Polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk
APA/AFP/Jonathan Nackstrand
„Jakobsbücher“

Tokarczuk und der schillernde Messias

Am Dienstag wird die polnische Autorin Olga Tokarczuk in Stockholm den Literaturnobelpreis erhalten. Dass die Auszeichnung mehr als angemessen ist, zeigt Tokarczuks monumentaler Roman „Die Jakobsbücher“, der kürzlich auf Deutsch erschienen ist. Auf 1.184 Seiten erzählt Tokarczuk darin vom Sektenführer Jakob Frank und der pluralen Gesellschaft der Adelsrepublik Polen-Litauen im 18. Jahrhundert.

Die Zuerkennung des Literaturnobelpreises ist stets eine große Chance für die Verbreitung des Werks der Preisträgerinnen und Preisträger. Der Literaturnobelpreis für das Jahr 2018, der nun nachträglich in Stockholm an Tokarczuk vergeben wird, bietet die Chance, das Werk der polnischen Schriftstellerin zu entdecken. Ein zentraler Text in diesem über drei Jahrzehnte entstandenen Werk ist der historische Roman „Die Jakobsbücher“, der im Original 2014 erschien.

Die Adelsrepublik Polen-Litauen, die von 1569 bis 1795 bestand, war ein in seiner Zeit in Europa besonderer Vielvölkerstaat, der christliche, protestantische, orthodoxe und muslimische Einwohnerinnen und Einwohner hatte. Dass dieser Schmelztiegel aber keineswegs egalitär war, führt Tokarczuk schon im ersten Teil, dem „Buch des Nebels“ deutlich vor Augen. Der – historisch verbürgte – Pfarrer Benedykt Chmielowski, ein Mann, der mehr in Büchern als in der Welt lebt, begibt sich zu einem jüdischen Händler und Gelehrten, von dem er sich Zugang zu hebräischen Quellen für seine Studien erhofft.

Polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk
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Nobelpreisträgerin Tokarczuk: „Die Armut kennt weder Konfession noch Staatspapiere“

Die Trostlosigkeit der Umgebung der Händler und Handwerker schildert Tokarczuk einfühlsam und pointiert: „Zerlumpte Frauen sammeln auf den Gassen Sägespäne und Pferdeäpfel als Brennmaterial. An den Lumpen ist nicht zu erkennen, ob es jüdisches, orthodoxes oder katholisches Elend ist. Die Armut kennt weder Konfession noch Staatspapiere.“ Gleichheit gibt es nur im Unrecht.

Die Willkür der Herrschaft

Tokarzcuks historisches Panorama zeigt die Willkür der Herrschenden auf. Ein spielsüchtiger Bischof zwingt beispielsweise jüdische Händler, Kircheninsignien als Pfand für einen Kredit zu akzeptieren. Als sich das erhoffte Spielglück nicht einstellt, zettelt der Bischof ein Pogrom gegen die Gemeinde im Schtetl an. Der Rechtfertigungsbrief dazu liest sich wie eine Inventarliste der antisemitischen Verleumdungen. „Die Jakobsbücher“ gewinnen ihre Qualität aber gerade dadurch, dass Tokarczuck eine glänzend recherchierte, aus mehreren Perspektiven erzählte Welt schafft, in der die Lebenswelt von jüdischen Mystikern, jene von polnischen Adeligen oder jene der Wiener Gesellschaft nebeneinander stehen können und zu einem großen Ganzen werden.

Dieser Erzählkosmos besteht aus Innenansichten, Briefen, Zeitungsberichten, Exzerpten aus diversen Quellen und etlichen Karten und Stichen, die sich in den „Jakobsbüchern“ abgedruckt finden. Jakob Frank, das Gravitationszentrum des Romans, ist ein schillernder Messias, der vom Judentum zum Islam und weiter zum Katholizismus konvertiert. Er wird meist durch seine Wirkung auf andere Figuren geschildert.

Buchhinweis

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, Kampa Verlag, 1.184 Seiten, 43,20 Euro.

Gerade durch diese Darstellung kann Tokarczuk das Faszinosum Franks, der wechselseitig als Reformator oder Sektenführer wahrgenommen wird, vermitteln, ohne Position beziehen zu müssen. In Einsprengseln gelingt es ihr, die ganze, wechselvolle Geschichte Franks zu vermitteln. Über seine Herkunft in der jüdischen Gemeinde, die dem damals populären Mystizismus anhängt, über seine Zeit in Smyrna im osmanischen Reich, die Konflikte mit der Inquisition, die Stationen in Brünn, Wien und schließlich Offenbach am Main, wo er 1791 stirbt – Tokarczuk verfolgt Franks Weg vom Anfang bis zum Ende.

Verschobene Erzählperspektive

Jenta, Franks Großmutter, ist die rätselhafteste Figur des Romans. Sie trifft mit ihrer Verwandtschaft im Haus des jüdischen Gelehrten Elischa Schor ein, wo eine Hochzeit geplant ist. Die uralte Jenta droht an der Erschöpfung durch die Reise zu sterben. Da die vorgeschriebenen Trauerzeremonien die Hochzeit platzen lassen würden, beschließt Schor Jenta mit einem magischen Amulett an das Leben zu binden, bis die Hochzeit vorbei ist. Ungünstigerweise wird Jenta dadurch aber unsterblich.

Es ist ihre Perspektive zwischen Leben und Tod, zwischen den Zeiten und Orten, die sie in ihrer Agonie halluziniert, die die Erzählstimme des Romans bildet. Die vielschichtige Erzählung, alle Stimmen und Figuren, denen der Leser auf 1.200 Seiten begegnet, sind vermutlich ein Produkt der Erinnerung dieser sterbenden alten Frau, deren Geist sich durch Zeit und Raum bewegt. Der entscheidende Hinweis auf diese gefinkelte Erzählperspektive fällt bereits auf der zweiten Seite. „Und plötzlich, als hätte es einen Schlag getan, sieht Jenta alles von oben (…). Von nun an bleibt es so – Jenta sieht alles.“ Diese Erzählperspektive rückt „Die Jakobsbücher“ in die Nähe des Magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez.

Das Wiederentdecken der Parabel

In ihrer Nobelpreisrede, die sie am Samstag in Stockholm hielt, mahnte Tokarczuk eine „sensible“ Erzählperspektive ein. In der aktuellen Literatur, so die Nobelpreisträgerin, wimmle es vor Ich-Erzählungen. Diese würden die Autonomie als Individuum bekräftigen, aber gleichzeitig eine „Opposition zwischen dem Selbst und der Welt“ errichten.

Bei allen Errungenschaften – politischen wie literarischen – dieser Erzählform, versage sie doch zunehmend dabei, Verbindendes aufzuzeigen. Jenta, die alles sieht und auf alles einen klaren aber wohlwollenden Blick wirft, ist eine „sensible Erzählerin“, wie Tokarczuk sie als verbindendes Erzählmodell vorschlägt. Genau wie Tokarczuk selbst, die in ihrer Rede ausführt, dass Sensibilität „die Kunst des Personifizierens, die Kunst, Gefühle zu teilen und dadurch unendlich Gemeinsamkeiten zu entdecken“, sei.

Literatur müsse die Parabel wiederentdecken, so Tokarczuk. Auch das ist eine Dimension, die Tokarczuk an den „Jakobsbüchern“ exemplarisch vorführt. Die plurale, aber ungleiche Gesellschaft der Adelsrepublik Polen-Litauen ist eine Parabel auf unsere Gegenwart. Auch wir leben in einer Welt, in der Begegnung, Austausch, Intoleranz und Egoismus nebeneinander stehen.

Literatur wie jene von Tokarczuk kann helfen, mit einer erweiterten Perspektive auf diese Gegenwart zu schauen. Die Nobelpreisträgerin ist aber überzeugt, dass es mit Erzählen alleine nicht getan ist. Die bekennende Feministin mischt sich auch politisch ein: Mit einem Teil des Nobelpreisgeldes hat sie gerade eine Stiftung gegründet, die die Beteiligung von Frauen im kulturellen Leben Polens fördern wird.