Marineschiff im Hafen von Lesbos
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Griechenland

Hunderte sollen auf Schiff unterkommen

Die Lage der Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten in Griechenland spitzt sich täglich weiter zu. Athen will nun Hunderte Menschen auf einem Marineschiff vor Lesbos einquartieren, bis neue Unterkünfte stehen. Die Grenze zur Türkei wurde erneut zum Schauplatz von Unruhen zwischen Grenzbeamten und Geflüchteten. Zwischen Athen und Ankara entwickelt sich eine Propagandaschlacht.

Am Mittwoch traf bei der Insel Lesbos das Marineschiff ein, auf dem die griechische Regierung 400 bis 500 Geflüchtete unterbringen will. Unter jenen, die in den vergangenen Tagen auf der Ägäis-Insel ankamen und nun im Hafen ausharren, sind viele Familien mit kleinen Kindern, wie ein Vertreter des Verteidigungsministeriums in Athen sagte. Sie sollen seinen Angaben zufolge auf dem Marineschiff untergebracht werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen sie in ein geschlossenes Camp auf dem Festland gebracht werden, danach in ihre Herkunftsländer ausgewiesen werden.

Unbekannte verbreiten immer wieder Gerüchte, wonach Schiffe alle Geflüchteten aus Lesbos zum Festland bringen sollen. Am Dienstagnachmittag verdrängte die Polizei Hunderte Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten aus dem Hafen der Inselhauptstadt Mytilini. Sie hatten den Gerüchten geglaubt und waren mit ihren Kindern zum Hafen gekommen.

Flüchtling erschossen? Athen dementiert

Auf Lesbos befindet sich das für weniger als 3.000 Menschen ausgelegte Flüchtlingslager Moria. Dort leben nun mehr als 19.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Seit der türkischen Grenzöffnung zur EU in der vergangenen Woche haben Tausende weitere Menschen versucht, die türkisch-griechische Grenze zu passieren. Athen setzt seine Entscheidung in die Tat um, Asylanträge neuer Migranten nicht zu bearbeiten und sie so schnell wie möglich auszuweisen. Seit dem Wochenende hinderten griechische Grenzschützer mehr als 24.000 Menschen am Übertreten der Grenze.

ORF-Korrespondent an griechisch-türkischer Grenze

Alexander Kofler (ORF) berichtet von der Situation an der griechisch-türkischen Grenze.

Dabei kommt es immer wieder zu Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze. Fernsehbilder zeigten von der griechischen Seite aus am Mittwoch, wie hinter dem Grenzzaun Hunderte Menschen nach einem Durchkommen suchten. Ein Migrant wurde laut Korrespondenten der Nachrichtenagentur AFP in der Nähe des türkischen Grenzübergangs Pazarkule durch Schüsse verletzt. Türkische Behörden gaben an, ein Mensch sei gestorben – die griechische Regierung dementierte das als Falschmeldung. Griechenland warf der Türkei wiederum vor, bei den Migranten vor der Grenze handle sich um eine organisierte, konzertierte Aktion.

Die Menschen würden gezielt mit Bussen von türkischen Städten aus an die Grenze gebracht und per Kurzmitteilungen über die angeblich offene Grenze informiert. Zudem seien von türkischer Seite aus Tränengasgeschoße des türkischen Militärs eingesetzt worden. Ein griechischer Soldat sagte der dpa, die Tränengaskartuschen trügen Aufdrucke des türkischen Militärs. Er könne jedoch nicht sagen, ob sie von Migranten oder dem Militär beziehungsweise türkischen Bereitschaftspolizisten abgefeuert worden seien, wie derzeit in griechischen Medien berichtet wird.

Abkommen zwischen EU und Türkei seit 2016

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte verkündet, Geflüchtete nun in die EU zu lassen. Die Türkei beherbergt Millionen Menschen, die durch den Bürgerkrieg in Syrien vertrieben wurden oder geflohen sind. Die Türkei ist in Syrien selbst eine Partei im Bürgerkrieg. Heftig umkämpft ist die letzte große Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten Syriens. Dort sind syrische Regierungstruppen mit russischer Unterstützung auf dem Vormarsch. Erdogan geriet wegen seiner Syrien-Politik deutlich unter Druck. Die Türkei befürchtet einen weiteren Ansturm und beklagt mangelnden Einsatz der internationalen Gemeinschaft.

Migranten im Hafen von Lesbos
AP/Panagiotis Balaskas
Im Hafen von Lesbos harren die Menschen seit Tagen aus

Im Jahr 2016 hatte sich Ankara mit dem EU-Türkei-Abkommen unter anderem dazu verpflichtet, gegen illegale Migration in die EU vorzugehen. Außerdem sieht der Deal vor, dass Griechenland illegal auf die Ägäis-Inseln gelangte Migranten zurück in die Türkei schicken kann. Im Gegenzug übernimmt die EU für jeden Zurückgeschickten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei und unterstützt das Land finanziell bei der Versorgung der Flüchtlinge. Erdogan wirft der EU vor, ihre Versprechen nicht eingehalten zu haben – die EU weist das zurück.

Erdogan stellt Bedingungen

Erdogan stellte der EU Bedingungen für eine Lösung des Flüchtlingsstreits. Der „Migrationsstrom“ werde so lange anhalten, bis in Syrien eine neue Verfassung ausgearbeitet und freie Wahlen abgehalten werden könnten. „Wenn die Länder Europas die Probleme lösen wollen, müssen sie die politische und humanitäre Lösung, die die Türkei in Syrien zu realisieren versucht, unterstützen“, sagte Erdogan. Er hoffe, dass die EU durch die aktuellen Entwicklungen die „Wahrheit“ erkenne, fügte er hinzu. Details dazu, wie die Unterstützung aussehen könnte, nannte er nicht.

Er warf der EU auch Menschenrechtsverletzungen vor. Alle europäischen Länder, die ihre Grenzen für Flüchtlinge geschlossen hätten und versuchten, sie durch Schläge, ein Versenken ihrer Boote oder sogar Schüsse zurückzudrängen, „treten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit Füßen“, sagte Erdogan.

Sechspunkteplan für Griechenland

EU-Ratschef Charles Michel und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell fuhren am Mittwoch nach Ankara, um zu erörtern, ob das Abkommen mit Erdogan noch zu retten ist. Borrell forderte nach seinem „langen und ertragreichen“ Gespräch mit Erdogan die Türkei auf, Migranten nicht weiter zu ermutigen, sich zur Grenze aufzumachen. Die Situation dort sei „inakzeptabel“. Borrell sagte zudem, es würden zusätzlich 170 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Syrien bereitgestellt.

Von dieser Summe sollten 60 Millionen für Hilfsmaßnahmen im Nordwesten des Bürgerkriegslandes sein. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu schrieb auf Twitter, er habe im Gespräch mit Borrell deutlich gemacht, dass die EU ihre Versprechungen gegenüber der Türkei nicht einhalte und dass Europa Verantwortung übernehmen müsse.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
APA/AFP/Adem Altan
Erdogan warf der EU am Mittwoch Menschenrechtsverletzungen vor

EU-Innenminister beraten über Sechspunkteplan

Die EU-Kommission will Griechenland nun mit einem Sechspunkteplan bei der angespannten Migrationslage helfen. Diesen Plan wolle man am Mittwochabend beim Krisentreffen der EU-Innenminister in Brüssel vorlegen, sagte Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas. „Wenn Europa getestet wird, können wir beweisen, dass wir die Stellung halten und unsere Einheit siegen wird“, sagte Schinas.

Das Papier sieht unter anderem vor, dass die EU-Asylagentur 160 Experten der EU-Staaten nach Griechenland entsendet. Die Grenzschutzagentur Frontex soll außerdem ein neues Programm für schnelle Rückführungen für jene Menschen auflegen, die nicht in Griechenland bleiben dürfen. Zudem müsse die EU sich besser mit den Westbalkan-Staaten abstimmen.

Schallenberg: Scharfe Kritik an Erdogan

Angesichts der überfüllten Lager in Griechenland rief EU-Innenkommissarin Ylva Johansson zu Hilfe für Minderjährige auf. Die Situation sei schon besorgniserregend gewesen, bevor zuletzt noch mehr Migranten angekommen seien, sagte die Schwedin am Mittwoch in Brüssel. Das erfordere weitere Hilfe – insbesondere für Kinder und unbegleitete Minderjährige.

ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg kritisierte die türkische Flüchtlingspolitik scharf. Präsident Erdogan betreibe „Stimmungsmache“ gegen Griechenland in Form eines PR-Krieges. Erdogans Vorgehen der vergangenen Tage bezeichnete Schallenberg als „zynisches, staatlich organisiertes Schlepperwesen“. Die derzeitige Situation sei „ganz bewusst von türkischer Seite ausgelöst und provoziert“ worden, so der Außenminister. Menschen seien „unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mit Missinformation und ‚Fake News‘“ dazu gebracht worden, sich in Bewegung zu setzen. Von seinen griechischen Ministerkollegen sei ihm am Dienstag in Athen davon berichtet worden, dass die türkische Küstenwache teilweise Flüchtlingsboote sogar bis in internationale Gewässer eskortiere.

Kurz: Keine weiteren Aufnahmen

Österreichs Regierung beschloss am Mittwoch, drei Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds für die syrische Krisenregion Idlib bereitzustellen. Auch der Assistenzeinsatz im Burgenland wurde verlängert. Österreich werde aber keine Menschen aufnehmen, so Kurz am Mittwoch. „Unsere Linie als Bundesregierung ist klar, nämlich keine zusätzliche freiwillige Aufnahme in Österreich“, sagte Kurz bei einem Medientermin mit den Sozialpartnern zum Coronavirus in Wien. „Österreich ist unter den am stärksten belasteten Ländern der Europäischen Union. Es gibt kaum ein Land weltweit und schon gar nicht in Europa, das pro Kopf mehr Flüchtlinge aufgenommen hat“, so Kurz.

„Insofern plädiere ich dafür, dass wir zunächst einmal die gut integrieren, die jetzt schon hier sind. Wir haben zum Beispiel 30.000 arbeitslose Asylberechtigte, wo es gut wäre, die in den Arbeitsmarkt zu bringen.“ Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ergänzte in einer Stellungnahme gegenüber der APA, dass Österreich „2020 bereits 1.000 Frauen und Kinder neu ins Asylverfahren aufgenommen“ hat.

Vor dem Treffen der Innenminister in Brüssel sagte Nehammer am Abend, er erwarte „ein klares Signal für einen robusten Außengrenzschutz“. Daher müssten insbesondere Griechenland, aber auch Bulgarien unterstützt werden. Österreich sei bereit, mehr Polizisten zu entsenden und materielle und finanzielle Hilfe zu leisten. Einer Aufnahme von Asylsuchenden erteilte auch er eine Absage. Dass Griechenland Asylverfahren temporär aussetzt, verteidigte Nehammer, ebenso wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU). Griechenland habe eine Maßnahme ergriffen, um sich und die EU-Außengrenze zu schützen.

Van der Bellen: „Kann uns nicht kaltlassen“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte am Dienstagabend im ORF-„Report“ gesagt, dass Österreich in der aktuellen Flüchtlingskrise in der Türkei bzw. Griechenland sich „in bestimmtem Ausmaß“ an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen solle. Kinder und Frauen sollten dabei Priorität haben, sagte er und äußerte Unterstützung für die Haltung von Grünen-Chef Werner Kogler. Solange zumindest auf den ersten Blick ein Asylgrund gegeben sei, sollte Österreich Flüchtlinge aufnehmen.

Am Mittwoch bekräftigte Van der Bellen seinen Standpunkt bei einem Besuch im „Haus der Menschenrechte“ in Linz. „Wir erleben immer wieder, dass Kinder auf der Flucht sind – und zwar allein auf der Flucht“, so Van der Bellen. Die erste Priorität müsse daher sein, „die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus den völlig überlasteten Lagern auf Lesbos und den griechischen Inseln herauszubekommen und diesen traumatisierten Kindern zum Beispiel in Österreich zu ermöglichen, ein neues Leben zu beginnen“. In zweiter Linie denke er an Frauen mit Kindern aus Kriegsgebieten, wo der Mann oder Vater gestorben sei. „Das kann uns auch nicht kaltlassen.“