Menschen in der Victoria Station in London
APA/AFP/Niklas Halle’n
WHO

CoV-Mutation „nicht außer Kontrolle“

Die neue Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 ist außer in Großbritannien auch in Australien, Island, Italien, den Niederlanden und Dänemark gefunden worden. Abgesehen von Dänemark seien es Einzelfälle gewesen, berichtete die Coronavirus-Expertin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Maria van Kerkhove, am Montag in Genf. Nach Einschätzung des bei der WHO für medizinische Notfälle zuständigen Michael Ryan sei die Lage aber „nicht außer Kontrolle“.

„Selbst wenn das Virus sich nun ein kleines bisschen effizienter ausbreitet, kann das Virus gestoppt werden“, wie Ryan dazu bei einer Pressekonferenz noch sagte. Der WHO-Abteilungsleiter rief aber dazu auf, die Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Mutation zu verstärken.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson hatte am Wochenende erklärt, die in Südostengland aufgetretene Mutation sei „bis zu 70 Prozent ansteckender“ als die Ursprungsvariante des Coronavirus. Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock sagte, die neue Virusvariante sei „außer Kontrolle“.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus erinnerte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter am Montagabend daran, dass Viren mit der Zeit mutieren, und das sei „natürlich und wird erwartet“.

Sorge um Virusmutation

Auf der einen Seite Euphorie über die schnelle Impfstoffzulassung, auf der anderen Seite Beunruhigung wegen des mutierten Virus, das in Großbritannien aufgetreten ist. Vor Kurzem hat es dazu auch ein Krisentreffen der EU-Staaten gegeben – ohne konkrete Ergebnisse. Laut Experten weiß man noch zu wenig über das mutierte Virus.

Drosten: „Das sieht nicht gut aus“

Neuen Untersuchungen zufolge macht die neue Variante das Coronavirus sehr wahrscheinlich leichter übertragbar. Zu diesem Schluss kommen Experten der englischen Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE). Sie verweisen dabei auf Erbgutuntersuchungen der neuen Variante und auf Modellrechnungen zur Ausbreitung. Eine der rund 20 Mutationen der neuen Variante B.1.1.7 dürfte insbesondere dazu beitragen, dass das Virus leichter übertragen werden könne.

Der deutsche Virologe Christian Drosten schrieb zu den PHS-Daten: „Das sieht leider nicht gut aus.“ Positiv sei aber, dass B.1.1.7-Fälle bisher nur in Gebieten zugenommen haben, wo die Gesamtinzidenz hoch oder ansteigend war. „Kontaktreduktion wirkt also auch gegen die Verbreitung der Mutante“, schreibt Drosten.

Den PHS-Forschern macht insbesondere eine Mutation mit der Bezeichnung N501Y Sorgen. Sie könnte den Daten zufolge dafür sorgen, dass das Virus besser an Zielzellen andocken kann. Zudem liege die Mutation an einer Stelle, an der auch bestimmte Antikörper des Menschen angreifen, um das Virus auszuschalten. „Deshalb ist es möglich, dass solche Varianten die Wirksamkeit beim Neutralisieren des Virus beeinflussen.“

Viele offene Fragen

Britischen Forschenden zufolge ist die neue Variante des Virus möglicherweise auch für Kinder ansteckender als bisherige. „Es gibt einen Anhaltspunkt, dass sie eine höhere Neigung hat, Kinder zu infizieren“, sagte Neil Ferguson vom Imperial College London, ein Mitglied der Expertengruppe NERVTAG (New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group), die die Regierung berät. Der genaue Mechanismus sei aber noch unklar. Seiner Kollegin Wendy Barclay zufolge betreffen einige Mutationen die Art, wie das Virus in eine Zelle eindringt.

Wenn sich an einem Virus wie hier die Proteine veränderten, habe das Einfluss darauf, wie gut das Virus in menschliche Zellen eindringen könne, sagte Ryan. Wenn es einfacher eindringen könne, könne auch die Viruslast steigen – die Menge an Virus, die ein Mensch in sich trägt –, und das führe dann auch zu einer höheren Ansteckung. Es sei allerdings noch unklar, ob die neue Variante tatsächlich stärker übertragbar sei.

Die Angst vor der Ausbreitung der neuen Coronavirus-Variante hat dennoch bereits weitreichende Folgen und sorgte kurz vor den Weihnachtsfeiertagen weltweit und besonders in Europa für Reisechaos. Zahlreiche Länder, unter ihnen Österreich, kappten ihre Flugverbindungen mit Großbritannien.

Keine Hinweise auf schwereren Krankheitsverlauf

Nach Angaben der WHO gibt es auch keine Hinweise darauf, dass Menschen, bei denen die neue Variante nachgewiesen wurde, einen schwereren Krankheitsverlauf haben als früher Infizierte. Drosten warnte in diesem Zusammenhang vor vorschnellen Schlüssen. Man benötige mehr Daten zur Mutation und müsse weitere Erkenntnisse abwarten. Man dürfe sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, er wolle allerdings auch nicht verharmlosen, wie der Virologe dazu am Montag noch sagte. Die Angabe über eine 70-prozentig höhere Ansteckungsrate im Vergleich zur Ursprungsvariante sei aber ein Schätzwert. Die Zahl ist laut Drosten „einfach so genannt worden“.

„Nicht ungewöhnlich“

Auch Bernd Lamprecht, Chef der Lungenheilkunde im Kepler Uniklinikum in Linz, äußerte sich ähnlich. „Prinzipiell muss man sagen, dass Mutationen bei Viren nicht ungewöhnlich sind, und solche Mutationen müssen nicht zwingend dazu führen, dass sich diese neuen Varianten dann auch durchsetzen. Veränderungen können sowohl zu milderen als auch zu schwereren Verläufen führen oder nur die Ansteckungsfähigkeit beeinflussen“ – mehr dazu in ooe.ORF.at.

Für eine fundierte Einschätzung zur Gefährlichkeit der vor allem in Großbritannien kursierenden neuen Variante von SARS-CoV-2 sei es noch zu früh, hieß es dazu von Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) in Wien. Zwar gebe es Hinweise zu einer beschleunigten Ausbreitung, der Krankheitsverlauf sei aber offenbar nicht verändert, wie Bergthaler dazu gegenüber dem Ö1-Mittagsjournal sagte.

Viele genetische Veränderungen

Nach Angaben des obersten wissenschaftlichen Beraters der britischen Regierung, Patrick Vallance, habe sich die CoV-Mutation seit ihrem ersten Auftreten Mitte September in London und der südöstlichen Grafschaft Kent mittlerweile zur „dominanten“ Form entwickelt. Verlässliche Studien dazu gibt es allerdings noch nicht.

Ersten Analysen britischer Wissenschaftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein sitzt auf der Oberfläche des Virus. Der Erreger benötigt es, um in menschliche Zellen einzudringen.

Bergthaler: „Argument für Strategiewechsel“

Was man derzeit nicht weiß, sei, ob irgendeine dieser Mutationen zu Veränderungen des Virus führt, sagte Bergthaler im „Kurier“. Er habe den Eindruck, „dass die britischen Politiker diese Virusvariante als Argument für ihren Strategiewechsel zu Weihnachten benützen“: „Denn im Vergleich dazu sind die Reaktionen der Wissenschaftler – auch der britischen – sehr vorsichtig. Man kann nicht ausschließen, dass diese Mutationen ansteckender sind, man hat aber keinen Beweis dafür.“

Seitens des Gesundheitsministeriums hieß es gegenüber ORF.at am Sonntag: „Diese Virusmutation wurde in Österreich bisher nicht nachgewiesen.“ Man stehe dazu in engem Austausch mit der WHO und der Europäischen Gesundheitsbehörde (ECDC).

Biontech-Chef zuversichtlich

Was die Auswirkungen des am Montag von der EU zugelassenen ersten CoV-Impstoffs betrifft, zeigte sich der Chef des neben Pfizer an der Entwicklung beteiligten Biotechnologieunternehmens Biontech Ugur Sahin zuversichtlich, dass der Impfstoff auch mit der Großbritannien nachgewiesenen neuen Virusvariante funktionieren wird.

Theoretisch können Mutationen auch die Wirksamkeit des Impfstoffes beeinflussen – der zielt nämlich genau auf das Spike-Protein. Allerdings erzeuge der derzeit eingesetzte Impfstoff Immunreaktionen gegen das gesamte Protein, das sich auf der Oberfläche des Virus befindet, erläuterte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. „Selbst wenn eine Mutation vorhanden ist, verhindert dies nicht die Erkennung durch das Immunsystem.“

„Tausend große Kanonen auf Virus gerichtet“

Tatsächlich müssen auch Impfstoffe gegen andere Viruserkrankungen, etwa gegen Grippe, immer wieder an aktuell zirkulierende Virusvarianten angepasst werden. Bei den neuartigen mRNA-Impfstoffen, zu denen der in Großbritannien eingesetzte Coronavirus-Impfstoff gehört, geht das vergleichsweise einfach. Diese Impfstoffe enthalten keine vollständigen Viren, sondern nur eine genetische Information, eine Bauanleitung für ein Virusprotein. Diese Bauanleitung lässt sich relativ schnell an einen neuartigen Erreger anpassen.

„Wir haben tausend große Kanonen auf das Virus gerichtet hat“, sagte Kartik Chandran, Virologe am Albert Einstein College of Medicine in New York, laut „New York Times“. Um der Immunität zu entkommen, müsse das Virus eine Reihe von Mutationen anhäufen, die es dem Erreger ermöglichen, die Wirksamkeit der körpereigenen Abwehr zu untergraben. „Egal wie sich das Virus windet und windet, es ist nicht so einfach, eine genetische Lösung zu finden, die wirklich all diese verschiedenen Antikörperspezifitäten bekämpfen kann“, so Kartik.

Keine Verbindung zu Variante in Südafrika

Zuletzt war auch in Südafrika eine neue Variante des Virus aufgetaucht. Mit jener in Großbritannien dürfte sie keine direkte Verbindung haben: „Die Variationen in England und Südafrika sind ähnlich, aber vermutlich unabhängig voneinander entstanden“, sagte der deutsche Wissenschaftler Wolfgang Preiser, Leiter der Abteilung für Medizinische Virologie an der Universität von Stellenbosch in Südafrika, der deutschen „Welt“ (Montag-Ausgabe).

Auch die ECDC teilte in einer Gefahreneinschätzung vom Sonntag mit, die Variante in Südafrika habe „keine enge evolutionäre Beziehung“ zu jener in Großbritannien. Sie zeige aber, dass die Entstehung erfolgreicher Varianten mit ähnlichen Eigenschaften womöglich nicht selten sei.