Frau zündet eine Kerze an
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„Brutaler Akt“

Entsetzen nach Terror in Hanau

Nach dem mutmaßlich rechtsradikal motivierten Terrorakt mit insgesamt elf Toten in Hanau herrscht in Deutschland Schock, Wut und Trauer. Zahlreiche Menschen, darunter etliche Politikerinnen und Politiker, versammelten sich am Donnerstag bei Mahnwachen, bei denen zu Zusammenhalt aufgerufen wurde. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte die Tat dabei einen „brutalen Akt terroristischer Gewalt“.

Er richtete einen Appell gegen Hass und Hetze an die Anwesenden. Die Gesellschaft müsse „einig sein gegen Hass, Rassismus und Gewalt“, so Steinmeier auf dem Marktplatz der 100.000-Einwohner-Stadt Hanau. Er rief die Bürger zu gelebter Rücksichtnahme und Solidarität auf. Das sei das „stärkste Mittel gegen den Hass“, sagte er. „Halten wir dagegen, wenn Einzelnen oder Minderheiten in unserem Land die Würde genommen wird“, mahnte er. „Achten wir auf unsere Sprache in der Politik, in den Medien, überall in der Gesellschaft.“

Zuvor hatte der Bundespräsident die beiden Bars besucht, die am Vorabend zu Zielen des Anschlags geworden waren. Der 43-jährige Tatverdächtige Tobias R. hatte Mittwochabend in zwei Shisha-Bars neun Menschen mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 21 und 44 Jahren erschossen. Fünf Personen waren türkische Staatsbürger. Unter den Toten ist auch ein Bulgare, Medienberichten zufolge lebte der Mann seit zwei Jahren in Deutschland. Er habe erst vor wenigen Tagen angefangen, in einer der Bars zu arbeiten.

Mahnwache in Hanau
AP/Martin Meissner
Mehrere hundert Menschen versammelten sich in Hanau

Laut Generalbundesanwalt Peter Frank wurden sechs weitere Personen verletzt – eine davon schwer. Nach den Schüssen fuhr der mutmaßliche Täter in seine Wohnung. Stunden später fand ein Sondereinsatzkommando in der Wohnung die Leichen des Deutschen und seiner bettlägerigen 72-jährigen Mutter. Auswertungen von Videobotschaften und eines Manifests hätten ergeben, dass er eine „zutiefst rassistische Gesinnung“ hatte. Diese hätten auch wirre Gedanken und abstruse Verschwörungstheorien enthalten.

Anschlag in Hanau

Im hessischen Hanau starben Mittwochnacht elf Menschen, darunter der mutmaßliche Täter und seine Mutter, die tot in einer Wohnung aufgefunden wurden.

„Politik, die sich auf dem rechten Auge blind stellt“

Der mutmaßliche Terroranschlag reiht sich in eine Serie rechtsextremer Gewalt in Deutschland ein. Erst kürzlich wurde eine Terrorzelle ausgehoben, die laut Medienberichten Massaker an Moscheen in zehn deutschen Bundesländern geplant haben soll. Vor Kurzem sorgten zudem der Terrorangriff auf eine Synagoge in Halle sowie der mutmaßlich rechtsextrem motivierte Mord an dem Politiker Walter Lübcke für Schock.

Polizisten am Tatort
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Einer der Tatorte in Hanau

Umso eindringlicher fielen am Donnerstag die Appelle an die Politik aus. Der Jüdische Weltkongress sprach von einer besorgniserregenden steigenden Gewalt gegen Minderheiten in Deutschland. Es müsse mehr zu deren Schutz getan werden. Auch die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland prangerte Versäumnisse des Staates im Kampf gegen rechte Gewalt an.

„Wütend sind wir, weil die politischen Verantwortlichen in diesem Land sich rechten Netzwerken und Rechtsterrorismus in diesem Land nicht entschieden entgegenstellen“, so der Dachverband. „Der NSU, der Anschlag von Halle, der Mord an Walter Lübcke und nun der Terroranschlag in Hanau sind das Ergebnis einer staatlichen Politik, welche sich auf dem rechten Auge blind stellt.“ Mehrere Opfer sollen Kurden gewesen sein.

AfD-Debatte kocht wieder hoch

Dabei kochte auch die Debatte über die AfD wieder hoch. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer wertete die Tat als Beleg dafür, dass die CDU und andere Parteien nicht mit der AfD zusammenarbeiten dürfen. „Das sind geistige Brandstifter“, sagte auch SPD-Vize Hubertus Heil. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil bezeichnete die AfD als „politischen Arm der extremen Rechten“. Der Bewerber um den CDU-Vorsitz, Norbert Röttgen, sagte der „Bild“-Zeitung: „Wir müssen das Gift bekämpfen, das von der AfD und anderen in unsere Gesellschaft getragen wird.“

Frank-Walter Steinmeier
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Bundespräsident Steinmeier bei der Mahnwache

AfD-Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland wies die Vorwürfe einer indirekten Mitverantwortung zurück. „Ich halte es für schäbig, in der Phase so etwas zu instrumentalisieren“, sagte Gauland. „Man kann nicht etwas instrumentalisieren, was so furchtbar ist und wo wir nicht wissen im Moment, was diesen offensichtlich völlig geistig verwirrten Täter bewogen hat, so zu handeln.“

Merkel: „Rassismus ist ein Gift“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte bereits zuvor betont: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft, und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen, von den Untaten des NSU über den Mord an Walter Lübcke bis zu den Morden von Halle.“ Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) kamen am Donnerstag nach Hanau. Seehofer will er darüber beraten, wie die Sicherheit insbesondere bei öffentlichen Veranstaltungen in den nächsten Tagen gewährleistet werden könne.

Christine Lambrecht (SPD), Peter Beuth (CDU), Hessischer Innenminister, Horst Seehofer (CSU) und Volker Bouffier (CDU)
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Justizministerin Lambrecht (li.) und Innenminister Seehofer besuchten am Donnerstag Hanau

Zahlreiche Politiker und Politikerinnen nahmen auch an einer Mahnwache in Berlin teil. Beim Brandenburger Tor bildeten Dutzende Personen eine große Menschenkette. Einige hielten Kerzen in den Händen und legten Blumen an dem Bauwerk ab. Vereinzelt waren Europaflaggen zu sehen. Auf einem Schild stand zu lesen: „Wir trauern um die Opfer von Hanau, Halle, Kassel, Mölln etc. Stoppt Hass und Hetze in den asozialen Medien.“

Auch international gab es zahlreiche Reaktionen, so zeigten sich etwa EU-Ratspräsident Charles Michel und Kanzler Sebastian Kurz erschüttert: „Es zeigt uns auch, dass es wichtig ist, dass wir in Europa gegen alle Formen radikalen Gedankenguts ankämpfen“, so Kurz. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen verurteilte „eine solche verabscheuungswürdige Tat“ auf das Schärfste.

Ermittler suchen potenzielle Mitwisser

Parallel zur politischen Debatte gehen die Ermittlungen zu dem Terrorakt weiter. Geprüft werden mögliche Mitwisser und Auslandskontakte des 43-Jährigen. Dafür werden das Umfeld und die Kontakte des Mannes im In- und Ausland abgeklärt, erklärte der deutsche Generalbundesanwalt Peter Frank am Donnerstag.

Der Deutsche hatte offenbar auch Mail-Kontakt mit einem Niederösterreicher. In einem 24-seitigen Manifest schrieb der Deutsche über einen österreichischen Staatsbürger, der ihm empfohlen worden sei, nachdem er sich selbst „in den Fängen einer Geheimorganisation“ gesehen hatte. Der Niederösterreicher bestätigte den Kontakt – und dass er gemerkt habe, dass der Mann „nicht alle Tassen im Schrank“ gehabt habe – mehr dazu in noe.ORF.at.

Es sei aber falsch, den Täter von Hanau als „psychisch kranken Einzeltäter“ zu bezeichnen, meinte Timo Rheinfrank von der Berliner Amadeo-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert: „Der Täter mag eine psychische Erkrankung haben, aber vertritt ein geschlossenes rechtsextremes und rassistisches Weltbild, in dem verschwörungsideologische Elemente besonders ausgeprägt sind.“ Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) gibt es keine Hinweise auf Verbindungen zu der am Freitag aufgeflogenen rechten Terrorzelle. Es gebe bisher auch keine Hinweise auf Verbindungen zu anderen rechtsextremen Netzwerken.

Brief an Generalbundesanwalt geschickt

Bis zu der Gewalttat am Mittwochabend war der 43-Jährige laut Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) nicht im Visier der Polizei. Er habe eine Waffe legal besessen und sei Sportschütze gewesen. Noch im vergangenen Jahr wurde er laut „Spiegel“ wegen des Waffenbesitzes routinemäßig kontrolliert. Dabei sollen keine Auffälligkeiten festgestellt worden sein. Laut dem Schützenverein Diana Bergen-Enkheim, in dem R. Mitglied war, sei dieser ein „eher ruhiger Typ“ gewesen, der in keiner Weise auffällig geworden sei – auch nicht im Hinblick auf „ausländerfeindliche Sprüche“.

Allerdings dürfte R. den deutschen Behörden bekannt gewesen sein. Der „Presse“ liegt offenbar ein Dokument vor, dass der mutmaßliche Täter von Hanau bereits im November 2019 in einem Brief an den Generalbundesanwalt beim deutschen Bundesgerichtshof in Karlsruhe gegen eine „unbekannte geheimdienstliche Organisation“ Strafanzeige erstattet habe. Dieses Dokument decke sich inhaltlich weitgehend mit dem Manifest, das nun bekannt geworden ist – allerdings mit abgemilderten ausländerfeindlichen Passagen.

YouTube-Video blieb nach Tat stundenlang online

Nur wenige Tage vor dem Attentat hatte der Deutsche auf seiner Website und einem YouTube-Kanal Dokumente hochgeladen wie etwa eine „Botschaft an das gesamte deutsche Volk“. Laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ ging R. aber offenbar davon aus, dass er nicht mehr am Leben sein würde, wenn das Schreiben an die Öffentlichkeit käme. In dem YouTube-Video sprach er in fließendem Englisch von einer „persönlichen Botschaft an alle Amerikaner“. Das Video wurde offensichtlich in einer Privatwohnung aufgenommen.

Kranz am Tatort in Deutschland
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In Hanau herrscht Trauer. Am Abend soll eine Mahnwache stattfinden

Darin breitet der Mann eine wirre Verschwörungstheorie aus, wonach in den USA unterirdische Militäreinrichtungen existierten, in denen Kinder misshandelt und getötet würden. Dort würde auch dem Teufel gehuldigt. Amerikanische Staatsbürger sollten aufwachen und gegen diese Zustände „jetzt kämpfen“, so der offenbar geistig schwer Verwirrte. Dieses Video blieb auch stundenlang nach der Tat noch online.