Demonstranten mit Fahnen
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Weißrussland

Chance auf die große Wende

Auch früher hat Präsident Alexander Lukaschenko Protestbewegungen niederschlagen lassen. Dieses Mal spielen aber auch Wirtschaft und Pandemie ins Chaos nach der weißrussischen Wahl hinein. Ein Wandel sei unter bestimmten Vorzeichen möglich, sagt der Innsbrucker Politikwissenschaftler Gerhard Mangott. Doch Lukaschenko hat auch noch seine Trümpfe im Ärmel.

Inhaftierungen, Todesopfer, Chaos. Nach der Präsidentschaftswahl am 9. August ist in Weißrussland einiges in Bewegung geraten: Tausende gehen auf die Straßen, die Solidarität der Bevölkerung wächst. Doch die Polizei und die Spezialeinheit OMON gehen im Namen der Regierung brutal gegen die eigene Bevölkerung und die Presse vor. Die Gewalt der Behörden befeuert die Sehnsucht nach Wandel in der Ex-Sowjetrepublik nur. „Verzieh dich, bevor es zu spät ist“, ließ die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch via Radio Free Europe Lukaschenko ausrichten. Die EU brachte sogar überraschend Sanktionen auf den Weg.

Ob der Schwung der Oppositionsbewegung von Dauer oder Erfolg gekrönt sein wird, ist aber fraglich. Bisher konnte Lukaschenko in 26 Jahren an der Macht noch jeden Widerstand brechen. Die letzte größere Protestbewegung gab es nach der Wahl 2010, auch diese Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, wie Politologe Mangott im Gespräch mit ORF.at sagt. Und auch 2020 will der 65-jährige Lukaschenko, der sich von Anhängern „Papa“ („Batka“) nennen lässt, die Zügel nicht aus der Hand geben. Nicht umsonst ist er der längstdienende Staatschef in Europa.

Annäherung an EU

Lukaschenko stammt aus ärmlichen Verhältnissen, er wuchs in einem Dorf 200 Kilometer von Minsk entfernt auf und machte Karriere in der Sowjethierarchie. 1994 wurde er Staatspräsident – erst der zweite seit der Unabhängigkeit der „Republik Belarus“ 1991. Seither zog er die Macht an sich: Nach einem Verfassungsreferendum verfügt Lukaschenko über weitreichende Befugnisse, die Kritiker als diktatorisch bezeichnen. Auch das Parlament wurde geschwächt: Darin sitzen 110 Abgeordnete, die stramm auf Linie sind.

Wegen Repressionen, Unterdrückung und Gewalt verhängte die EU 2004 erste Strafmaßnahmen gegen Weißrussland, die später erweitert wurden. Die Sanktionen schlossen auch Lukaschenko selbst ein. Der Staatspräsident kam den Kritikern daraufhin entgegen und ließ etwa politische Gefangene frei. Zudem inszenierte er sich als „ehrlicher Makler“ im Ukraine-Konflikt. 2015 gab er den Gastgeber und Vermittler in Minsk und schaffte so auch – zumindest vorübergehend – die medienwirksame Rückkehr aus der Isolation in den Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs. 2016 wurden die Sanktionen gegen Weißrussland großteils ausgesetzt.

Protestbewegung ohne Leitfigur

Nun scheint aber die Gegenwehr gegen den Langzeitpräsidenten im eigenen Land so groß, dass Demonstrierende und Opposition unerwartet hart bekämpft werden. Wie groß die Gruppe der Gegner Lukaschenkos tatsächlich ist, ist schwer zu sagen, so Experte Mangott. „Die Protestbewegung ist nicht homogen, und es gibt keine wirkliche Führungspersönlichkeit, die die Richtung angibt“, sagt Mangott. Die Proteste in den Städten Weißrusslands hätten sich von der ins Ausland geflüchteten Oppositionsfigur Swetlana Tichanowskaja emanzipiert.

Kritik an Investitionen in Weißrussland

Österreich war dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko in der jüngeren Vergangenheit recht freundlich gesinnt. Einige heimische Unternehmen investierten kräftig in seinem Land. Dieser Umstand sorgte für Kritik seitens der Opposition.

Tichanowskaja, gelernte Dolmetscherin und später Hausfrau, war anstelle ihres Ehemannes Sergej Tichanowski angetreten. Er ist in Weißrussland ein populärer Blogger und wurde zuerst von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen und dann verhaftet. Ausländischen Angaben zufolge gewann Tichanowskaja die Wahl haushoch. Offenbar auf Druck aus Weißrussland verließ sie aber das Land und ging nach Litauen.

Tichanowskaja hatte Mitstreiterinnen um sich versammelt, etwa Veronika Zepkalo, Frau des von der Wahl ausgeschlossenen und nach Russland geflohenen Ex-Diplomaten Waleri Zepkalo. Auch Maria Kolesnikowa, Kampagnenchefin des nicht zugelassenen Oppositionspolitikers Viktor Babaryko, ist in der oppositionellen Gruppe. Kolesnikowa ist inzwischen die einzige Figur, die ein Sprachrohr der Proteste darstellt, so Mangott. Sie beteiligt sich nicht an Demos, wendet sich aber weiterhin per Videobotschaften an die Anhänger der Opposition.

Stadt-Land-Gefälle

Bei den Protesten handle es sich um eine „städtische Angelegenheit“, nicht nur in Minsk, aber hauptsächlich. Zudem sei es ein Mittelklassephänomen. Es gingen jene auf die Straßen, die die besser gebildet sind und mehr verdienen, sowie die Jungen, die diesem Milieu entstammen.

Grafik zur Wahl in Weißrussland
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA; Fotos: AFP

Den urbanen Gegnern gegenüber stehen die Anhänger Lukaschenkos, die in den ländlichen Regionen sowie bei den Älteren zu finden seien. Nach seinem Erdrutschsieg und dem Amtsantritt 1994 habe Lukaschenko durch die Beibehaltung des Staatssektors dem Land ein Schicksal wie der Ukraine oder Russland erspart. „Weißrussland ist besser durch die postsowjetische Krise gekommen und hat weniger Elend gesehen“, so Mangott. Das rechneten Lukaschenko noch viele an.

Lukaschenko verspielte Vertrauen

Zuletzt habe es aber einen großen Vertrauensverlust gegeben. Dafür sei einerseits Lukaschenkos Umgang mit der CoV-Pandemie verantwortlich. Er spielte sie wiederholt herunter, sprach von „Schwindel“ und von Prophylaxe durch Sauna oder Wodka. In Weißrussland gab es weder Lockdown noch Maskenpflicht. Das Resultat ist eine Infektionsrate pro Kopf, die eine der höchsten in Europa ist.

Demonstranten mit Plakat von Alexander Lukashenko
APA/AFP/Dimitar Dilkoff
Seit der Präsidentschaftswahl gehen die Menschen gegen Lukaschenko auf die Straße

Andererseits leidet die Wirtschaft, die zu 70 Prozent in staatlicher Hand ist. Schon vor der CoV-Krise war das Wachstum nur moderat, Lukaschenko versprach wiederholt eine Steigerung der Reallöhne, die nie eintraf. Heuer verliert die Wirtschaft laut Prognose sechs Prozent. Weißrussland ist etwa zweieinhalbmal so groß wie Österreich, das Land profitiert weder von nennenswerten Rohstoffvorkommnissen noch läuft der Tourismus. Ohne den starken Partner Russland an der Seite wäre das Land wohl nur schwer lebensfähig. Von hier kamen Kredite und billige Energie, mit der sich Lukaschenko lange Zeit Sympathien sicherte.

Kreml auf kritischer Distanz

Doch Lukaschenko habe eine „janusköpfige Außenpolitik“ betrieben, so der Politologe. Zwischen Europa und Russland schwankend, habe er immer wieder versucht, beide Parteien gegeneinander auszuspielen. Die Annexion der Krim durch Russland etwa erkannte er trotz der großen Unterstützung durch Moskau nicht an und inszenierte sich dafür im Westen als Stabilitätsfaktor.

Für Russland habe sich Lukaschenko immer mehr zu einem unverlässlichen Partner entwickelt, der Kreml gehe in letzter Zeit stärker auf kritische Distanz, sagt Mangott. Dass Russlands Präsident Wladimir Putin unter Lukaschenkos Gratulanten nach der Wahl war, sei nicht mehr als ein „Akt der diplomatischen Höflichkeit“ gewesen, sagt Mangott. Im Kreml warte man erst einmal ab, wer sich in Minsk am Ende durchsetzen wird. Lukaschenko aber meldete sich nach eigenen Angaben bereits bei Putin und bat um Unterstützung – diese sei ihm auch zugesichert worden, wie er am Samstag angab.

Wer Lukaschenko den Rücken stärkt

Die EU stecke hingegen in einem strategischen Dilemma, so Mangott. Man habe immer Weißrusslands Unabhängigkeit von Russland stärken wollen, müsse nun aber angesichts der Repressalien gegen Oppositionelle Glaubwürdigkeit beweisen. Sanktionen werden nun vorbereitet, doch ist die EU auch gespalten zwischen jenen Staaten, die auf Menschenrechte und ähnliche Werte pochen und jenen, die in Weißrussland geopolitische Interessen verfolgen.

Der Osteuropaexperte sieht eine Chance auf einen politischen Wandel in Weißrussland, wenn sich die Proteste auf weitere soziale Schichten ausbreiten und sich großflächige Streiks in bedeutenden Staatsbetrieben ergeben. Lukaschenko könne sich aber noch auf seinen Apparat verlassen. Die Sicherheitskräfte und Geheimdienste seien loyal. „Ihnen ist es unter Lukaschenko gut ergangen. Daher halte ich es derzeit eher für wahrscheinlich, dass er sich durchsetzt.“