Christoph Grabenwarter (VfGH-Präsident) im ORF.at-Interview
ORF.at/Christian Öser
Christoph Grabenwarter

„Diese Überraschung war nicht die größte“

Christoph Grabenwarter ist seit 2005 Richter am Verfassungsgerichtshof (VfGH). Wegen seiner bisherigen Laufbahn war für viele Fachleute klar, dass er Präsident des Höchstgerichts wird. Dass er aber bereits ab 2019 interimistisch das Richtergremium leiten würde, war nicht nur für den erfahrenen Juristen eine Überraschung.

ORF.at: Herr Grabenwarter, wir sprachen bereits mit ihren Vorgängern Ludwig Adamovich und Gerhart Holzinger sowie mit ihrer Vorgängerin Brigitte Bierlein über ihre Erfahrungen im VfGH. Sie sind zwar erst seit 2020 Präsident, aber schon seit 2005 Mitglied des Höchstgerichts. Was ist Ihnen bisher am stärksten in Erinnerung geblieben?

Christoph Grabenwarter: Jener Tag Ende Mai 2019, als ich sehr plötzlich erfahren habe, dass meine nunmehrige Vorgängerin Bundeskanzlerin wird. Ich musste von heute auf morgen die interimistische Leitung des Gerichtshofs übernehmen. 

ORF.at: Damals wurde viel über mögliche Kanzler und Kanzlerinnen spekuliert. Hatten Sie schon eine Vorahnung, als Bierlein beim Bundespräsidenten in der Hofburg war? 

Grabenwarter: Nein. Ich wusste nur, dass es ein Vieraugengespräch ist. Der Inhalt war mir nicht bekannt. Auf dem Weg zurück in den Verfassungsgerichtshof rief sie mich an, und wir trafen uns dann in ihrem Büro. Für den Fall, dass sie zur Bundeskanzlerin ernannt würde, was ja dann eingetreten ist, haben wir die notwendigen Schritte besprochen.

Hinweis

Aus Gründen der Lesbarkeit wurden die transkribierten Interviewpassagen leicht geglättet, ohne jedoch ihren Sinngehalt zu verändern. Es kann zu kleinen Unterschieden im geschriebenen Text und im Videoausschnitt kommen.

Der VfGH stand unmittelbar vor der Juni-Session 2019, sodass es schnell und klaglos gehen musste. Es ist mir aber nicht schwergefallen, die Präsidentschaft zu übernehmen. Präsidentin Bierlein hatte alles gut vorbereitet.

ORF.at: Waren Sie überrascht, als Bierlein Ihnen von der Kanzlerschaft erzählt hat?

Grabenwarter: In diesen Tagen im Mai 2019 war man über so vieles überrascht, dass diese Überraschung gar nicht die größte war.

ORF.at: Können Sie sich noch erinnern, als Sie von Ihrer Nominierung zum Präsidenten erfahren haben? 

Grabenwarter: Nicht sehr genau. Dass die Bundesregierung einen Beschluss über meine Nominierung fassen wird, das habe ich, glaube ich, zwischen zwei Skitouren in Tirol erfahren. Das kann ich noch ungefähr rekonstruieren.

ORF.at: Als Sie 2005 zum VfGH-Richter ernannt wurden, waren Sie 38 Jahre alt. Bereitet man sich auf das Richteramt vor, das man bis zum 70. Lebensjahr ausüben darf?

Grabenwarter: Es ist ein Staatsamt, das mit Unabhängigkeitsgarantien ausgestattet ist, und gerade die lange Amtsdauer sichert die Unabhängigkeit. Das heißt, es ist keine Last, sondern die verfassungsrechtliche Garantie, die einen in die Lage versetzt, die ihm übertragenen Aufgaben so zu erfüllen, wie es die Verfassung eben vorsieht.

Christoph Grabenwarter (VfGH-Präsident) im ORF.at-Interview
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Grabenwarter wurde 2020 zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs ernannt

ORF.at: Aber als Verfassungsrichter stehen Sie schon mehr in der Öffentlichkeit als Träger anderer Staatsämter. Ist das nicht ein Faktor, über den man zumindest vor Amtsantritt nachdenkt?

Grabenwarter: Eigentlich weniger. Die Hälfte ist schon um, und es war auszuhalten. Die bevorstehende Amtsdauer spielt in dieser Überlegung kaum eine Rolle. Man möchte die Aufgaben in der Zeit, in der man die Verantwortung trägt, gut erfüllen. Die Zeit kommt einem im Vorhinein ohnehin immer länger vor als im Rückblick.

ORF.at: Ihre Amtszeit fällt in eine Krisenzeit. Wie geht man als VfGH-Präsident mit der Coronavirus-Pandemie um?

Grabenwarter: Als Präsident hat man auch eine Reihe von organisatorischen Aufgaben. Ich habe etwa dafür zu sorgen, dass mündliche Verhandlungen in einem guten Rahmen stattfinden können. Das ist in Coronavirus-Zeiten natürlich eine Herausforderung. Aber mit der Unterstützung aller Mitglieder und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses gelingt das alles sehr gut.

Vieraugengespräch mit der künftigen Bundeskanzlerin

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter hat im Frühsommer 2019 die Leitung des Höchstgerichts übernommen. Er wurde damals von Brigitte Bierlein darüber informiert, dass sie als Bundeskanzlerin infrage kommt.

ORF.at: Sie haben in den vergangenen 15 Jahren an vielen Entscheidungen mitgearbeitet, darunter auch die Aufhebung des zweiten Wahlgangs der Bundespräsidentschaftswahl 2016.

Grabenwarter: Das war für den gesamten Gerichtshof eine einmalige Situation. Wir haben wochenlang durchgearbeitet, um innerhalb von vier Wochen eine Entscheidung treffen zu können. Was mir aber als ein weiteres spektakuläreres Verfahren auch von der Arbeitsbelastung her in Erinnerung ist, ist das Verfahren über die Vorratsdatenspeicherung.

Zur Person

Grabenwarter wurde 1966 in Bruck/Mur geboren. Seit 1997 hat der Jurist mehrere Professuren inne. 2005 wurde er zum Richter am VfGH ernannt, 2018 zum Vizepräsidenten und zwei Jahre später zum Präsidenten.

Der Gerichtshof hat das erste und einzige Mal, seitdem ich dem Richtergremium angehöre, eine Frage an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gerichtet. Der hat die entsprechende Richtlinie später für nichtig erklärt.

ORF.at: Rund 90 Prozent der Entscheidungen des Richtergremiums fallen einstimmig aus. Sind die Beratungen vor den restlichen zehn Prozent schärfer und tragen die Mitglieder ihre Argumente mit mehr Vehemenz vor?

Grabenwarter: Die Gleichung „einstimmige Entscheidung ist gleich keine Debatte" stimmt nicht. Manchmal sind die Debatten vor einstimmigen Entscheidungen sehr intensiv und in Teilbereichen kontrovers. Und manchmal dauert die Diskussion bei einer knappen Entscheidung gar nicht so lange. Das hängt sehr vom Einzelfall ab. 

Was ich aber sagen kann, ist: Immer wenn wir länger um eine Entscheidung gerungen haben, haben wir sie nachher als eine gemeinsame Entscheidung akzeptiert und angenommen. Es gehört zum Stil dieses Hauses, dass man nicht versucht, im Nachhinein eine Entscheidung infrage zu stellen. In den Beratungen diskutiert man intensiv, und wenn die Entscheidung gefallen ist, ist sie die Grundlage für spätere Entscheidungen. Das macht die Rechtsprechung des VfGH auch vorhersehbar.

ORF.at: Trotz der Vorhersehbarkeit: Hat sich Ihrer Meinung nach die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren geändert?

Grabenwarter: Wir haben neue Themen und neue Herausforderungen. Denken Sie etwa an den Datenschutz. Insofern hat es Veränderungen gegeben. Aber um beim Thema Datenschutz zu bleiben: Der Verfassungsgerichtshof hat zu der Zeit, als ich noch kein Mitglied war, bereits eine sehr klare Linie gehabt, was die Wichtigkeit des Schutzes der Privatsphäre und des Datenschutzes betrifft.

Die heute amtierenden Richter führen diese Linie fort, verfeinern sie und passen sie an neue Gefährdungen an: Stichwort Vorratsdatenspeicherung, Stichwort Bundestrojaner. Das sind technische Fragen, die es im Jahr 2000 noch nicht gegeben hat. Aber ich glaube, die Richterinnen und Richter, die um die Jahrtausendwende im Gerichtshof waren, hätten das ähnlich entschieden wie die heutige Generation.

Christoph Grabenwarter (VfGH-Präsident) im ORF.at-Interview
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Die Fälle, die an den VfGH herangetragen werden, hätten sich im Laufe der Zeit gewandelt, sagt Grabenwarter

ORF.at: Orientiert sich die Rechtsprechung auch an gesellschaftliche Entwicklungen?

Grabenwarter: Als Richterinnen und Richter sind wir Teil der Gesellschaft und wir holen den gesellschaftlichen Diskurs mittelbar in den Verhandlungssaal herein, indem wir öffentliche Verhandlungen durchführen. Hier im Verhandlungssaal, wo wir gerade sitzen, wird nicht immer nur ein streng juristisches Argument vorgebracht.

Ein Beispiel: Bei der öffentlichen Verhandlung zum Thema Sterbehilfe vor wenigen Wochen hat eine Erkrankte sehr konkret ihre Situation geschildert, ein Palliativmediziner und eine Ärztin haben ihre Sichtweisen dargelegt.

Diese Argumente werden bei uns gehört und gewogen. Und natürlich nehmen wir auch die gesellschaftspolitische Diskussion im Übrigen wahr, auch wenn dies nicht formalisiert im Rahmen des Verfahrens geschieht. Jedes Mitglied des VfGH bringt eine weltanschauliche Vorprägung mit, die man nicht einfach so an der Garderobe abgibt. Aber man entscheidet am Ende nicht nach der Weltanschauung, sondern nach dem rechtlichen Argument.

ORF.at: Dennoch werden Richter und Richterinnen zumeist jenem politischen Lager zugeordnet, das sie für das Amt vorgeschlagen hat.

Grabenwarter: Auf der ganzen Welt werden Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter von, wenn Sie so wollen, politischen Organen bestellt, die ihrerseits durch demokratische Wahlen legitimiert sind. Es gibt offenbar in der Öffentlichkeit ein Bedürfnis, Menschen, die eine wichtige Rolle in Entscheidungsverfahren spielen, einer bestimmten Richtung zuzuordnen. Das nehme ich als Faktum wahr. Man gewöhnt sich daran.

Politische Zuschreibung: „Man gewöhnt sich daran“

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter sagt, dass die Politik keinen Einfluss auf die Entscheidungen der einzelnen Mitglieder hat. „Wir argumentieren entlang der Verfassung und der Rechtsprechung in früheren Fällen“, so der Jurist.

Es ist aber so, dass – und da spreche ich für alle Kolleginnen und Kollegen – wir uns durch die lange Amtsdauer ganz und gar nicht an diese Zuschreibungen gebunden fühlen. Wir sind zwar von einem bestimmten Organ in einer bestimmten Zeit nominiert und ernannt worden. Das spielt für die Art und Weise, wie wir hier argumentieren und wie wir in Beratungen abstimmen, aber keine Rolle. 

Wir entscheiden mit den Mitteln des Rechts und wir argumentieren entlang der Verfassung sowie nach der früheren Rechtsprechung. Das ist unsere Leitlinie, und nicht, welches Organ hat wann wen bestellt. Meine Ernennung ist 15 Jahre her. Kein einziges Mitglied der Bundesregierung, das damals an meiner Bestellung mitgewirkt hat, ist heute noch in der Politik tätig.

ORF.at: Die Politik hat noch nie interveniert?

Grabenwarter: Die Politik hat bei mir nie interveniert, und es würde, wenn man die Persönlichkeiten im Gerichtshof kennt, sehr nach hinten losgehen.

Christoph Grabenwarter (VfGH-Präsident) im ORF.at-Interview
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Die VfGH-Mitglieder würden zwar von politischen Organen vorgeschlagen und bestellt, die Richter seien aber unabhängig, sagt Grabenwarter

ORF.at: Wie gehen Sie mit Kritik an Entscheidungen um?

Grabenwarter: Sie gehört dazu, egal ob sie medial ist oder von Politikern oder Organen kommt, die von der Entscheidung betroffen sind. Ich finde eine Diskussion über Entscheidungen wichtig. Kritik an unserer Rechtsprechung ermöglicht es uns, unsere eigenen Entscheidungen zu reflektieren und für künftige Fälle das eine oder andere mitzunehmen.

Sehr wichtig ist auch eine kritische Diskussion in der Rechtswissenschaft, in der unsere Rechtsprechung begleitet wird. Einige meiner Kollegen am Gerichtshof, die Universitätsprofessoren sind, veranstalten sogar von sich aus Seminare, in denen sie Entscheidungen zur Diskussion stellen.

Das ertragen wir nicht nur gerne, sondern wir sind dafür dankbar. Wir wollen ja vermeiden, dass man vielleicht eines Tages betriebsblind werden könnte. Diese Gefahr wollen wir auf keinen Fall Realität werden lassen. Aber es ist in keinster Weise so, dass die Entscheidungen des Höchstgerichts überwiegend kritisiert werden. Mindestens genauso oft gibt es auch Zustimmung.

Warum sind nicht alle Bundesländer im VfGH vertreten?

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter hat im Frühsommer 2019 die Leitung des Höchstgerichts übernommen. Er wurde damals von Brigitte Bierlein darüber informiert, dass sie als Bundeskanzlerin infrage kommt.

ORF.at: Sie sind in einem Jahr Präsident geworden, in dem die Gesetzgebung wegen des Coronavirus quasi zwischen Tür und Angel stattfand. Vom VfGH wurden zwar keine Gesetze aufgehoben, aber Verordnungen als gesetzeswidrig erklärt.

Grabenwarter: Man muss sagen, dass die Gesetzgebung weiter stattgefunden hat. Ungewöhnlich waren die sehr raschen Gesetzesbeschlüsse. Am 15. März fand alles – vom Antrag an den Nationalrat bis zur Kundmachung im Bundesgesetzblatt – an einem Tag statt. Das ist kein Normalzustand, aber die Gesetzgebung war in jedem Schritt in den Bahnen der Verfassung.