigen Haftstrafe entlassen worden war, sprach von einem „dummen“ Post – allerdings würden täglich „Millionen solcher dummer Posts geschrieben“.

Regierungstreue Medien dagegen reagierten erfreut: Wladimir Solowjow etwa, der auf dem Sender Rossija 1 eine Talkshow moderiert und als Einpeitscher des Kremls gilt, wurde vom britischen „Guardian“ so zitiert: „Das ist ein klares Signal an jene, die denken, das Internet sei eine eigene, rechtsfreie Welt. Die Zeit zum Scherzen ist vorbei.“

Proteste in Moskau
Reuters/Tatyana Makeyeva
Polizisten in voller Montur auf der einen, Demonstranten auf der anderen Seite: Allwöchentliches Bild in Moskau

Kindeswegnahme angedroht

Eine Niederlage musste die Staatsanwaltschaft dieser Tage allerdings hinnehmen: Sie scheiterte mit ihrem Versuch, einem Elternpaar das Sorgerecht für zwei seiner kleinen Kinder zu entziehen. Das beanstandete Vergehen der Erwachsenen: Sie hatten ihre drei Jahre und drei Monate alten Töchter Anfang August mit zu einer Demonstration genommen. Das zuständige Gericht wies das Ansinnen der Staatsanwaltschaft zurück, sprach aber eine „formelle Verwarnung“ aus und forderte die Eltern auf, „ihr Verhalten zu ändern“.

Anfang der Woche wurden mehrere führende Vertreter der Opposition in einer nächtlichen Aktion vorübergehend festgenommen, unter ihnen der Journalist Ilja Asar von der oppositionellen Zeitung „Nowaja Gaseta“ sowie Nikolai Ljaskin und die Anwältin Ljubow Sobol, zwei Verbündete des Oppositionspolitikers Nawalny. Zwar kamen sie bald wieder frei, mussten aber wegen der Organisation nicht genehmigter Demonstrationen Buße zahlen.

Dutzende verhinderte Kandidaten

Die 32-jährige Juristin Sobol wäre gern selbst für die Wahl angetreten. Doch die Wahlkommission schloss sie und 56 weitere oppositionelle Kandidatinnen und Kandidaten aus. Insgesamt wurden für die Wahl der 45 Stadträte 233 Kandidaten registriert – die Wahlkommission rühmte dabei ihre „loyale und maximal freundliche Haltung gegenüber allen Kandidaten“, schließlich seien nur halb so viele abgelehnt worden wie 2014.

„Das führt in die Irre“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“. „Denn in diesem Jahr treten alle Kandidaten der von Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew geführten Kreml-Partei in Moskau formal als ‚unabhängige‘ Kandidaten an, weil ‚Einiges Russland‘ aufgrund einer Erhöhung des Renteneintrittsalters im vorigen Jahr und wegen der schlechten Wirtschaftslage unbeliebter denn je ist.“

Überfall auf Wahlleiterin

An dem Ausschluss von Oppositionspolitikern beteiligt war Ella Pamfilowa, die Vorsitzende des zentralen russischen Wahlausschusses. In der Nacht auf Freitag dieser Woche wurde die 65-Jährige laut Polizei an ihrem Wohnort nahe Moskau von einem Unbekannten mehrfach mit einem Elektroschocker attackiert. „Ich werde es überleben“, gab sie später bekannt. Staatsmedien spekulierten über einen Zusammenhang zwischen dem Angriff und den Wahlen. „Was war das – ein Überfall oder die Ausführung eines Befehls zur Störung der Wahl?“, hieß es im vom Staat kontrollierten Fernsehsender Rossija 24.

Lyubov Sobol
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Antikorruptionsaktivistin Sobol wurde von der Wahl ausgeschlossen – und bereits mehrfach verhaftet

Seit 20 Jahren ist Putin an der Macht, die Unzufriedenheit mit der Politik des Kremls ist zumindest in Moskau nicht mehr zu übersehen. Trotz der anhaltenden Gewalt seitens der Sicherheitsbehörden ließen sich Zehntausende Menschen nicht davon abhalten, auf die Straße zu gehen. „Politische Spaziergänge“ nannten die Unzufriedenen ihre Versammlungen, „Russland ohne Putin“ und „Wir wollen eine echte Wahl“ waren die gängigsten Forderungen.

Staatsapparat „größer, reicher, effektiver“ geworden

Die letzten Proteste in dieser Dimension fanden im Winter 2011 und 2012 statt. „Was die öffentliche Stimmung angeht, das Misstrauen gegenüber dem Präsidenten und der Regierungspartei, sind wir zurück, wo wir vor sieben Jahren waren“, sagte die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Im Vergleich zu damals sei aber der Staatsapparat „stärker, größer, reicher, effektiver geworden“, während die realen Einkommen der Menschen seit Jahren schrumpfen würden.

Noch sind die Proteste primär auf Moskau beschränkt, doch die offensichtliche Nervosität des Kremls vor der – in der Vergangenheit weitgehend unbeachtenden – Kommunalwahl könnte überschwappen, kommentierte die „FAZ“: „Wo unfaire Regeln nicht ausreichen, um Gegner fernzuhalten, werden Betrug und Polizeigewalt bemüht. Außerhalb Moskaus, wo die soziale Lage prekärer und die Aufmerksamkeit geringer ist, dürften Funktionäre diesem Beispiel folgen.“