Vizepräsident des VfGH, Christoph Grabenwarter
APA/Hans Punz
Verfassungswidrig

VfGH kippt Kernpunkte der neuen Sozialhilfe

Das Höchstgericht bringt ein weiteres Prestigeprojekt der gescheiterten ÖVP-FPÖ-Bundesregierung zu Fall. In der Regelung zu den Höchstsätzen für Kinder sieht der VfGH eine „sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien“.

Aufgehoben wurden beide bei der Reform der Mindestsicherung gegen Zuwanderer gemünzten Maßnahmen des neuen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes neu: Sowohl die Verknüpfung mit Sprachkenntnissen wie auch Höchstsätze für Kinder sind laut VfGH verfassungswidrig. Im Grundsatzgesetz selbst sieht der VfGH aber keinen unzulässigen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder. Zwar sei die Gewährung von Leistungen bei sozialer Hilfsbedürftigkeit „an sich Sache der Länder“. „Der Bund ist jedoch zuständig, auf diesem Gebiet Grundsätze für die Landesgesetzgebung aufzustellen“, hieß es am Dienstag.

Auf jene beiden Länder, die das Grundsatzgesetz bereits umgesetzt haben (Niederösterreich und Oberösterreich) hat das Erkenntnis keine unmittelbare Auswirkung – mehr dazu in noe.ORF.at und in ooe.ORF.at. Zwar könnten die Ausführungsgesetze auch verfassungswidrig sein, solange diese durch den VfGH nicht aufgehoben werden, sind sie aber anzuwenden. Für eine allfällige Aufhebung bedarf es jedoch einer neuerlichen Anrufung des VfGH in dieser Frage. Denn von sich aus tätig werden die Verfassungshüter grundsätzlich nicht.

Schlechterstellung von Mehrkindfamilien

In der Regelung zu den Höchstsätzen für Kinder sieht der VfGH eine „sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien“. Das Grundsatzgesetz sieht vor, dass der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung für das erste Kind 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent und für das dritte und jedes weitere Kind fünf Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes beträgt.

Diese Regelung könne dazu führen, „dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist“, heißt es im Entscheid. Gegen die Höchstsätze für Erwachsene, die sich am System der Ausgleichszulage orientieren, haben die Verfassungshüter hingegen keine Bedenken.

Als verfassungswidrig beurteilt der VfGH auch, dass im Grundsatzgesetz der volle Bezug der Sozialhilfe an den Nachweis von Sprachkenntnissen geknüpft ist. Wer nicht nachweist, Deutschkenntnisse auf Niveau B1 oder Englischkenntnisse auf Niveau C1 zu erreichen, dem stehen laut dem Grundsatzgesetz nur 65 Prozent der regulären Leistung zu. Die Differenz von mehr als 300 Euro auf die volle Geldleistung wurde im Gesetz als Sachleistung zum „Arbeitsqualifizierungsbonus für Vermittelbarkeit“ gerechtfertigt. Mit diesem Betrag sollten also Sprachkurse finanziert werden.

Kürzung bei ungenügenden Sprachkenntnissen

Der Grundsatzgesetzgeber habe „schon deshalb eine unsachliche Regelung getroffen, weil keine Gründe ersichtlich sind, weshalb ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll“, heißt es im VfGH-Erkenntnis. „Es ist offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sind.“

Auch lasse der Grundsatzgesetzgeber außer Acht, „dass Personen aus mannigfaltigen Gründen (Lern- und Leseschwächen, Erkrankungen, Analphabetismus uvm.) nicht in der Lage sein können, ein derart hohes Sprachniveau zu erreichen, aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein können“.

VfGH hebt Teile der Mindestsicherungsreform auf

Der Verfassungsgerichtshof hebt die Kernpunkte der von der schwarz-blauen Regierung beschlossenen Mindestsicherungsreform auf.

Verpflichtung zur Datenübermittlung

Auch im Sozialhilfe-Statistikgesetz sehen die Verfassungshüter eine Verfassungswidrigkeit: Die Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten verstößt demnach gegen das Grundrecht auf Datenschutz.

Das Grundgesetz sieht vor, dass „sämtliche Behörden“ verpflichtet sind, den Ländern „die zu Zwecken der Aufrechterhaltung und Vollziehung des österreichischen Sozialhilfewesens erforderlichen Daten“ elektronisch zur Verfügung zu stellen. Diese Regelung lasse offen, welche Behörden im Einzelnen welche Daten zu übermitteln haben, so der VfGH. „Sie verstößt daher gegen § 1 des Datenschutzgesetzes, wonach Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz nur auf Grund von Gesetzen erfolgen dürfen, die ausreichend präzise, also für jedermann vorhersehbar, regeln, unter welchen Voraussetzungen die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Wahrnehmung konkreter Verwaltungsaufgaben erlaubt ist.“

Antrag von 21 SPÖ-Bundesräten

Dass der Bund ein „Grundsatzgesetz“ erlassen hat, ist prinzipiell nicht verfassungswidrig: Es sei dem Bund erlaubt, auch Detailregelungen zu erlassen, sofern diese „Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für das ganze Bundesgebiet zum Gegenstand haben“, hieß es seitens des VfGH. Die Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes würden diese Voraussetzung erfüllen.

Das Einschreiten des VfGH geht auf die Initiative der SPÖ-Bundesräte zurück: Gegen das im Frühjahr 2019 verabschiedete Sozialhilfe-Grundsatzgesetz und das gleichzeitig verabschiedete Sozialhilfe-Statistikgesetz hatten 21 SPÖ-Mitglieder des Bundesrates den VfGH angerufen.

Heinz-Christian Strache und Sebastian Kurz
AP/Ronald Zak
Der VfGH arbeitet derzeit Beschwerden gegen Maßnahmen der einstigen ÖVP-FPÖ-Regierung ab

ÖVP kann „Entscheidung absolut nicht nachvollziehen“

Die einstigen Koalitionspartner, die das Gesetz auf den Weg gebracht haben, zeigten sich weniger erfreut. Der geschäftsführende ÖVP-Klubobmann August Wöginger sagte: „Wir können die Entscheidung absolut nicht nachvollziehen, und sie widerspricht vollkommen unseren politischen Überzeugungen. Aber Entscheidungen des VfGH sind in einem Rechtsstaat, auch wenn man sie inhaltlich ablehnt, endgültig.“

Scharfe Kritik kam von FPÖ-Klubchef Herbert Kickl. „Die Höchstrichter stellen mit dieser Entscheidung den Magnet für unqualifizierte Zuwanderung wieder auf Maximalleistung. Die Argumentation, gute Sprachkenntnisse würden die Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt nicht erhöhen, kann man nur noch als schräg und weltfremd bezeichnen.“

Grüne sehen „guten Tag für die ärmsten Kinder“

Höchstzufrieden dagegen zeigte man sich bei der SPÖ: „Kindern mit 43 Euro pro Monat ihre Zukunft zu rauben ist nicht nur unmenschlich, sondern auch verfassungswidrig“, sagte Parteichefin Pamela Rendi-Wagner. Es sei richtig gewesen, alle Mittel gegen dieses „unsoziale, ungerechte Sozialhilfegesetz“ auszuschöpfen. Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) bezeichnet die Gerichtsentscheidung als „schallende Ohrfeige für Ex-ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz“ – mehr dazu in wien.ORF.at.

Stefan Kaineder, stellvertretender Bundessprecher der Grünen, die sich derzeit in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP befinden, sprach von einem „guten Tag für die ärmsten Kinder in Österreich“. Mit dem Grundsatzgesetz der alten türkis-blauen Regierung sei der notwendige Lebensunterhalt von Familien mit mehreren Kindern nicht mehr gewährleistet gewesen. „Wir werden das Erkenntnis im Detail prüfen und uns mit Expertinnen und Experten beraten, wie nun der Handlungsauftrag für die Politik aussieht.“

NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker sah sich in seiner Skepsis gegenüber der Reform der Mindestsicherung bestätigt. Er plädierte für eine einheitliche, großangelegte und vor allem durchdachte Reform der sozialen Absicherung in Österreich, die mehr Treffsicherheit bringen solle.