Weißrussische Präsidentschaftskandidatin, Swetlana Tichanowskaja
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Weißrussland

Lukaschenko muss erstmals zittern

Am Sonntag wählt Weißrussland einen neuen Präsidenten – oder: eine neue Präsidentin. Denn der Staatschef Alexander Lukaschenko sieht sich seit seiner nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten andauernden Amtszeit nun erstmals mit einer ernsthaften Konkurrenz konfrontiert, die ihm die sicher geglaubte Wiederwahl streitig machen könnte.

Insgesamt fünf Bewerber treten zur Präsidentschaftswahl an, von Bedeutung dürften aber nur zwei sein, spitzt sich die Wahl doch auf ein Duell zwischen Lukaschenko und der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja zu. Dabei wollte Tichanowskaja nie Präsidentin werden – und will es auch jetzt nicht.

Die 37-Jährige war laut eigenen Angaben nur deshalb zu der Wahl angetreten, nachdem ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, von der Wahl ausgeschlossen und inhaftiert worden war. Tichanowskajas Ziel ist es, im Fall eines Sieges alle politischen Gefangenen freizulassen und mit ihnen eine neue Präsidentenwahl anzusetzen. „Wir wollen nur einen Machtwechsel, ehrliche Wahlen“, so die ehemalige Übersetzerin, die als einzige Oppositionelle zur Wahl zugelassen wurde.

Swetlana Tichanowskaja, Weronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa
APA/AFP/Sergei Gapon
Das „Victory“-Zeichen, eine geballte Faust und ein Herz sind die Wahlkampfsymbole des Tichanowskaja-Trios

Drei Frauen gegen Lukaschenko

Obwohl Tichanowskaja weder politische Erfahrung noch konkrete politische Standpunkte hat, ist es ihr gelungen, während des Wahlkampfs Zehntausende Unterstützer und Unterstützerinnen zu Kundgebungen zu mobilisieren und hinter sich zu versammeln. Noch nie zuvor hatten in der Ex-Sowjetrepublik Gegner des 65-jährigen Lukaschenko einen solchen Zulauf.

Unterstützt wird die ausgebildete Englisch- und Deutschlehrerin sowie Mutter von zwei Kindern im Wahlkampf von der Frau des ebenfalls von der Wahl ausgeschlossenen Ex-Diplomaten Waleri Zepkalo, Weronika Zepkalo, sowie der Kampagnenchefin des nicht zugelassenen Oppositionspolitikers Viktor Babaryko, Maria Kolesnikowa. Letztere wurde nach Angaben ihres Wahlkampfteams Samstagabend vorübergehend festgenommen.

Festnahme und Absage

Zu einer Festnahme kam es aber bereits auch im Team der Lukaschenko-Rivalin: So wurde die Wahlkampfleiterin Maria Moros am Donnerstag kurzzeitig inhaftiert. Offizielle Stellen dementieren eine Festnahme, man habe „zu einem Gespräch eingeladen“.

Auch eine für Donnerstagabend geplante Großkundgebung der Opposition wurde kurzfristig abgesagt. Die Behörden begründeten die Absage der Wahlveranstaltung im Park der Völkerfreundschaft mit einem Fest des Verteidigungsministeriums. Die Frauen kritisierten, dass ihnen sonst kein Platz für den Wahlkampf zur Verfügung gestellt werde.

Hartes Vorgehen gegen Opposition und Gegner

Unter dem seit 1994 amtierenden Präsidenten Lukaschenko gehen die Behörden hart gegen die Opposition vor. Nicht nur sitzen mehrere potenzielle Präsidentschaftskandidaten im Gefängnis, mindestens 1.100 Menschen wurden laut der Menschenrechtsorganisation Wjasna auch seit Mai bei Wahlkampfveranstaltungen festgenommen.

Paul Krisai (ORF) zur Wahl in Weißrussland

Korrespondent Paul Krisai aus dem ORF-Büro Moskau über die Ausgangslage der Wahl am Sonntag und Lukaschenkos Turbulenzen.

Des Öfteren warnte Lukaschenko während des Wahlkampfs auch vor Putschversuchen in seinem Land und einem „Massaker mitten in Minsk“. Es gebe Kräfte, die versuchten, eine Revolution anzuzetteln, sagte er etwa am Dienstag. „Sie werden scheitern.“ Um eine „Revolution“ zu verhindern, drohte er sogar mit einem Armeeeinsatz.

Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko
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Lukaschenko warnt vor gewaltsamen Umstürzen, Putschversuchen und einer Revolution. Er werde das Land jedoch schützen, so der Präsident.

Positionierung als Garant für Stabilität und Sicherheit

Der Staatschef behauptete zudem, dass ausländische Kräfte einen Umsturz herbeiführen wollten. Russische Söldner seien speziell dafür ins Land geschickt worden. Lukaschenko betonte aber auch, dass Russland immer engster Verbündeter seines Landes bleiben werde. Der Kreml streitet die Vorwürfe ab.

Beobachter schließen folglich nicht aus, dass die jüngste Festnahme der angeblichen russischen Söldner wahltaktisch motiviert ist. Lukaschenko könnte damit bewusst Angst vor gewaltsamen Umbrüchen schüren, um seine Wiederwahl zu sichern. Schließlich positioniert sich der Präsident selbst als Garant für Stabilität und Sicherheit in einer chaotischen Welt.

So sagte Lukaschenko, er werde das Land vor seinen Rivalen schützen, die von „Marionettenspielern“ im Ausland geführt würden, und richtete einen Appell an seine Wähler: „Lasst mich das Land retten!“ Der Politologe Andrej Porotnikow fasst die Wahlkampfstrategie folgendermaßen zusammen: Lukaschenko baue Druck auf gegen seine Gegner mit der These, dass Krieg ausbreche, wenn er nicht mehr an der Macht sei.

„Hausfrau“ versus „Diktator“?

Eine der meistdiskutierten Fragen ist nun, ob eine „Hausfrau“ Europas „letzten Diktator“, wie Lukaschenko von Kritikern genannt wird, besiegen könne. Experten zufolge dürfte die Zustimmung zu Lukaschenko auf 20 bis 25 Prozent gesunken sein, in unabhängigen Umfragen kam Lukaschenko in den vergangenen Jahren noch auf Zustimmungsraten von 30 bis 40 Prozent. Bei den Wahlen schnellten seine Ergebnisse offiziell dann dennoch auf 75 bis 83 Prozent hoch.

Laut Beobachtern ist der Unmut in der Bevölkerung über die Lage der Wirtschaft und der Menschenrechte diesmal höher als sonst: „Es gibt das erste Mal seit Jahren eine Chance für etwas Neues in Weißrussland“, sagt etwa die Expertin Maryna Rakhlei von der Denkfabrik German Marshall Fund in Berlin der dpa. Nach Jahren des Stillstands unter Lukaschenko seien die Menschen „müde und hoffnungslos“ – und sie hätten die Angst verloren vor Veränderung.

Protestierende und Polizei in Minsk
APA/AFP/Sergei Gapon
Hunderte andere politische Rivalen Lukaschenkos und Regierungsgegner wurden im Vorfeld der Wahlen festgenommen, eingesperrt oder von der Abstimmung ausgeschlossen

„Corona hat alles verändert“

Nicht zuletzt dürfte Lukaschenko aber auch die Coronavirus-Krise einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Anders als im Rest Europas gab es in Weißrussland keinen „Lock-down“, Massenveranstaltungen wie beispielsweise eine Militärparade gingen wie geplant über die Bühne. Der 65-Jährige hatte das Virus kleingeredet, zuletzt aber selbst eine „symptomlose“ Infektion eingestanden. Insgesamt sind in dem Land zwischen Russland und Polen fast 70.000 Menschen infiziert und knapp 600 mit dem Coronavirus gestorben. Lukaschenko meinte aber kürzlich, sein Land habe „diese schwere Prüfung“ bereits bestanden.

„Letzter Diktator Europas“

Lukaschenko regiert seit 26 Jahren mit harter Hand und stellt sich zur Wiederwahl – im Falle eines Sieges wäre es seine sechste Amtszeit. Von Kritikern wird er oft als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet. Tatsächlich ist er der am längsten herrschende Staatschef in einer Republik in Europa, nur einige Monarchen sind länger an der Spitze ihrer Staaten, jedoch ohne reale politische Macht.

„Corona hat alles verändert“, sagt Expertin Rakhlei. In der Krise habe sich Lukaschenko abfällig geäußert über jene, die an dem Virus starben. „Das hat viele Menschen tief verletzt.“ Zerstört habe er damit auch sein Bild vom Landesvater, der sich um das Wohl der Menschen kümmere.

Proteste nach Wahlbetrug möglich

Auch die „Financial Times“ schreibt: „Das Team von Swetlana Tichanowskaja knüpft an die Unzufriedenheit mit dem Lebensstandard an, verstärkt noch durch Lukaschenkos sture Leugnung der Coronavirus-Pandemie, die er als Massenpsychose abgetan hat, die man am besten mit Wodka oder einem Besuch in der Sauna behandelt.“

Und weiter: Die Oppositionskandidatin habe sich zwar als „energische und kluge Wahlkämpferin“ erwiesen, Lukaschenko werde aber nicht davon abzuhalten sein, einen weiteren umfassenden Sieg zu deklarieren. Tichanowskajas Team wolle allerdings Smartphones und Soziale Netzwerke nutzen, um auf Wahlbetrug aufmerksam zu machen. Sollte dieser in hohem Maße erfolgen, könnten Protestdemonstrationen größer als früher ausfallen – „mit unvorhersehbaren Konsequenzen“.

Lukaschenko selbst sagte jedoch, er werde „jede Entscheidung“ der Wähler akzeptieren. Zudem betonte er, dass er sich Reformen nicht verschließen werde und auch zu Änderungen der Verfassung bereit sei. Die Abstimmung zur Präsidentschaftswahl begann für die 6,8 Millionen Wähler und Wählerinnen bereits am Dienstag.

Tichanowskaja: „Rechne nicht mit fairer Wahl“

Tichanowskaja hatte ihre Anhänger mit Blick auf mögliche Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos zur Stimmabgabe erst am Hauptwahltag, am Sonntag, aufgerufen. Dass sie nicht mit einem fairen Urnengang rechne, betonte Tichanowskaja erneut am Freitag: „Wir werden nicht in der Lage sein, Betrug zu verhindern.“ Bereits seit Beginn der vorzeitigen Stimmabgabe am Dienstag werde „schamlos“ manipuliert. „Da muss man realistisch sein“, so Tichanowskaja gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Und weiter: „Die Leute wachen auf und finden ihr Selbstwertgefühl wieder.“ Überall würden jetzt Fragen laut: „Warum landet meine Stimme im Müll? Warum werde ich nicht gehört, will man mich nicht hören? Warum kann ich nichts sagen, weil ich anschließend sofort eingesperrt werde?“ In jedem Fall habe die unerwartet große Unterstützung für ihre aussichtslos erscheinende Kandidatur gezeigt, dass sich etwas tue im Land, sagte Tichanowskaja weiter. Sie schränkte aber ein: „Viele sind noch nicht aufgewacht.“

Keine Wahlbeobachter

In der Vergangenheit hatten internationale Wahlbeobachter die Abstimmungen stets als undemokratisch kritisiert. Die Ergebnisse der vergangenen vier Präsidentschaftswahlen in Weißrussland wurden von den Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt.

In diesem Jahr entsendet die OSZE keine Wahlbeobachter in das Land. Grund dafür sei, dass die Regierung in Minsk keine Einladungen ausgesprochen habe, erklärte die Organisation.

Appell von EU und Putin

Die EU forderte kurz vor der Wahl nachdrücklich einen „freien und gerechten“ Wahlgang. „Die Souveränität und Unabhängigkeit des Landes kann nur durch friedliche, freie und faire Wahlen gestärkt werden“, so EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Freitag. Er fordert das Land zudem auf, alle aus politischen Gründen inhaftierten Menschenrechtler, Aktivisten und Journalisten unverzüglich freizulassen.

Auch Russlands Präsident Wladimir Putin sprach sich für Stabilität im Nachbarland aus. Russland habe ein „Interesse an der Aufrechterhaltung einer stabilen innenpolitischen Situation in Belarus und der Durchführung der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in einer ruhigen Atmosphäre“, erklärte der Kreml nach einem Telefongespräch zwischen Putin und Lukaschenko am Freitag.