Gutachten des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramtes
APA/Hans Klaus Techt
Gutachter, Legist, Anwalt

Verfassungsdienst im Fokus der Politik

Widerspricht ein Gesetzesentwurf der Verfassung? Um diese Frage zu beantworten, können Ministerien den Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt konsultieren. Dass nicht immer auf das Wissen des Rechtsdienstes der Republik zurückgegriffen wird, zeigt sich auch anhand der Coronavirus-Gesetzgebung, die am Dienstag ein weiteres Kapitel aufschlagen wird.

In den vergangenen Tagen zeigten sich namhafte Rechtsexperten wie der frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH), Clemens Jabloner, und Ex-Bundespräsident Heinz Fischer überrascht, dass der Verfassungsdienst bei den Gesetzen, Verordnungen und Erlässen nicht um Rat gebeten wurde. Für gewöhnlich nimmt der Rechtsdienst zu Gesetzesentwürfen Stellung – sofern es sich um Regierungsvorlagen handelt. Allerdings wurden die Coronavirus-Pakete als Initiativanträge von der ÖVP-Grünen-Mehrheit eingebracht, aus Dringlichkeitsgründen, wie betonte wurde. Ein Begutachtungsverfahren dauert Wochen.

Auch am Dienstag wird der Nationalrat neue Coronavirus-Gesetze beschließen, weitere Verordnungen und Erlässe im Zuge der Krise sind möglich. Freilich hätte der Verfassungsdienst auch bei Anträgen, die von Abgeordneten eingebracht werden, im Vorfeld informell um ein Gutachten gebeten werden können, so der Vorarlberger Staatsrechtler Ewald Wiederin im Gespräch zu ORF.at. „Wenn, dann ist es aber eine politische Usance, es gibt keine harte rechtliche Regelung“, so Wiederin, der in den 90er Jahren im Verfassungsdienst tätig war. Zudem gebe es auch die Möglichkeit der Ausschussbegutachtung, aber eben nicht verpflichtend.

„Verfassungsrechtliche Gewissen der Republik“

Der Rechtsdienst der Republik hat schon eine lange Geschichte hinter sich. Im Dezember 1918 wurde er als „Gesetzgebungsdienst der Staatskanzlei“ eingesetzt, als Rechtsberater diente etwa Hans Kelsen, „Architekt“ der österreichischen Bundesverfassung. Noch heute besteht eine der Hauptaufgaben des Verfassungsdienstes darin, in zahlreichen Bereichen Gesetzesentwürfe vorzubereiten (Legist). Dazu kommt, dass er die Republik vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) und vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vertritt und eben Gesetzesentwürfe anderer Ministerien begutachtet.

Hans Kelsen an seinem 90. Geburtstag
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Kelsen gilt nicht nur als „Architekt der Verfassung“, sondern war auch als Berater des Verfassungsdienstes tätig

Als „verfassungsrechtliches Gewissen der Republik“ wird der Dienst auch gerne bezeichnet. Die Konstellation des Verfassungsdienstes sei „einmalig“, sagte Staatsrechtler Wiederin. Ein Rechtsdienst, der als Legist, als Gutachter und als Anwalt der Republik zentralisiert arbeitet, sei sonst nur sehr selten zu finden. Dennoch sei es eine Illusion, zu glauben, dass verfassungsrechtlich alles in Ordnung sei, wenn der Verfassungsdienst eingebunden wird. „Das endgültige verfassungsrechtliche Gütesiegel gibt es nicht“, so der Uniprofessor.

Das sagen auch andere ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, mit denen sich ORF.at unterhalten hat. Der Verfassungsdienst gibt eine Einschätzung ab. „Was geht, was geht nicht?“, heißt es etwa. Wenn eine Regierungsvorlage begutachtet wird, dann macht er das inhaltlich – verfassungskonform? – und aus der Sicht der Legistik: Ist der Entwurf handwerklich richtig zusammengebaut? Im Parlament, wo die Vorlagen eingebracht werden, ist es Usus, die Stellungnahmen zu veröffentlichen.

Begutachtungsverfahren: „Moderater im Ton“

Abseits des offiziellen Begutachtungsverfahrens können öffentliche Dienststellen ein Gutachten oder eine Rechtsmeinung des Verfassungsdienstes einholen. Das kann etwa so aussehen: „Es wird aufgrund eines konkreten Themas, das unter dem Radar läuft oder topaktuell ist, eine Anfrage gestellt. Man testet, ob eine Idee rechtlich überhaupt möglich ist“, sagt eine Person, die jahrelange im Verfassungsdienst tätig war. Es sei wichtig, dass diese Möglichkeit besteht, es handle sich um einen „Qualitätssicherungsmechanismus“.

Gerade wegen dieser Funktion sei der Rechtsdienst für Medien von Interesse. Öffentliche Stellungnahmen zu Regierungsvorlagen werden im Gegensatz zu Gutachten, die für interne Zwecke benötigt werden, deshalb „moderater im Ton“ vorgetragen. Wenn eine Bestimmung verfassungswidrig ist, dann heißt es in der Stellungnahme nicht „die Bestimmung ist verfassungswidrig“, sondern dass diese Bestimmung mit der Verfassung in Einklang gebracht werden muss. Bei angefragten Gutachten werde teils „radikaler“ formuliert.

„Was die Politik mit einem Gutachten macht, ob sie damit nach außen geht, ist ihre Entscheidung“, betonte eine andere mit der Materie vertraute Person. Die Öffentlichkeit habe natürlich das Recht, über Gutachten Bescheid zu wissen. Allerdings erhöhe das den Druck auf den Verfassungsdienst. Außerdem: „In dem Moment, in dem die Verwaltung nicht mehr intern nachfragen kann, ob etwas rechtlich möglich ist, bevor etwas nach außen geht, werden die einzelnen Anfragen aus den Behörden zurückgehen. Das will niemand.“

Hilfe, aber kein Mitspracherecht

Die Kritik, dass der Verfassungsdienst bei den Verordnungen aus dem Gesundheitsministerium, die unter anderem die Betretungsverbote regeln, nicht hinzugezogen wurde, können die Gesprächspartner und -partnerinnen nicht ganz verstehen. Man könne zwar anfragen, aber grundsätzlich gilt: „Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsdienstes zu beurteilen, ob eine Verordnung im Gesetz gedeckt ist. Das ist dem Ministerium überlassen“, heißt es etwa. Wenn es bei der Verordnung um eine Auslegung der Verfassung geht, dann sei es was anderes.

Verfassungsdienst

Der Rechtsdienst der Republik ist eine Sektion im Bundeskanzleramt. Mit 1. Mai wird Albert Posch neuer Leiter. Den Posten hatte er allerdings schon zuvor interimistisch inne.

Bei Initiativanträgen erinnerte Wiederin auch daran, dass diese von Mandataren und Mandatarinnen eingebracht werden, nicht von Klubs. „Abgeordnete haben mit der Ausübung ihres freien Mandats wichtige Rechte. Man sollte diese durch eine Pflicht zur Einholung von Gutachten nicht beschneiden“, sagte der Experte. „Begutachtung ist keine verfassungsrechtliche Produktionsbedingung für Gesetze, aber es gibt informelle Regeln, eine politische Kultur, wann man sich an den Verfassungsdienst wendet. Ich denke, in diesem Bereich ist es auch sehr gut aufgehoben.“

Freilich dient der Verfassungsdienst der Politik auch für ihre Zwecke. Wenn ein Gutachten nicht dem entspricht, was erhofft wurde, wird es nicht veröffentlicht. Deshalb hätten Ministerien in den letzten 30 Jahren vermehrt „externe Meinungen gekauft“, sagen ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Gerade wenn ein Vorhaben politisch heikel ist, etwa wenn sich Regierungspartner uneinig sind, würden Rechtsfragen ausgelagert werden. Das habe dazu geführt, dass der Dienst an Autorität eingebüßt hat. „Der Verfassungsdienst ist dann stark, wenn ihn die Politik auch akzeptiert.“

Plötzlich nicht mehr im Zentrum

So schien es auch in den Jahren 2017 bis 2019 gewesen zu sein, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Unter der ÖVP-FPÖ-Regierung wurde der Verfassungsdienst erstmals in seiner 100-jährigen Geschichte einem anderen Ministerium überlassen. Für Kritiker und Kritikerinnen war das nicht nur ein überraschender Zug der damaligen Regierung, sondern auch eine „Degradierung“ des Verfassungsdienstes. ÖVP und FPÖ argumentierten, dass alle rechtlichen Angelegenheiten in einem Ressort gebündelt werden sollten.

Bundesministerium für Justiz
ORF.at/Dominique Hammer
Von Dezember 2017 bis Jänner 2020 war der Verfassungsdienst Teil des Justizministeriums

Das bedeutete aber auch, dass der Rechtsdienst der Republik seine Gutachten und Stellungnahmen aus einem Fachressort übermittelte. Die Stellung, die er im fächerübergreifenden Bundeskanzleramt hatte, ging verloren. Zudem landete man in einem Ressort, das in den letzten Jahren wegen zu geringem Budget klagte. Der Verfassungsdienst war ein halbes Jahr damit beschäftigt, sich neu aufzustellen, heißt es. Heute gehört er wieder zum Bundeskanzleramt – mit Ausnahmen: Denn die bisher vom Verfassungsdienst wahrgenommenen Zuständigkeiten des Datenschutzes und Vergaberechts blieben im Justizministerium.

„Man wird mit spannender Arbeit bezahlt“

Durch die kurzzeitige Umsiedelung sei der Verfassungsdienst zwar „auf dem Abstellgleis“ gewesen, wie Ex-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erzählen. Aber der Ruf des Rechtsdienstes sei immer schon sehr stark gewesen. Das zeige sich auch daran, dass man Rekrutierungsprobleme quasi nicht kenne, heißt es. In der Schublade würden sich für den Fall, dass man jemanden im Rechtsdienst benötigt, immer ein bis drei Blindbewerbungen befinden. Vermutlich auch, weil einige ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen heute an Unis lehren, an denen die nächsten Kandidaten und Kandidatinnen gerade Jus studieren.

Allerdings: Ohne berufliche Erfahrung gibt es kaum Chancen auf einen Job. Entweder war man schon in einer anderen Rechtssektion in einem Ministerium, an der Uni oder an einem Höchstgericht tätig. „Früher wurde gesagt: Man geht zum Verfassungsdienst, weil man mit interessanter Arbeit bezahlt wird“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Es gebe einen starken Korpsgeist unter den Kollegen und Kolleginnen. Staatsrechtler Wiederin bestätigt das: „Man sitzt wie eine Spinne im Netz der Probleme. Unter Zeitdruck wird ein Problem eingegrenzt und gelöst.“ Dass das mitunter zu enormen Überstunden führte, sei jedem klar gewesen. „Damals hieß das Freizeitverwaltung.“