Frau auf dem Frankfurter Flughafen
APA/dpa/Andreas Arnold
Coronavirus

Deutschland übt sich in Zurückhaltung

Wochenlang war von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) öffentlich kein Wort über die Coronavirus-Epidemie zu vernehmen. Am Mittwoch brach sie ihr Schweigen: „Wir werden alles Nötige tun als Land – und das noch im europäischen Verbund.“ Ihr Auftritt war erforderlich geworden, nachdem die Kritik an ihrem Umgang mit dem Ausbruch immer lauter wurde: Zu lax, zu unentschlossen reagiere die Staatsspitze. Auch am Donnerstag hielt sich die deutsche Regierung mit Maßnahmen zurück.

Tatsächlich wartete Deutschland mit Verboten lange zu, nur nach und nach wurden Absagen von Großveranstaltungen mit mehr als 1.000 Menschen bekannt. Nach einem Krisentreffen am Donnerstag sagte Merkel, auch „alle nicht notwendigen“ Veranstaltungen mit weniger als 1.000 Teilnehmern sollten abgesagt werden. „Das ist ein Aufruf an alle“, sagte Merkel. Auch forderte sie die Bevölkerung auf, wo immer möglich auf Sozialkontakte zu verzichten. Drastischere Maßnahmen wurden aber nicht gesetzt.

Vielfach als Nachlässigkeit gedeutet, ist das eher eine Folge des Föderalismus. „Der Bund kann in der Regel nicht direkt auf die Ebene der Kommunen ‚durchregieren’“, hieß es etwa in einem Beitrag der Deutschen Welle (DW). In der deutschen Verfassung sei garantiert, dass den einzelnen Kommunen, vor allem aber den 294 Landkreisen und 107 Städten eine umfassende Unabhängigkeit beschieden ist. Dort hätten also die jeweiligen Behörden das Sagen, nicht Berlin.

Spiel auf Zeit

Das betrifft auch etwaige Schulschließungen, Sport- und Kulturveranstaltungen. Was sich auf den ersten Blick als Hemmschuh ausnimmt, hat laut Experten auch Vorteile: Deutschland sei dadurch „früh dran“, sagte Christian Drosten, Chefvirologe der Charite in Berlin. Denn es gab, schrieb die „DW“, dezentral mehrere Labore, die in der Diagnostik weit vorne waren und schon sehr früh – Ende Jänner wurde die erste Infektion in Bayern nachgewiesen – testen konnten. In anderen Ländern dürften Tests nur an einem nationalen Gesundheitsinstitut stattfinden. So sei wertvolle Zeit gewonnen worden.

Angela Merkel und Jens Spahn
Reuters/Michele Tantussi
Kanzlerin Merkel hielt sich lange mit öffentlichen Wortspenden zurück – zu lange, monieren Kritiker

„Es ist nicht egal, was wir tun“

Auf Zeit setzt auch Merkel: Es sei die zentrale Aufgabe, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, sagte sie. „Es ist eben nicht egal, was wir tun, es ist nicht vergeblich, es ist nicht umsonst.“ Es gehe um das Gewinnen von Zeit, um das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. Auch die vorübergehende Schließung von Kindergärten und Schulen etwa durch das Vorziehen der Osterferien sei eine weitere Option, sagte Merkel. Anders als in vielen anderen Ländern bleiben die Schulen aber vorerst offen. Merkel verteidigte die Zuständigkeit der Länder für konkrete Maßnahmen, mahnte aber ein abgestimmtes Vorgehen an. Dezentrales, an die jeweiligen Probleme angepasstes Handeln sei ein Vorteil. „Aber Föderalismus ist nicht dafür da, dass man Verantwortung wegschiebt.“

Es gelte, miteinander abgestimmt vorzugehen – bei gleicher Situation egal in welchem Bundesland. Alle Ebenen täten daher auch gut daran, Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) nachzukommen. Die Ausmaße der Krise seien noch nicht absehbar, sagte Merkel. Noch sei unbekannt, was für Immunitäten in der Bevölkerung aufgebaut werden. Im Vergleich zur Finanzkrise 2008 gelte: „Wir müssen mit viel mehr Unbekannten agieren, deshalb ist die Situation schon noch eine andere.“

„Recht schnelle“ Ausbreitung

Das Coronavirus breitet sich in Deutschland nach Angaben des RKI jedenfalls „recht schnell“ aus. Die nächsten Tage und Wochen würden zeigen, ob die ergriffenen Maßnahmen ausreichten, um die Anstiegskurve abzuflachen, sagte RKI-Vizepräsident Lars Schaade am Donnerstag.

Die Hinaufstufung durch die Weltgesundheitsorganisation von der Epidemie zur Pandemie habe keine direkten Auswirkungen auf die Maßnahmen in Deutschland: „Diese richten sich nach dem, was notwendig ist.“ Es sei kein Grund, mehr Sorgen oder Ängste zu haben. Es gelte weiter, die Ausbreitung zu verlangsamen. In Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 2.000 bestätigte Infektionen, wie aus einer Übersicht der Johns-Hopkins-Universität in den USA hervorgeht.

Ländern bleibt das Sagen

Eine deutschlandweite Schließung von Schulen ist dennoch nicht geplant. Nach einem Treffen der Ministerpräsidenten am Donnerstag in Berlin verwies Bayerns Landeschef Markus Söder auf die Zuständigkeit der Bundesländer: „Wir wollen eine gute Koordinierung der Länder erreichen, mit dem Bund. (…) Dabei bleibt aber natürlich den Ländern vorbehalten, ihre Entscheidungen aufgrund ihrer Situation zu treffen“, sagte er. So sei die Situation in Südbayern eine ganz andere als in Bremen. Aus bayrischen Regierungskreisen wurde Freitagfrüh bekannt, dass auch in Bayern die Schulen ab Montag schließen sollen. Weitere deutsche Bundesländer beraten noch am Freitag darüber.

Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn
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Gesundheitsminister Jens Spahn bewährte sich in den letzten Wochen

Als erstes Bundesland gab das Saarland in der Nacht auf Freitag bekannt, dass wegen des Coronavirus bundeslandesweit Schulen und Kindergärten bis Ende der Osterferien geschlossen werden. Eine Notbetreuung für Familien werde sichergestellt. Damit solle die Ausbreitung des Virus verlangsamt werden.

Bund und Länder wollen nach den Worten Söders eine Wirtschaftskrise in Deutschland als Folge des Coronavirus verhindern. „Wir werden alles tun, was notwendig ist, um die wirtschaftliche Stabilität zu erhalten“, sagte Söder nach Beratungen der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung am Donnerstagabend in Berlin. Die Erhöhung von Liquiditätshilfen sei „zentral“. Deutschland sei ein reiches Land. Eine „tiefe Rezession“ solle vermieden werden. Weitere Hilfen für die Wirtschaft sollen am Freitag vorgestellt werden, so Merkel.

Medien stehen hinter Merkel

Von den deutschen Medien erhielt Kanzlerin Merkel weitgehend – nach Mittwoch, wohlgemerkt – Applaus für ihr Verhalten. So schrieb etwa die „Frankfurter Rundschau“: „Bei der Coronakrise schien es, als versage Kanzlerin Angela Merkel auf den letzten Metern ihrer Regierungszeit: Wochenlang ließ sie zu Corona nichts von sich hören, lediglich ihr Gesundheitsminister Jens Spahn ackerte sich durch Pressekonferenzen und Talkshows. Doch mit dem Auftritt am Mittwoch hat sie die anfänglichen Fehler ausgebügelt: Mit ihrem Appell an die Solidarität in der Gesellschaft hat sie den richtigen Ton gesetzt. Die Epidemie wird man nicht allein durch Verbote in den Griff bekommen. Jeder ist gefordert, sein Verhalten so umzustellen, dass er sich und andere nicht gefährdet.“

Und selbst die nicht eben regierungsnahe „taz“ schrieb: „Ausgerechnet jetzt ist Kritik am Föderalismus völlig unberechtigt. Deutschland ist eben kein Einheitsstaat mit starker Zentralregierung wie Italien. Entsprechend zurückhaltend tritt die Kanzlerin auf. Mehr noch: Der Föderalismus ist sogar das bessere System, um solch eine Krise zu überstehen. Da behält Angela Merkel, die sich am Mittwoch in der Bundespressekonferenz endlich doch noch zu Wort meldete, recht.“