Immunologin Ursula Wiedermann-Schmidt
ORF
Impfstoffe

„Erst jetzt die heikle Phase“

Beim weltweiten Wettlauf um einen Coronavirus-Impfstoff beginnt „erst jetzt die heikle Phase“. Das betont die Wiener Immunologin Ursula Wiedermann-Schmidt im Interview mit ORF.at. Sie kritisiert deutlich das Verhalten der Pharmakonzerne, Länder bereits jetzt zu drängen, sich auf Produkte festzulegen. Und sie plädiert dafür, stärker in eine Zwischenstufe der Therapie und Vorsorge zu investieren und damit der Entwicklung von Impfstoffen mehr Zeit zu geben. Denn Fehleinschätzungen bei den Impfstoffen könnten langfristig weitreichende Folgen für die Impfbereitschaft haben, so Wiedermann-Schmidt.

Mehr als 120 Stoffe weltweit befinden sich derzeit im präklinischen Stadium. Rund 20 Impfstoffe haben es mittlerweile in die klinische Prüfung geschafft – wurden also zumindest schon an kleineren Gruppen von Versuchspersonen getestet. Im Sommer dürften mehrere die dritte und entscheidende Phase der klinischen Tests – dafür sind Tausende Versuchspersonen nötig – beginnen.

Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin und des Zentrums für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der MedUni Wien betont, dass die präklinische Entwicklung bei den möglichen Coronavirus-Impfstoffen „sehr schnell und gut“ abgelaufen sei. Das sei aber auch nicht verwunderlich, denn dafür würden heutzutage „Impfstoffplattformen“ verwendet. „Das Fahrgestell bleibt immer gleich“, zieht sie einen Vergleich mit der Autoindustrie, die für verschiedene Modelle oft ein und dasselbe Fahrgestell verwendet.

Doch „erst jetzt beginnt die heikle Phase“, in der sich klären wird: „Wie sehr wirkt ein Impfstoffkandidat in verschiedenen Risikopopulationen? Wie gut verträglich ist er? Wie lange hält der Schutz an?“

„Wissen sehr frisch und begrenzt“

Das Problem sei, dass das gesamte Wissen zur Immunantwort auf das Coronavirus „sehr frisch und begrenzt ist“. Viele Krankheitsverläufe und deren Ursachen seien noch nicht geklärt. Aber wenn beim natürlichen Verlauf der Erkrankung gesundheitliche Schäden auftreten, „möchte man diese Nebeneffekte bei einem Vakzin natürlich vermeiden“.

Die Art des Impfstoffs und seine Wirkweise hat laut der Immunologin zudem „Folgen für das gesamte Impfkonzept“. Dieses sieht zwangsläufig anders aus, wenn ein Vakzin zwar vor der Erkrankung schützt, man aber nicht die Infektion und die Weitergabe der Infektion verhindern kann. Dann sei vor allem der Einsatz bei Risikopatientinnen und -patienten sinnvoll, um den Schweregrad einer Erkrankung zu minimieren. Bei einem Vakzin, das auch die Übertragung verhindert, sollte man dagegen vorrangig jene Bevölkerungsgruppen impfen, die die meisten „Spreader“ haben.

Scharfe Kritik an Druck der Pharmabranche

Die derzeitige Unklarheit über die künftigen Impfstoffe und der enorme Druck, rasch ein Vakzin bereitzustellen, ist für Wiedermann-Schmidt insgesamt „keine sehr erquickliche Lage“. Sie übt in diesem Zusammenhang vor allem scharfe Kritik an der Pharmabranche. Regierungen stehen weltweit stark unter Druck, sich zur fixen Abnahme von großen Impfstoffmengen zu verpflichten, um sich so den Zugang zu einem Impfstoff zu sichern.

Sie würden damit Länder zwingen, Entscheidungen zu treffen, bevor es das dafür nötige gesicherte wissenschaftliche Wissen gibt. Denn welcher Impfstoff letztlich überhaupt wirksam ist und zugelassen wird, weiß heute keiner. Für die Expertin ist das ein „sehr unethisches Vorgehen“.

Hier würden sich alle Regierungen im gleichen Dilemma befinden, auch die EU. Diese versuche zwar, Einkauf und Verteilung für ganz Europa zentral und fair zu organisieren – aber auch hier gilt: Es fehlt das gesicherte Wissen über Wirkung und Nebenwirkungen und welcher Impfstoff tatsächlich zur Zulassung kommt. Auch wenn die Immunologin – angesichts des weltweiten Runs auf Impfstoffe – Verständnis für die Politik hat, betont sie doch: „Ich weiß nicht, ob die Politik so in die Knie gehen muss.“ Dieser Wettlauf gehöre einfach unterbunden.

Warnung vor langfristigem Schaden

Wiedermann-Schmidt warnt auch vor einem langfristigen Schaden für das gesamte Impfwesen, sollten Impfstoffe überhastet auf den Markt kommen. Sie habe in ihrer 30-jährigen Laufbahn schon viele Vakzine von der Entwicklung bis zur Zulassung beobachtet. Und so sei etwa das britische Masernimpfprogramm selbst bei einem lange zugelassenen Impfstoff zusammengebrochen, nachdem eine – später wegen gefälschter Daten zurückgezogene – Studie einen möglichen Zusammenhang mit Autismus hergestellt hatte.

Faktum sei, dass es auch bei gut ausgetesteten Impfstoffen keine hundertprozentige Sicherheit geben könne. Es kann – selten, aber doch – vorkommen, dass bei Impfungen auch nach der Zulassung erst bei breiter Anwendung ganz seltene Nebenwirkungen auftreten, die in den Testreihen zuvor nicht auftauchten. Umso wichtiger sei es daher, bei der Entwicklung Zeit haben zu dürfen.

Kosten-Nutzen-Analyse für Zulassung

Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin des Bereichs Medizinmarktaufsicht in der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), verwies auf Nachfrage von ORF.at darauf, dass die Kriterien für eine Zulassung für Coronavirus-Impfstoffe nicht gelockert werden. Am Ende jedes Zulassungsverfahrens stehe eine Nutzen-Risiko-Analyse, die alle nötigen Daten und Studien bewertet. In Europa gibt es via Europäische Arzneimittelagentur und EU-Kommission ein „zentrales Verfahren“. Das bedeutet: Medikamente und Impfstoffe, die von Brüssel die Zulassung bekommen, sind automatisch in allen EU-Staaten zugelassen.

In besonders dringenden Fällen wie etwa einer Pandemie gibt es laut Wirthumer-Hoche ein „beschleunigtes Verfahren“. Das bedeutet nicht, dass die Bedingungen, etwa bei den Testungen, gelockert werden. Vielmehr priorisiert die Arzneimittelagentur diesen Impfstoff und konzentriert ihre Personalressourcen dann etwa auf die nötige Nutzen-Risiko-Bewertung von Coronavirus-Vakzinen.

Plädoyer für passive Immunisierung

Angesichts des Aufwands und der Zeiterfordernis zur Entwicklung eines guten Vakzins plädiert Wiedermann-Schmidt daher für eine Zwischenstufe, bis es sichere und ausgetestete Impfstoffe gibt. Diese Möglichkeit gebe es nämlich, sei aber bisher viel zu wenig im Fokus – und zwar in Form einer passiven Immunisierung. Das könne durch das Herausfiltern eines Serums aus dem Blut von genesenen Covid-19-Kranken, das besonders viele Antikörper gegen das Virus enthält, erfolgen, so Wiedermann-Schmidt. Mit Hilfe gentechnischer Verfahren können die Antikörper im Labor vermehrt werden.

Als Therapie wiederholt angewandt

Weltweit wird das gereinigte Serum Genesener vor allem bei schwer Erkrankten immer wieder als Therapie eingesetzt. Auch in Österreich wurde das bereits mehrfach – etwa am Uniklinikum Graz zur Behandlung Erkrankter – eingesetzt.

Bereits im Mai hatte der Grazer Infektiologe Robert Krause von 20 solchen Behandlungsfällen in Österreich berichtet. Laut Krause ist das aber derzeit ein experimenteller Therapieansatz „für ganz ausgewählte Patienten“. Krause verwies auf mögliche Gefahren, etwa allergische Reaktionen und Schädigungen der ohnehin angegriffenen Lunge.

Ministerium: Gehört in Therapiebereich

Das Gesundheitsministerium betonte auf Nachfrage, der Einsatz des Serums genesener Covid-19-Erkrankter „gehört in den Therapiebereich, nicht in jenen der Prävention“. Wiedermann plädiert unterdessen dafür, das Serum Genesener auch vorbeugend als Schutz einzusetzen – in Form einer passiven Immunisierung, wie es sie auch in anderen Bereichen gibt.

Anders als eine aktive Impfung sorgt diese nicht dafür, dass der Körper selbst Antikörper gegen das Virus bildet. Die Wirkung geht daher in der Regel nach mehreren Wochen verloren. Dafür wirkt die Immunisierung sofort, während nach einer Impfung das Immunsystem erst die Antikörper produzieren muss, um für den nötigen Schutz zu sorgen.

Impfung in manchen Fällen nicht möglich

Dazu komme, so die Immunologin, dass spezielle Gruppen, etwa Immunsupprimierte – beispielsweise nach einer Organtransplantation –, gar nicht geimpft werden könnten, da sie wegen des heruntergefahrenen Immunsystems selbst keine Antikörper bilden können. Für sie sei – solange es kein Vakzin gibt – eine passive Immunisierung die einzige Möglichkeit, sich zu schützen.

Diese Convalescent Sera, also gereinigtes Blutserum von Covid-19-Genesenen, könnten laut Wiedermann-Schmidt sowohl zur Heilung Erkrankter als auch vorbeugend eingesetzt werden. Man sollte etwa überlegen, Risikogruppen und Systemerhalterinnen und -erhalter mit entsprechenden Seren zu versorgen. Die Immunologin Wiedermann-Schmidt ist jedenfalls überzeugt, dass dieser Schritt „kommen wird, bevor es ein Vakzin geben wird“.