ORF.at-Interview mit Gerhart Holzinger, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs
ORF.at/Christian Öser
Gerhart Holzinger

„Emotionale Ausbrüche gehörten dazu“

Gerhart Holzinger war mehr als zwei Jahrzehnte am Verfassungsgerichtshof tätig. Für das umstrittene Erkenntnis zu den zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten hatte der gebürtige Oberösterreicher den Entwurf ausgearbeitet. Im ORF.at-Gespräch sagt er unter anderen, dass Juristen und Juristinnen durchaus emotional werden können.

ORF.at: Herr Holzinger, Sie waren 22 Jahre am Verfassungsgerichtshof, 13 davon als Richter, neun als Präsident. Wie würden Sie die Atmosphäre beschreiben?

Gerhart Holzinger: Soweit ich das miterlebt habe, war das immer eine sehr kollegiale Atmosphäre. Der Verfassungsgerichtshof war für mich die Krönung meiner juristischen Laufbahn und zwar deshalb, weil die Arbeit, das kollegiale Gespräch und die Beratungen über die einzelnen Fälle wirklich eine juristische Diskussion auf höchstem Niveau waren.

Natürlich gab es immer wieder heftige Diskussionen. Ich habe mir oft gedacht, es würde wahrscheinlich ein Außenstehender nicht glauben, mit viel Emotion Juristinnen und Juristen diskutieren und um eine Lösung ringen können. Das Vorurteil, dass die Juristerei eine trockene Wissenschaft wäre, das würde, wenn es die Gelegenheit geben würde, die Beratungen von außen mitzuerleben, falsifiziert werden.

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ORF.at: Wird man als Präsident von den anderen Mitgliedern anders wahrgenommen?

Holzinger: Es ist natürlich ein Unterschied, ob man Teil des Kollegiums ist oder ob man als Präsident als primus inter pares die Institutionen zu leiten hat. Ich hätte das selbst nicht für möglich gehalten, dass es diesen Unterschied gibt. Ich war, als ich Präsident wurde, schon 13 Jahre Mitglied und habe die Kollegen und Kolleginnen dort gut gekannt. Aber die Rolle des Präsidenten ist eine andere.

Man ist zwangsläufig als jemand, der Entscheidungen zu treffen hat, die nicht immer jedem und jeder im Gerichtshof gefallen, in einer besonderen Situation. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich das bewältigt hatte. Auf der einen Seite war es eine Herausforderung, auf der anderen Seite eine sehr schöne Aufgabe.

ORF.at: Kommen wir zu Ihren Anfangsjahren am Höchstgericht. Sie kamen vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramt. War die Umstellung vom Experten zum Richter für Sie schwierig?

Holzinger: Schwierig nicht, aber herausfordernd. Als Mitglied und später als Leiter des Verfassungsdienstes hat meine Aufgabe darin bestanden, zum einen den Bundeskanzler und die Regierung verfassungsrechtlich zu beraten sowie Gutachten zu erstellen. Außerdem musste ich Gesetzesentwürfe ausarbeiten. Am Höchstgericht war ich plötzlich in der Situation des Entscheiders, aber ich hatte keine Praxis als Richter.

ORF.at-Interview mit Gerhart Holzinger, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs
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Holzinger war 13 Jahre lang Präsident des Verfassungsgerichtshofs und erlebte dementsprechend einige emotionale Beratungen

Aber eben diese Tätigkeit hat mir sehr viel Freude bereitet. Ich wirkte im Gremium von 14 Richterinnen und Richtern an Entscheidungen mit, erstellte Entwürfe, über die dann diskutiert wurden. Ich musste ja auch dafür sorgen, dass die eigene Meinung zum Durchbruch kommt. Was natürlich nicht immer gelungen ist und mitunter auch ein Anlass zur Frustration war. Aber auch daran gewöhnt man sich.

ORF.at: Wie kann man sich eine Diskussion zwischen den VfGH-Mitgliedern vorstellen? Manche sind Anwälte, andere kommen aus der Wissenschaft, und einige sind Beamte.

Holzinger: Es ist eine juristische Diskussion auf höchstem Niveau. Es ist einer der Vorzüge des Verfassungsgerichtshofs, dass die Richter – aus dem akademische Bereich, der Verwaltung oder der Gerichtsbarkeit – ihre eigenen Zugänge zu den jeweiligen Fragestellungen mitbringen.

Zur Person

Holzinger wurde 1947 in Gmunden geboren. Ab 1975 war er im Verfassungsdienst tätig, ab 1984 dessen Leiter. 1995 wurde er Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, von 2008 bis 2017 war er VfGH-Präsident.

Natürlich würde jemand, der einigermaßen versiert ist, auch wenn er die Person nicht kennt, feststellen können: „Der kommt aus der Praxis, sie aus der Gerichtsbarkeit, das ist ein Wissenschaftler.“ Und neben der beruflichen Qualifikation bringt jeder Richter oder jede Richterinnen Eigenheiten mit, die für die Gruppendynamik spannend sein können.

ORF.at: Unterschiedliche Perspektiven, viele Emotionen: Hauen Sie als Präsident mal auf den Tisch und sagen: „Jetzt reicht es, wir brauchen eine Entscheidung“?

Holzinger: Die Debatte ist zu drei Viertel fachlich, der Rest ist Emotion. Es gab Situationen, in denen jemand mit so viel Verve die eigene Position vertreten hat und dann nicht verstanden hat, warum die anderen seiner Rechtsauslegung nicht folgen. Es wird emotional, aber nicht untergriffig oder beleidigend. Das habe ich nie erlebt.

Beratungen am VfGH: „Zu drei Viertel sachlich“

Der frühere Verfassungsgerichtshof-Präsident Gerhart Holzinger spricht über seine Erfahrungen bei den Beratungen im Höchstgericht. Mitunter könne es auch emotional werden.

Emotionale Ausbrüche gehörten dazu. Vor allem wenn man von seiner Rechtsmeinung einfach überzeugt ist. Da nehme ich mich auch gar nicht aus. Das traf fast auf alle Mitglieder zu. Es gab nur wenige Kolleginnen und Kollegen, die in sich so ruhten, dass sie nie oder selten emotional wurden. Aber Gefühlsausbrüche sind selbst bei Juristen und Juristinnen menschlich.

ORF.at: Nahmen Sie als Präsident eher eine moderierende Rolle ein?

Holzinger: Ich habe mich darum bemüht. Aber ganz kann man die eigene Erfahrung als Mitglied des Gerichtshofs und vor allem als jemand, der Entscheidungsentwürfe vorbereitet hat, nie ablegen. Am Anfang habe ich noch mehr versucht, meine persönliche Auffassung in Debatten einzubringen. Umso länger ich die Funktion des Präsidenten ausgeübt habe, desto mehr habe ich mich auf die Moderation beschränkt. Ich glaube, dieser Zugang war an sich der klügere.

ORF.at: Apropos Entscheidungsentwürfe: Sie haben die umstrittene Entscheidung zu den zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten im Jahr 2001 ausgearbeitet. Dafür wurde der VfGH auch kritisiert. Wie verlief die Diskussionen unter den Richtern und Richterinnen?

Holzinger: Die Entscheidung ist nicht einfach gewesen, es wurde lange diskutiert. Es mussten unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden. Ich war damals der Ständige Referent, also der, der den Entwurf der Entscheidung ausgearbeitet hat. Ich habe sie für richtig gehalten und die Kritik daran, die insbesondere durch den damaligen Kärntner Landeshauptmann (Jörg Haider, FPÖ, Anm.) geübt wurde, als völlig verfehlt sowie demokratiepolitisch und rechtsstaatlich als äußerst problematisch betrachtet.

Der Sager, man müsse den Verfassungsgerichtshof endlich auf das demokratiepolitisch verträgliche Maß zurechtstutzen, war ein Frontalangriff. Auch die Angriffe auf den damaligen Präsidenten (Ludwig Adamovich, Anm.) hinterließen Spuren im Gerichtshof. Aber wir haben daraus gelernt und den medialen Auftritt professionalisiert. So ist es im Leben: Wenn sich Krisen ergeben, dann versucht man, die besten Konsequenzen daraus zu ziehen.

ORF.at: Wenn Richterinnen und Richter wegen eines Erkenntnisses so heftig kritisiert werden, überdenkt man dann seine Entscheidung?

Holzinger: Ich kann das wiedergeben, was ich aus den Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen damals entnommen haben: Die Idee, daran zu zweifeln, dass das, was wir entschieden haben, nicht korrekt ist, hat überhaupt niemand vertreten. Es war in meinen Augen eine wichtige Entscheidung. Der Streit in Kärnten zog sich über Jahrzehnte. Ich erinnere nur an den Ortstafelsturm in den 1970er Jahren.

ORF.at: Damals entschied der VfGH, vereinfacht dargestellt: Wenn in einer Gemeinde zehn Prozent der Bevölkerung slowenischsprachig ist, muss eine zweisprachige Ortstafel aufgestellt worden. Seit Jahren lag der Prozentsatz bei 25 Prozent. Wie kam der VfGH auf zehn Prozent?

Holzinger: Wir haben auf die völkerrechtliche Praxis zurückgegriffen. Was die Rechte autochthoner Minderheiten anlangt, hat es eine Bandbreite von fünf bis 25 Prozent gegeben. Wir haben dann aus der Entstehungsgeschichte des Staatsvertrages die Auffassung vertreten, dass die Vertragsparteien offensichtlich gewillt waren, einen möglichst niedrigen Prozentsatz für die Rechte der Minderheiten anzugeben.

ORF.at-Interview mit Gerhart Holzinger, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs
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Holzinger bereitete den viel debattierten Entwurf zur Ortstafelentscheidung in Kärnten im Jahr 2001 vor

Die Prozentsätze, die aber festgelegt wurden, waren zu hoch. Wir gaben mit zehn Prozent einen verfassungskonformen Hinweis, wie man es machen könnte. Wenn ich es richtig sehe, hat sich der Gesetzgeber auch in allen Punkten unserer Auffassung angeschlossen. Auch wenn es weitere Jahre gebraucht hat, bis die Politik die Empfehlung umgesetzt hat.

ORF.at: Wenn wir über die Kritik von der Politik an den VfGH sprechen, müssen wir auch darüber sprechen, dass Sie mit Politik auch nicht zimperlich umgegangen sind. Wie war Ihr Verhältnis zu Politikern?

Holzinger: Ich habe in dem Zusammenhang oft von einer Gratwanderung gesprochen, also von einem Bergsteiger, der auf einem schmalen Grat einen Berg hinaufsteigt. Wie ich im Jahr 1995 in das Höchstgericht gekommen bin, war die vorherrschende Meinung: Ein Richter spricht durch seine Urteile und nicht mit Medien. Ich habe das schon damals nicht für richtig empfunden, und zwar deshalb, weil mir klar war, dass die Veränderungen in unserer Gesellschaft dazu führen, dass es nicht mehr reicht, auf die Autorität des Gerichts und des richterlichen Urteils zu vertrauen.

Wenn man möchte, dass das Gericht akzeptiert wird, muss man die Entscheidung so vielen Menschen wie möglich nahebringen. Das ist nicht möglich, indem man von ihnen verlangt, dass sie ein 100-seitiges Urteil lesen. Jede Entscheidung – und sei sie noch so kompliziert – kann man auf einen ganz einfachen Kern herunterbrechen. Die Gerichtsbarkeit im modernen demokratischen Rechtsstaat hat die Verpflichtung, alles zu unternehmen, um die Entscheidungen so zu vermitteln, dass dem Gericht abgenommen wird, dass hier Leute sitzen, die fachlich über jeden Verdacht erhaben und unabhängig sind.

Bürgernähe: „Verpflichtung, Entscheidungen zu vermitteln“

Dem früheren Verfassungsgerichtshof-Präsident Gerhart Holzinger war es ein Anliegen, die Entscheidungen des Höchstgerichts allen Bürgern und Bürgerinnen zu vermitteln.

Das kann man nur machen, wenn man versucht, immer wieder an die Bevölkerung heranzukommen. Man muss eben dann auch bereit sein, mit Medien zu sprechen. Wohlwissend, dass es zu einer Situation führen kann, in der der Bergsteiger mit einem Fuß dann einmal daneben tritt.

ORF.at: Es besteht also das Risiko, dass der Verfassungsgerichtshof ins politische Kreuzfeuer der Kritik kommt, wenn man mit Medien spricht?

Holzinger: Ja, weil auch niemand davor gefeit ist, Fehler zu machen. In dem einen oder anderen Fall geht man vielleicht zu weit. Und dann heißt es: Was geht das eigentlich den Herrn Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs an? Man braucht eine gewisse Sensibilität und vor allem muss man sich journalistischen Sachverstand sichern. Damit hat mein Vorvorgänger Adamovich begonnen, mein Vorgänger Karl Korinek hat es weitergeführt.

Ich habe mit Leuten, die aus dem Medienbereich gekommen sind, eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit aufgebaut. Was mich sehr gefreut hat, obwohl ich nicht so viel auf Meinungsumfragen gebe, dass der Verfassungsgerichtshof ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung genoss, auch zu Zeiten, wo Entscheidungen von uns heftig diskutiert worden sind, also etwa im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl.

ORF.at: Bevor wir darüber sprechen: Haben Sie Ihrer Ansicht nach mit öffentlichen Äußerungen jemals über die Stränge geschlagen?

Über die Stränge geschlagen? Also wenn ich das ganz subjektiv in dem Sinn beurteile, dass es mir Freude gemacht hat, zu einem bestimmten Thema aus der geschützten Position des Verfassungsgerichtshofs etwas zu sagen, nur um mich zu profilieren oder zu provozieren: Das habe ich sicher nie getan. Ob immer alles richtig war oder ob das eine oder andere vielleicht vermieden hätte werden können, das möchte ich nicht beurteilen.

ORF.at: Es gab jedenfalls mehrere Entscheidungen unter Ihrer Amtszeit, die teils umstritten waren. Etwa, dass das Adoptionsverbot für Homosexuelle aufgehoben wurde, oder die „Ehe für alle“, oder die Aufhebung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl.

Holzinger: Diese Entscheidungen sind dem Gerichtshof schwergefallen, weil wir eben lange um eine Entscheidung gerungen haben. Was die Bundespräsidentenwahl anlangt, das war aus meiner Sicht, so eigenartig das klingt, alternativlos – aus folgendem Grund: Wenn wir nicht so entschieden hätten, dann wäre jedenfalls im Bereich des Wahlrechts die Administration letztlich auf eine reine Beliebigkeit hinausgelaufen.

Aufhebung Hofburg-Stichwahl: „Besonderer Level an Korrektheit“

Der frühere Verfassungsgerichtshof-Präsident Gerhart Holzinger sagt im ORF.at-Gespräch, dass die Aufhebung der Bundespräsidenten-Stichwahl 2016 alternativlos gewesen sei.

Im Hinblick auf die Bedeutung einer Wahl für eine funktionsfähige Demokratie wäre das desaströs. Es mag sein, dass im internationalen Vergleich der Verfassungsgerichtshof mit dieser Entscheidung besonders streng war. Aber wenn es so ist, dann bin ich als österreichischer Staatsbürger stolz darauf, weil damit klargestellt wurde, dass wir die Demokratie besonders ernst nehmen.

ORF.at: Wie beurteilen Sie die anderen Entscheidungen?

Holzinger: Das waren natürlich gesellschaftspolitisch hochumstrittene Fragen, auch im Gerichtshof unter juristischen Gesichtspunkten. Allerdings ist die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zu Fragen der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgeprägt.

Mir ist bekannt, dass es insbesondere an der Judikatur des Gerichts in Straßburg immer wieder Kritik gibt. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob ein Fall nicht auch anders zu entscheiden gewesen wäre. Aber ein Gericht hat über seine juristische Bedeutung hinaus auch noch die ganz wichtige Funktion als Friedensstifter. Wenn das Gericht über eine Frage, die vorher strittig war, geurteilt hat, dann ist es entschieden.

Wenn man diesen Schuss in Zweifel zieht, sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene, dann hört sich der Rechtsstaat auf. Wenn eine gerichtliche Entscheidung nicht akzeptiert wird, dann ist eine Grundvoraussetzung für den Rechtsstaat und letztlich auch für die Demokratie infrage gestellt.

ORF.at: Interessant ist, dass der Gesetzgeber Jahre vor der Entscheidung des VfGH zur „Ehe für alle“ noch die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt hat. Hätte man eine Diskriminierung nicht auch ohne VfGH-Entscheid erkennen können?

Holzinger: Ich kenne dieses Problem, das Sie ansprechen, aus der Sicht des Verfassungsrichters, und aus der Sicht des Verfassungsrechtsexperten, der den Bundeskanzler, die Bundesregierung und das Parlament beraten hat. Auch in meiner Zeit im Verfassungsdienst sind Gesetze aufgehoben worden. Das hängt damit zusammen, dass bestimmte Fragen mitunter gar nicht im Fokus stehen. Sie werden erst im Laufe der Zeit als problematisch erkannt.

Ein Verfassungsrechtsexperte kann auch die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs falsch einschätzen. Wobei man sagen muss, dass die Frage nach der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in vielen Fällen trivial ist. Manche Fragen sind aber auch sehr diffizil. Deshalb gehört es ja zu einem Rechtsstaat, dass es eine Institution gibt, die prüft, ob das Gesetz verfassungsmäßig ist. Und wenn ein Gesetz nicht verfassungsmäßig ist, dann wird es aufgehoben und der Gesetzgeber muss sich daran halten.

ORF.at: Es heißt: Wenn ein Ministerium nicht wissen will, ob ein Vorhaben verfassungswidrig sein könnte, dann wird der Verfassungsdienst nicht konsultiert.

Holzinger: Ein Phänomen, wie Sie es schildern, dass man, um zu vermeiden, dass der Verfassungsdienst etwas Kritisches sagt, ihn nicht mit einem Vorhaben befasst, ist in der Zeit, in der ich dort tätig war, nicht vorgekommen. Das hätte auch der jeweilige Bundeskanzler gegenüber den einzelnen Ressortministern nicht zugelassen. Außerdem ist es kurzsichtig: Wenn man sich des Sachverstandes nicht bedient, dann läuft man natürlich Gefahr, dass das Vorhaben nachher scheitert. Ich kann nicht beurteilen, ob es jetzt oder vielleicht schon seit einiger Zeit so ist, aber damals war das sicher nicht der Fall.

Aber ganz offen gesprochen: Ich glaube, dass die juristischen Dienste der Ministerien, und zwar beginnend mit dem Jahr 2000, aus den verschiedensten Gründen ausgedünnt worden sind. Darunter hat auch die Qualität der Arbeit gelitten. Zu meiner Zeit im Verfassungsdienst wäre es etwa völlig undenkbar gewesen, dass man die Expertise von Rechtsanwaltskanzleien heranzieht. Ich habe überhaupt nichts gegen Rechtsanwaltskanzleien. Dort arbeiten hervorragende Juristinnen und Juristen. Aber die gesetzesvorbereitende Tätigkeit – die Legistik, wie wir es in Österreich nennen –, das ist eine eigene Disziplin.

ORF.at: Sie sind direkt vom Bundeskanzleramt in den VfGH gewechselt. Hat Sie Ihre Nominierung durch die Regierung überrascht?

Holzinger: Ich wurde 1995 auf Vorschlag der Bundesregierung Vranitzky/Busek ernannt. Im Jahr 2008, als ich Präsident wurde, war es die Regierung Gusenbauer/Molterer. Also in beiden Fällen waren es Regierungen unter der Führung der SPÖ mit der ÖVP. Ganz offen dazu, weil immer so viel hineingeheimnisst wird: Der Umstand, dass ich 20 Jahre im Verfassungsdienst gearbeitet habe, zuerst unter Kreisky, dann unter Sinowatz und dann unter Vranitzky, hat dazu geführt, dass mich insbesondere Regierungspolitiker gekannt haben.

VfGH-Nominierung: „Da wird immer so viel hineingeheimnist“

Der frühere Verfassungsgerichtshof-Präsident Gerhart Holzinger erzählt im ORF.at-Gespräch, dass er aufgrund seiner Tätigkeit im Verfassungsdienst für das Höchstgericht nominiert wurde.

Auf diesen Umstand ist zurückzuführen, dass man mich als Mitglied des Verfassungsgerichtshofs vorgeschlagen hat. Dieser Umstand war dann offensichtlich auch maßgeblich entscheidend dafür, dass ich im Jahr 2008 schließlich zum Präsidenten ernannt wurde. Es ist schon x-mal gesagt worden: Ohne Politik kommt man nicht in den Verfassungsgerichtshof. Das ist klar, weil die Organe, die darüber entscheiden, wer Mitglied des Gerichtshofes wird, politisch sind.

In all den Jahren, in denen ich Mitglied des Verfassungsgerichtshofs war, hat nie jemand auch noch im Entferntesten versucht, auf mich Einfluss zu nehmen. Ist die Bestellung der Richter ein politischer Prozess, ja. Aber es ist keinesfalls so, dass derjenige, der als Vorschlag – von mir aus – einer Alleinregierung ernannt wird, dann im Sinne dieser Regierung entscheidet. Also Karl Korinek ist in der Zeit der SPÖ-Alleinregierung Mitglied des Verfassungsgerichtshofs geworden, und niemand hätte dem Korinek unterstellt, dass er ein heimlicher Sozialdemokrat wäre.

ORF.at: Hat es Sie gestört, wenn man Sie als SPÖ-nah oder ÖVP-nah – wegen Ihrer Mitgliedschaft im Cartellverband – genannt hat?

Früher, als ich noch jünger und emotionaler war, hat es mich gestört. Aber im Laufe der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Es hat mir dann überhaupt nichts mehr ausgemacht. Man kann nur für sich selber daraus den Schluss ziehen, sein eigenes Ding zu machen, seine rechtlichen Überzeugungen zu folgen und sich von niemand beirren zu lassen.

ORF.at: Der politische Prozess bleibt umstritten, selbst wenn Sie sagen, dass die Richter unabhängig sind.

Schauen Sie, es ist ja ein Paradoxon. Viele Regelungen in Österreich gibt es ja nur deshalb, weil es immer schon so war. Seit dem Reichsgericht der Monarchie (1867–-1919) ist der Bestellungsvorgang der Richter im Wesentlichen so wie er heute ist. Natürlich könnte man, um den Vorgang demokratiepolitisch abzusichern, dem Nationalrat mehr Einflussmöglichkeiten geben, man könnte auch die Quoren erhöhen. Das könnte man alles machen, und manches spricht dafür, dass man die demokratische Legitimation des Bestellungsvorgangs intensiviert.

Aber in meinen Augen ist der derzeitige Bestellungsmodus durchaus ausreichend. Ohne überheblich klingen zu wollen: Der Verfassungsgerichtshof, so wie er jetzt mit diesen Regelungen in der Praxis besteht, ist ein Gremium mit hervorragenden Juristinnen und Juristen. Die juristische und die moralische Qualifikationen – im Sinne von Unabhängigkeit – sind die wichtigsten Kriterien.

ORF.at: Was ist mit Richtern, die zwar die fachliche Expertise vorweisen, aber auch enge Verbindungen zu einer Partei haben?

Ich will mich zum Parteipolitischen nicht äußern, möchte dazu aber sagen, dass die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs in Sachen Qualifikation über jeden Zweifel erhaben ist. Was ein gewisses Problem ist, und das wurde bei der Bestellung des früheren Justizministers (ÖVP, Anm.), Wolfgang Brandstetter, thematisiert, ist der mehr oder weniger unmittelbare Wechsel von der Regierungsbank in den Verfassungsgerichtshof.

ORF.at-Interview mit Gerhart Holzinger, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs
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Der gebürtige Oberösterreicher sagt im Gespräch, dass ihm die Medienarbeit des Höchstgerichts sehr wichtig gewesen sei

Das führt im Gerichtshof zum Problem, dass der Betreffende einige Zeit nicht an Fällen, an denen er als Minister selbst beteiligt war, mitwirken kann. Ob man eine Cooling-off-Phase, die bereits für den Präsidenten und die Vizepräsidenten des Gerichtshofs gilt, auf alle Mitglieder und andere Funktionen ausdehnt, ist eine Geschmacksfrage.

ORF.at: Kommen wir zu einem anderen Thema: Unter Ihrer Amtszeit erfolgte 2012 die Umsiedlung des Verfassungsgerichtshofs von der Böhmischen Hofkanzlei an die Freyung. Wie lief das genau ab?

Holzinger: Ich habe, nachdem ich so viele Jahre Mitglied des Gerichtshofs war und im Verfassungsdienst ein gewisses Faible für die Verwaltungsreform entwickelt habe, die räumliche Unterbringung des Gerichtshofs als suboptimal empfunden. Aus historischer Sicht hat vieles für die Böhmische Hofkanzlei am Judenplatz gesprochen. Aber für einen modernen Bürobetrieb war das Gebäude nicht ausreichend.

Aber solange ich keine organisatorische Funktion im Gerichtshof hatte, habe ich mir das einfach nur gedacht. Erst als Präsident wollte ich die Situation ändern. Es war dann aus den verschiedensten Gründen ein sehr mühevoller Prozess. Weitreichende Veränderungen in einer Organisation, die sehr auf Tradition angelegt ist, sind besonders schwierig. Ursprünglich wollte ich überhaupt ein neues Haus für das Höchstgericht, aber es war schnell klar, das wird sehr schwierig.

Mit dem Gebäude auf der Freyung hatten wir ein großes Glück. Nach einer zum Teil recht schwierigen Phase ist es uns auch gelungen, die notwendigen Mittel vom Finanzministerium zu bekommen. Für den Verfassungsgerichtshof war der Ortswechsel wegen der neuen Anforderungen sehr gut. Aber ich bin dafür natürlich die schlechteste Auskunftsperson, weil ich von Anfang an davon überzeugt war, dass wir ein neues Büro benötigen.

ORF.at: Man stellt sich den Gerichtshof lediglich mit 14 Richtern und Richterinnen, und den sechs Ersatzmitgliedern vor. Allerdings gibt es noch das administrative Personal, über 100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Holzinger: Der Personalstand ist in den vergangenen Jahren sehr verstärkt worden. Das hängt damit zusammen, dass die Zahl der Fälle in den letzten 30 Jahren exorbitant angestiegen ist. In den ersten 1980er Jahren hat es mehrere hundert Fälle gegeben, ich glaube so rund 800 waren es 1982. Heute sind es über 5.000 Fälle. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit wesentlich mehr Bedeutung erlangt hat.

Ein anderer Grund für die Personalentwicklung ist ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs Anfang der 2000er Jahre, wonach der Verfassungsgerichtshof auch in personeller Hinsicht völlig autonom zu sein hat. Früher sind, ich sage das vereinfacht, die Personalagenden des Gerichtshofs vom Bundeskanzleramt wahrgenommen worden. Aber mit dem Erkenntnis hat man die Ansicht vertreten, dass der Verfassungsgerichtshof, um seine Unabhängigkeit gegenüber dem Bundeskanzler sicherstellen zu können, sich selbst um das Personal kümmern muss.

Die Aufstockung des Personals war aber auch notwendig, weil sich die Zahl der Fälle im Jahr 2008 von einem Tag auf den anderen verdoppelt hat. Der Verwaltungsgerichtshof wurde als oberste Instanz in Asylsachen quasi ausgeschlossen. So sind Asylwerber, die keinen positiven Bescheid erhalten haben, geschlossen zu uns gekommen. Plötzlich hatten wir Tausende Fälle mehr.

ORF.at: Dazu gehörte auch die Aufstockung des wissenschaftlichen Personals?

Holzinger: Ja. Zu meiner Zeit gehörten 40 Personen zum wissenschaftlichen Personal. Der Verfassungsgerichtshof ist für junge Leute eine sehr erstrebenswerte Funktion, weil er als Sprungbrett für eine juristische Karriere gilt. Eine ganze Reihe von aktuellen VfGH-Mitgliedern arbeitete in den 80er Jahren noch für damalige Richter und Richterinnen.

ORF.at: Haben Sie sich auf Sessionen gefreut?

Holzinger: Ich glaube, es gibt niemanden im richterlichen Gremium, der die Tätigkeit im Gerichtshof als Belastung empfindet. Man macht das gerne. Ich habe mich auf die Sessionen immer gefreut, war aber auch manchmal froh, dass es aus ist. Man sitzt mehr oder weniger drei Wochen zusammen und diskutiert einen Fall nach dem anderen. Zu vergessen sind nicht die gruppendynamischen Konsequenzen, wenn man einen bestimmten Zeitraum dauernd aufeinanderpickt. Aber es ist eine schöne Tätigkeit. Also für mich war das die Lebensaufgabe.