Chinesische Schüler machen Dehnungsübungen im Klassenzimmer
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Bildung

Warum China davonzieht

Alljährlich am 7. und 8. Juni herrscht in China der Ausnahmezustand. Dann findet landesweit der Gaokao, die „Mutter aller Prüfungen“, statt. Sie entscheidet, wer einen der begehrten Studienplätze ergattert. Die Prüfung ist zentral in einem Schulsystem, das die besten Schülerinnen und Schüler der Welt produzieren soll – zumindest, wenn es nach der PISA-Studie geht. Doch wie gut ist Chinas Bildungssystem wirklich?

Ob Lesen, Schreiben oder Naturwissenschaft: Chinesische 15-Jährige würden ihre Altersgenossen aus anderen Ländern weit überflügeln, hieß es in der am Dienstag veröffentlichten PISA-Studie. In dem Ranking befindet sich China mit dem Regionencluster „Peking – Schanghai – Jiangsu – Zhejiang“ ganz vorne. China kam etwa bei dem Lesetest auf 555 Punkte – Österreich nur auf 484. Die chinesischen Sonderzonen Macao und Hongkong belegen zudem Platz drei und vier.

Tatsächlich gilt das fordernde und extrem kompetitive Schulsystem Chinas vielen als außergewöhnlich – die Ergebnisse müssen allerdings mit Vorsicht betrachtet werden. Denn die Volksrepublik lässt nur Sonderzonen mit speziellen Privilegien sowie wohlhabende und wirtschaftlich besonders entwickelte Vorzeigeregionen im Osten des Landes an der Studie teilnehmen. Diese sind oft auch Standort von Kaderschulen, die für die „Besten der Besten“ reserviert sind. Als typisch für das gesamte Land können die Ergebnisse damit nicht gelten, wie auch die OECD sagt.

Grafik zu den PISA-Ergebnissen
Grafik: ORF.at; Quelle: OECD

Gefälle zwischen Stadt und Land

Nach wie vor herrschen in vielerlei Hinsicht enorme regionale Unterschiede in der 1,4 Milliarden Einwohner großen Volksrepublik, was Lebensstandard und Entwicklung anbelangt. Zwar hat sich das chinesische Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung enorm weiterentwickelt, aber vor allem zwischen Stadt und Land herrscht weiter ein großes Gefälle.

Auch in anderer Hinsicht sind die Daten schlecht vergleichbar. Zum Beispiel stellte China keine Daten zu Migrationshintergrund bei Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Und nicht zuletzt gab es beim PISA-Test 2010, bei dem Schanghai extrem gut abgeschnitten hatte, Munkeleien, die Schulen seien auf die Studie getrimmt worden. Grundsätzlich wird immer wieder kritisiert, dass PISA-Ergebnisse nicht aussagekräftig seien. Kritisiert wurden immer wieder Schwachstellen im Sampling der Studie, der Auswahl der Testaufgaben sowie Probleme durch die unterschiedlichen Teilnahmequoten in den verschiedenen Staaten.

Rasante Veränderung auch bei Bildung

Trotzdem gilt das chinesische Bildungssystem in vielerlei Hinsicht als außergewöhnlich. Seit Mitte der 1950er Jahre treibt Peking das Ziel voran, die Bevölkerung flächendeckend für mindestens neun Jahre in die Schule zu schicken – und tatsächlich ist etwa die Alphabetisierung von 65 Prozent im Jahr 1982 auf 97 Prozent im Jahr 2018 gestiegen.

Chinesische Studenten bei der Gaokao-Prüfung
AP/Imaginechina/Zou le
Ein Bild vom nationalen Uniaufnahmtest Gaokao. Er entscheidet, wer auf welche Uni kommt – und damit auch über die Zukunft.

Etabliert hat sich dabei ein Schulsystem, das in sechs Jahre Volksschule und sechs Jahre Mittelschule gegliedert ist. Die Mittelschule ist in zweimal drei Jahre unterteilt. Die letzten drei Jahre sind freiwillig, nach ihrem Abschluss darf man studieren. Theoretisch ist die Mittelschule eine Gesamtschule, in der Praxis wird das allerdings von Elitenbildung und sozioökonomischen Unterschieden unterlaufen. Viele Eltern misstrauen den staatlichen Schulen und wollen ihre Kinder deswegen in besseren Einrichtungen oder im Ausland sehen.

Leistungsdruck von Anfang an

Eine wichtige Rolle spielen auch Kindergärten, Vorschulen und außerschulische Aktivitäten, in denen der Leistungsgedanke oft schon eine große Rolle spielt. Grundsätzlich gilt vor allem in besseren Schulen, dass die Lernkultur des kollektivistischen Chinas stark auf Disziplin, Konkurrenz und Leistung bis hin zum Drill aufgebaut ist und neben Mathematik, Sprache, Naturwissenschaft und „patriotischer Erziehung“ nur wenig Platz für Fächer wie Sport und Musik ist.

Sowohl Eltern als auch Schülerinnen und Schüler sind vor allem in der aufsteigenden Mittelschicht oft zu hohen Opfern bereit. Große Lernpensen und enormer Leistungsdruck sind für viele über Jahre hinweg Alltag. Das zeigt sich exemplarisch am Vergleich mit dem Ausland: „In China hat Nicholas 20 Stunden in der Woche Mathematik gelernt. In Australien sind es nur noch drei“, hieß es etwa in einem Artikel des „Sydney Morning Herald“.

Es ist ein Einsatz finanzieller, aber auch emotionaler Natur. Wie die „Zeit“ auf Basis des „Weißbuchs der chinesischen Neuen Mittelschicht“ berichtete, gab eine durchschnittliche Mittelschichtfamilie mit einem umgerechneten Jahreseinkommen von 87.000 Euro im Schnitt 13 Prozent für die Erziehung ihrer Kinder aus.

Fatale Versagensängste

Nicht erfasst sei in solchen Statistiken „die persönlichen Anstrengungen, aber auch die Ängste, die mit der Sorge um die Ausbildung der Kinder verbunden sind und oft regelrecht traumatisierend wirken“ und bis zu physischer Gewalt gehen können, so die „Zeit“. In diesem Zusammenhang hatte bereits 2014 eine kritische Studie für Entsetzen gesorgt. Pekinger Wissenschaftler hatten 79 Suizide unter Chinas Schülerinnen und Schülern analysiert und kamen zu dem Schluss, dass Leistungsdruck und Angst vor Versagen in 92 Prozent der Fälle der Hintergrund war.

Die Situation dürfte sich eher verschlechtert als verbessert haben. Im Juli erschien eine Langzeitstudie, laut der chinesische Schulkinder bereits im Grundschulalter aufgrund des Leistungsdrucks unter gesundheitlichen Problemen, Schlafstörungen, Sportmangel und Kurzsichtigkeit leiden würden. Dass sich angesichts des rasanten Wirtschaftswachstums in China ein Kulturwandel ergibt, ist aber eher unwahrscheinlich.