EU-Verhandler Michel Barnier
APA/AFP/John Thys
Nach Brexit

Keine Atempause für EU-Verhandler Barnier

„Ein emotionaler Tag“: Mit diesen Worten hat sich der Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Kommission am Freitag kurz vor dem um Mitternacht (MEZ) erfolgten britischen EU-Austritt noch einmal zu Wort gemeldet. Für wehmütige Rückblicke auf den wohl beispiellosen, rund dreieinhalbjährigen Verhandlungsmarathon mit den Briten bleibt Michel Barnier aber keine Zeit – mit Wochenbeginn geht es vielmehr in die nächste Runde.

„Es ist nun an der Zeit, den Blick nach vorne zu richten“, so Barnier, der bereits am Samstag via Twitter die nächsten Schritte bei den nun anstehenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel ankündigte.

Die Dienste des seit 2016 amtierenden Brexit-Chefunterhändlers sind vonseiten der EU-Kommission jedenfalls auch weiter gefragt. „Eines ist klar: Die Interessen eines jeden Mitgliedsstaats und all unserer Bürger stehen an erster Stelle“, wie der Franzose in diesem Zusammenhang sagte. Auch Atempause gibt es für Barnier keine: Bereits am Montag will er in Brüssel erste Details zu möglichen Verhandlungszielen und Forderungen der Europäischen Union vorstellen.

„Riesige Herausforderung“

Großbritannien war in der Nacht auf Samstag aus der EU ausgetreten. In einer Übergangsperiode bis Jahresende ändert sich im Alltag praktisch nichts. Innerhalb der Frist müssen die beiden Seiten aber klären, wie es im Handel und bei der Zusammenarbeit in anderen Politikfeldern danach weiter geht. Die EU bedaure den Brexit und sei stolz auf gemeinsam Erreichtes, heißt es in dem von Barnier getwitterten Video. „Aber unsere Loyalität gilt in erster Linie den EU-Bürgern.“

Am Montag will sich auch der britische Premier Boris Johnson in einer Rede zu seinen Verhandlungszielen äußern. Von britischer Seite sollen die Gespräche von einer Taskforce unter der Leitung des britischen Chefunterhändlers David Frost geführt werden.

Barnier bezeichnete die anstehenden Verhandlungen mit London zuletzt bei einer Rede an der Queen’s Universität in Belfast als eine „riesige Herausforderung“. Mit Blick auf die – nach derzeitigem Stand – Ende des Jahres auslaufende Übergangsphase zeigte sich auch Barnier skeptisch, ob alle offenen Fragen bis dahin geklärt werden können. Die Zeit dafür sei „extrem kurz“, aber: „Eine neue Uhr tickt.“

Die nächsten Stichtage

So wie bei den Austrittsverhandlungen gibt es auch für die nun anstehenden Verhandlungen mehrere Stichtage. Bis zum 1. Juli muss die britische Regierung etwa entscheiden, ob sie die Verhandlungsphase für das Handelsabkommen über Ende 2020 hinaus verlängert. Nach den Bestimmungen im Austrittsvertrag ist das einmal für ein oder zwei Jahre möglich – also bis Ende 2021 oder Ende 2022. Johnson hat eine Verlängerung aber bereits kategorisch ausgeschlossen und das auch in das britische Austrittsgesetz schreiben lassen.

Ohne Verlängerung müssen die Verhandlungen dann bis Oktober abgeschlossen sein, um die Vereinbarung noch zu ratifizieren. Geht es um ein reines Handelsabkommen, muss auf EU-Seite nur das Europaparlament zustimmen. Sind aber auch Bereiche wie Dienstleistungen, Finanzgeschäfte, Daten- und Investitionsschutz enthalten, könnte auch das grüne Licht der nationalen und – je nach Mitgliedstaat – sogar der regionalen Parlamente nötig sein.

Mit dem für 31. Dezember 2020 anvisierten Ende der Übergangsphase steht dann der britische Abschied vom EU-Binnenmarkt und der Zollunion an. Damit wären die letzten direkten Verbindungen aus 47 Jahren britischer Mitgliedschaft in der europäischen Staatengemeinschaft endgültig gekappt.

Johnson denkt über „lockere Handelsbeziehungen“ nach

Ob bis dahin ein Abkommen erreicht werden kann, scheint Beobachtern zufolge mehr als fraglich, zumal sich beide Seiten bereits im Vorfeld der Verhandlungen hart geben. Johnson will mit der EU ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild Kanadas, das Zölle und Mengenbeschränkungen weitgehend eliminiert. Brüssel verlangt im Gegenzug einheitliche Standards für Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte und staatliche Wirtschaftshilfen. Doch das kommt für Johnson offenbar nicht infrage. Souveränität steht über reibungslosem Handel, lautet nach Informationen des „Telegraph“ das Credo des Premierministers.

Die britische Regierung schließt einem Insider zufolge auch nicht aus, künftig relativ lockere Handelsbeziehungen zur EU zu unterhalten. Premierminister Boris Johnson prüfe die Option eines Handelsabkommens nach dem Vorbild der Vereinbarungen zwischen der EU und Australien, sagte ein Regierungsvertreter. „Es gibt nur zwei voraussichtliche Verhandlungsergebnisse – ein Freihandelsabkommen wie mit Kanada oder eine lockerere Vereinbarung wie mit Australien – und wir gehen beiden gerne nach.“ Mit Australien führt die EU seit 2018 Gespräche über ein Freihandelsabkommen, sie sind noch nicht abgeschlossen.

„Sehr fair, aber sehr hart“

„Wir werden sehr fair verhandeln, aber sehr hart“, kündigte indes EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an. Zudem wolle man alle strittigen Punkte der künftigen Beziehungen nur im Paket vereinbaren. Dazu gehören nicht nur die Handelsbeziehungen, sondern zum Beispiel auch Fischereirechte und die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. „Erst wenn alles durchverhandelt ist, machen wir den Sack zu“, so von der Leyen.

„Always look on the bright side of life“

EU-Ratspräsident Charles Michel versuchte es am Tag nach dem Brexit mit einer humorvollen Einstimmung auf die anstehenden Verhandlungen. „Always look on the bright side of life“ – immer positiv bleiben, zitierte der Belgier auf Twitter die britische Komikertruppe Monty Python mit Hinweis auf die neuen, nun im Eiltempo zu klärenden Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien.

Am Tag nach dem Brexit mangelte es aber auch nicht an Warnungen. „Wenn wir am Ende des Jahres keinen Vertrag fertig haben“, dann habe es die britische Wirtschaft „sehr schwer, ihre Waren rüber zu liefern, zu uns zum europäischen Markt“, sagte etwa von der Leyen: Denn dann wäre Großbritannien nur „wie irgendein Drittland“.

Doch auch europäischen Unternehmen dürfte ein Scheitern der Gespräche teuer zu stehen kommen. Wie der „Telegraph“ berichtete, plant die britische Regierung nun offenbar doch, vollständige Kontrollen für EU-Waren einzuführen, sollte kein Abkommen zustande kommen. Bisher hatte es immer geheißen, Großbritannien werde selbst im Fall eines „No Deal“ auf Kontrollen verzichten, um Verzögerungen in der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu vermeiden.

Prodi rechnet mit Rückkehr in die EU

Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi rechnet indes mit einer reuigen Rückkehr Großbritanniens in die EU. „Ich bin überzeugt, dass die Briten Probleme haben und in 15 oder spätestens 20 Jahren wieder zurückkehren werden“, sagte Prodi laut Medienangaben vom Samstag bei einer Veranstaltung in Turin. Gleichzeitig verwies Prodi auf die zentrale Rolle Großbritanniens für Europa – die Beziehungen zum Vereinten Königreich seien aus Sicht des Kommissionschefs der Jahre 1999 bis 2004 aber immer schon schwierig gewesen.