Der Ablauf des Brexit-Abends erinnerte stark an Silvester: Auf den Sitz des britischen Premiers in der Londoner Downing Street 10 wurde ein Countdown projiziert. Bei Veranstaltungen wurde darauf gewartet, dass die Anzeige um 23.00 Uhr – Mitternacht in Brüssel – auf null springt. Brexit-Anhänger, vor allem bei einer Veranstaltung vor dem Parlamentsgebäude in London, feierten – in Schottland wurde unterdessen ein Lichtermeer entzündet, um der EU zu signalisieren, dass man für sie „das Licht anlässt“. Britische Fernsehsender zeigten den Countdown – einzig Big Ben blieb am Abend des Brexits still.
Zuvor hatte sich Premier Johnson in einem Video an die Bevölkerung gewandt. „Das ist kein Ende, sondern ein Anfang. Das ist der Moment, wenn das Morgengrauen anbricht und der Vorhang für einen neuen Akt aufgeht. (…) Trotz aller Stärken und bewundernswerter Qualitäten hat sich die EU in eine Richtung entwickelt, die nicht mehr zu diesem Land passt. Zu diesem Schluss ist die Bevölkerung gekommen“, so Johnson.
Er wolle sich dafür starkmachen, regionale Unterschiede auszugleichen. Außerdem sei nun die Zeit „für die größte Wiederbelebung der Infrastruktur seit dem viktorianischen Zeitalter“, sagte Johnson. Man wolle künftig die Kraft der „unabhängigen Gedanken und Taten“ nutzen. Egal auf welche Hürden man stoßen werde, Johnson sei überzeugt, dass man sie überwinden könne.
Ausstieg mit viel Symbolik
Der „Brexit Day“ war vor allem von Symbolik geprägt: Für Premier Johnson und sein Kabinett startete der Tag in Sunderland – jener Stadt, die sich mit deutlicher Mehrheit für den EU-Ausstieg entschied und die bei der Verkündung der Ergebnisse im Jahr 2016 als Erste genannt wurde. Seiner Regierung teilte Johnson mit, dass es an der Zeit sei, ein „neues Kapitel in der Geschichte Großbritanniens“ zu beginnen.
In Brüssel wurden am Nachmittag die ersten Zeichen der Veränderung sichtbar: Die EU-Fahne wurde an der britischen Botschaft abmontiert, die britische Fahne wurde – ohne Zeremoniell und Medientrubel – wenig später aus den Gebäuden der Europäischen Union entfernt. Die bisherige Vertretung Londons bezeichnet sich ab Samstag nur noch als britische Mission in Brüssel. Am Sitz der schottischen Regierung in Brüssel wurde dagegen am Freitag eigens die Europafahne gehisst. Mittlerweile wurde auch die Website der EU geändert – dort ist etwa nur noch von 27 Mitgliedsländern die Rede.
Brexit-Befürworter und -Gegner gingen auf die Straße
Einmal mehr zeigte sich am Tag des Austritts in London, dass sich die Britinnen und Briten in der Frage des Brexits immer noch nicht einig sind. Auf der einen Seite die EU-Befürworter, die auf Schildern „We’ll be back“ (Dt.: „Wir werden wiederkommen“) verkündeten. Auf der anderen Seite die Brexit-Anhänger, die ihre Souveränität feierten. Die Veranstaltungen zum „Brexit Day“ deckten das gesamte Meinungsspektrum ab und wurden in vielen Teilen Großbritanniens gehalten.
Großbritanniens letzte Momente in der EU
In London versammelten sich zahlreiche Menschen, um den Brexit zu feiern. (Videoquelle: APTN)
Unterstützung bekamen zumindest die Brexit-Befürworter auch von der Politik: Am Abend lud der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, zu einer „Leave Means Leave“-Feier vor dem Parlament in Westminster. Schon kurz vor Beginn kam es dabei zu unschönen Szenen: Erwachsene animierten Kinder am Freitagabend, auf EU-Flaggen auf dem matschigen Boden zu springen, und klatschten Beifall. Etliche Teilnehmer waren betrunken und stürzten, obwohl auf dem Parliament Square Alkohol verboten ist.
Verhandlungen wohl schon ab Februar
Mit dem offiziellen Ausstieg Großbritanniens aus der EU wird nun ein vorläufiger Schlussstrich unter den Brexit gesetzt. Am 23. Juni 2016 entschieden sich 52 Prozent der Britinnen und Briten für den EU-Ausstieg – ursprünglich wollte man schon im Frühling 2019 ausscheiden, letztendlich wurde der Termin mehrmals auf den 31. Jänner 2020 verschoben.
Der nun vollzogene Abschied aus Brüssel ist vor allem symbolischer Natur – für Bürgerinnen und Bürger ändert sich vorerst praktisch nichts. Und noch im Februar werden London und Brüssel wohl über ihre künftige Beziehung zueinander beraten. Es ist davon auszugehen, dass hier nach der Trennung durchaus wieder Nähe zueinander gesucht wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen.
Von der Leyen: „Keine Rosinenpickerei“
„Wir gehen in diese Verhandlungen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem gemeinsamen Auftritt mit EU-Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli am Freitag. Mit gutem Willen werde man eine „dauerhafte, positive und sinnvolle Partnerschaft“ aufbauen können, schrieben die zwei Präsidenten und die Präsidentin in einem Gastbeitrag, der in vielen europäischen Zeitungen erschien. Aber: „Ohne gleiche Wettbewerbsbedingungen bei Umwelt, Arbeit, Steuern und staatlichen Beihilfen kann es keinen qualitativ uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt geben.“
Ein hartes Ringen ist absehbar. Johnson will sein Land offenbar von der Anbindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn das Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, will er nach einem Bericht des „Telegraph“ nächste Woche als Ziel ausgeben. Ein Regierungssprecher bestätigte auf Anfrage der dpa, dass Johnson seine Verhandlungsziele bereits am Montag in einer Rede darlegen will. Von der Leyen sagte am Freitagabend im ZDF: „Wir werden sehr fair verhandeln, aber sehr hart.“ Es werde „keine Rosinenpickerei“ geben.
Im Hinblick auf künftige Abkommen meldete sich unmittelbar nach dem Ausstieg Großbritanniens auch US-Außenminister Mike Pompeo zu Wort. Man werde weiterhin auf die „starke, produktive und erfolgreiche Beziehung mit Großbritannien“ bauen, während das Land „dieses nächste Kapitel“ begehe, so Pompeo.
Brexit leicht verständlich
Der ORF Teletext bietet zum Austritt Großbritanniens aus der EU eine Brexit-Spezial-Ausgabe in leicht verständlicher Sprache – die Meldungen dazu in teletext.ORF.at (B1) und in teletext.ORF.at (A2).
Auch innenpolitische Hürden
Neben dem enormen Unterfangen, das in den Gesprächen mit Brüssel auf Johnson und dessen Regierung wartet, steht der britische Premier auch innenpolitisch vor Hürden. Schon am Freitag sagte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon, dass ein unabhängiges Schottland eine „andere, bessere“ Zukunft vor sich habe. Man wolle eine Mehrheit in Schottland davon überzeugen, so Sturgeon im Hinblick auf ein mögliches weiteres Unabhängigkeitsreferendum.
Und auch die Grenze zwischen Irland und Nordirland wird weiter für Diskussionen sorgen. Erst am Freitag gab es Proteste in Belfast und Forderungen nach einem Referendum über eine irische Wiedervereinigung.
Endgültige Trennung am 31. Dezember?
Für eine Einigung haben London und Brüssel nun bis 31. Dezember Zeit. Viele Fragen, die bisher nicht geklärt wurden, müssen bis dahin besprochen und idealerweise gelöst werden. Die Übergangsphase könnte theoretisch bis 2022 verlängert werden, Johnson schloss das jedoch bereits aus. Geht man nach dem bisherigen Ablauf des Brexits, ist der 31. Dezember 2020 aber jedenfalls nicht in Stein gemeißelt.