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SPACs und Apps

Börsenboom mit riskanten Konstrukten

Dass es trotz weltweiter Krise an den Börsen im Vorjahr hoch hergegangen ist, hat zumindest auch mit zwei Trends zu tun. Erstens boomen in den USA SPACs, leere Firmenhüllen, die an der Börse Geld einsammeln, um damit ein anderes Unternehmen aufzukaufen, dem dann ein Börsengang quasi durch die Hintertür ermöglicht wird. Und zweitens locken fast gebührenfreie Trading-Apps neue Anleger in den Aktienhandel. Das sorgte zuletzt sogar in den USA für Aufregung bis hinauf in höchste Politikkreise.

Das Modell der Special Purpose Acquisition Companies, kurz SPACS, existiert eigentlich schon lange. Doch bis zum Vorjahr kam es gerade mal ein paar Dutzend Mal zum Einsatz. 2020 waren es dann schon knapp 250 SPAC-Börsengänge – und alleine heuer bisher schon 70, die knapp 20 Milliarden Dollar eingesammelt haben, wie der Internetdienst SPACInsider berichtet.

Auch als „Blankoscheck-Unternehmen“ bezeichnet, gehen sie erst nach der Erstnotiz auf die Suche nach Unternehmen, die sie übernehmen. Und sie locken Scharen an Anlegerinnen und Anlegern, auch wenn sie nur vage verraten, in welcher Branche sie suchen. Vor allem Zukunftstechnologien sorgen für einen Boom an Investitionen – gerade in Zeiten der Niedrigzinspolitik, in der besondere Nachfrage nach potenziell ertragreichen Anlegeformen herrscht.

Börsengang einfacher, schneller und billiger

Für die Unternehmen, die sich von einem SPAC schlucken lassen, kann das ein effizienter und schneller Weg an die Börse sein. Sie müssen sich nicht selbst um Investoren bemühen, was gerade in Coronavirus-Zeiten schwierig sein kann, und kürzen den langwierigen und aufwendigen Genehmigungsprozess der US-Börsenaufsicht ab.

Die größte Übernahme durch ein SPAC war die der Hypothekenbank United Wholesale Mortgage, die 16 Milliarden Dollar kostete. Der Deal wurde im Jänner finalisiert und dürfte dem Modell wohl zu weiterem Aufwind verhelfen. Ob der Trend auch nach Europa schwappt, bleibt abzuwarten. Mit ähnlichen Konstrukten machte man in Deutschland vor etlichen Jahren eher schlechte Erfahrungen, zudem sind die rechtlichen Regelungen andere. Dennoch wurden zuletzt erste Pläne auch für deutsche SPACs bekannt.

Warnung vor „Blase“ und Finanzglücksrittern

Zwei Jahre haben die SPACs Zeit, ein Unternehmen zu finden und aufzukaufen oder zu fusionieren. Gelingt das in dem Zeitfenster nicht, wird der SPAC liquidiert, und die Sponsoren, wie die Anleger genannt werden, bekommen ihr Geld zurück. Doch der Erfolg steht und fällt freilich mit dem erworbenen Unternehmen. Das „Wall Street Journal“ errechnete, dass bei den vollzogenen Fusionen zwischen Jänner 2019 und Juni 2020 der Wert der gekauften Unternehmen um durchschnittlich zwölf Prozent fiel.

Von einer „Blase“ warnte die Zeitung und sprach von einer „SPAC-Mafia“, die als Investoren auftritt, aber noch vor der Fusion wieder mit Gewinn aussteigt, während sie Optionsscheine behält. Andere Kritiker weisen darauf hin, dass hinter den SPACs häufig einschlägig bekannte Finanzglücksritter stehen.

Zwischen Flop und Betrug

Und so gibt es auch etliche Beispiele, die Zweifel nähren: Virgin Galactic von Richard Branson hob per SPAC mit dem Versprechen, ein Überschallpassagierflugzeug zu entwickeln, ab – und das, obwohl das mit dem bisher verfolgten Unternehmenskern von privater Raumfahrt eigentlich nichts zu tun hat. Beim griechischen Streamingdienst Akazoo entpuppten sich nach dem Börsengang die wesentlichen Kennzahlen des Unternehmens als falsch – ein Betrugsfall, bei dem die Anleger ihr Geld verloren.

Für Furore sorgte der potenzielle E-Lkw-Hersteller Nikola. Ein Werbevideo des angeblichen Elektrotrucks ließ die Sponsoren frohlocken, General Motors (GM) und Bosch wurden zu Kooperationspartnern. Doch dann musste man zugeben, dass das Video gefälscht war und gar kein Prototyp existiere. Als Verteidigung brachte das Unternehmen vor, man habe nie behauptet, dass sich der Nikola One in dem Video aus eigener Kraft fortbewegt hätte. Die Aktie verlor seit ihrer Ausgabe drei Viertel ihres Werts, GM trat leise den Rückzug an.

Bild zeigt einen E-LWK von „Nikola Motor“.
APA/AFP/Nikola Motor
Nach den Rückschlägen will der E-Lkw-Entwickler nun durchstarten – unter anderen mit dem Nikola Two

Trading-Apps starten im Lockdown durch

Beflügelt war der Nikola-Höhenflug vor allem von Kleinanlegern worden. Und von denen strömten im Vorjahr Millionen an die Aktienmärkte – nicht nur, aber auch in den USA. Für den Boom sorgten nicht nur die Suche nach Anlegemöglichkeit und vermehrte Freizeit im Lockdown, sondern vor allem neue technische Möglichkeiten. Trading-Apps, die schon einige Zeit auf dem Markt sind, hoben 2020 ab. Der Marktführer in den USA, die Trading-App Robinhood, hält bei 13 Millionen Usern, um drei Millionen mehr als vor der Pandemie. Insgesamt sollen nach Schätzungen zehn Millionen neue Kleinanleger in den USA registriert worden sein. Und es ist nicht nur ein Trend im Westen: Ähnlich viele waren es 2020 in Indien, gleich 18 Millionen in China.

Boom auch in Europa

Per Handy wird auf Robinhood gekauft und verkauft – und das höchst günstig: Depotgebühren und Provisionen fallen zumeist keine an, auch Ordergebühren sind überschaubar. Und es gibt unter anderen mit TD Ameritrade, E-Trade, Schwab, Merrill Edge, Acorns und Stash auch etliche Alternativen. Das Durchschnittsalter der User gibt Robinhood mit 31 an.

Auch in Europa ist der Trend unübersehbar: Broker-Apps und auch traditionelle Banken, die entsprechende Angebote haben, meldeten im Vorjahr Zehntausende neue Benutzer. Trade Republic gilt im deutschsprachigen Bereich als Platzhirsch, daneben gibt es etliche weitere Apps wie eToro, Flatex, Justtrade und Gratisbroker, die sich durch Funktionsumfang, Kostenstruktur und bedienbare Märkte unterscheiden.

„Revolution“ auf dem Finanzmarkt

Apps wie Robinhood hätten den Finanzmarkt für die Massen zugänglich gemacht, meinen Experten, die auch von einer „Revolution“ sprechen. Auch Vlad Tenev und Baiju Bhatt, die Gründer und Chefs der App, sprechen von einer Demokratisierung der Aktienmärkte. Nicht daran teilzuhaben, „hat letztendlich zu den massiven Ungleichheiten beigetragen, die wir in der Gesellschaft sehen“, zitierte die „New York Times“ Tenev. Noch heuer soll Robinhood selbst an die Börse gehen.

Andere Experten sehen das weniger positiv: Erinnerungen an die Dotcom-Blase Anfang des Jahrtausends werden wach. Auch damals hätten Kleinanleger und unerfahrene Marktneulinge die Kurse von wackeligen Starts-ups mit einer halben Geschäftsidee in den Himmel wachsen lassen – bis klar wurde, dass keine Substanz vorhanden ist, und die Blase mit einem lauten Knall platzte.

Sie wollen nur spielen?

Gewarnt wird zudem vor der Gamification des Aktiengeschäfts. Die bunten Oberflächen der Trading-Apps würden an Computerspiele erinnern – es gehe aber um echtes Geld. Von hohem Suchtpotenzial und enormen Risiken ist die Rede. Für Schlagzeilen sorgte im Dezember der Selbstmord eines 20-jährigen Robinwood-Users in Nebraska, dessen Account plötzlich ein Minus von 730.000 Dollar aufwies.

Der deutsche Risikomanager Christian Glaser warnte in einem Artikel die „Generation Smart Broker“ vor den „immensen“ Gefahren, insbesondere von „Social Trading“, bei dem die Strategie anderer quasi als vermutete Schwarmintelligenz kopiert wird.

Tatsächlich haben die „Retail Bros“ in den vergangenen Monaten mehrmals Aktien ohne irgendwelche Fundamentaldaten auf Berg-und-Tag-Fahrt geschickt. So wurde etwa einmal der in Insolvenz befindliche US-Autovermieter Hertz befeuert. Ähnlich verhält es sich bei Nokia. Auch der Bitcoin-Wahnsinn lässt sich teilweise damit erklären, dass einige Apps auch den Handel damit ermöglichen.

Schlacht um GameStop-Aktie

Beobachter sprachen zuletzt von einer Schlacht von organisierten Kleinanlegern gegen die großen Wall-Street-Player, vor allem Hedgefonds. Im Mittelpunkt steht die Videospielkette GameStop, die von der Coronavirus-Pandemie schwer getroffen Hunderte Filialen schließen muss. Der Aktienkurs lag im Frühjahr bei knapp vier Dollar. Das Unternehmen verkündete im Jänner, stärker ins Onlinegeschäft einsteigen zu wollen – und lockte Kleinanleger an.

Eine Filiale der Einzelhandelskette für Computerspiele und Unterhaltungssoftware „Gamestop“.
AP/Nam Y. Huh
Die Aktien der Videospielkette GameStop wurden zum Schauplatz eines Duells der Anlegergenerationen

Gleichzeitig äußerten die großen Player Zweifel am Geschäftsmodell – und wetteten per Shortselling, also Leerverkäufen, auf einen Kursverlust. Das rief die Kleinanleger, die sich vor allem auf der Plattform Reddit organisieren, erst recht auf den Plan. Der Kampf eskalierte. Die Aktie wurde auf eine Höhe von 350 Dollar und mehr getrieben. Mehrere große Hedgefonds wie Melvin Capital mussten ihre Wetten auf den Kursverfall unter hohen Verlusten aufgeben.

Börsenaufsicht und sogar Weißes Haus traten auf den Plan. Als Robinhood schließlich einen Kauf von GameStop-Aktien und anderen Papieren vorübergehend unterband, war der Aufschrei noch viel größer – mit Protesten von Demokraten und Republikanern gleichermaßen. Der Kongress fordert nun sogar Anhörungen in der Causa Gamestop.

Ausfälle als Gefahr

Was die Schlacht um GameStop am Ende für die einzelnen Kleinanleger bedeutet, ist noch unklar. Doch nicht nur durch Suchtgefahr, fehlendes Wissen und nicht vorhandene Risikostrategie drohen für die Hobbytrader Gefahren. Einige der Apps gelten als fehleranfällig, selbst bei Robinhood häufen sich die Ausfälle. Im vergangenen März war die App zwei Tage lang down – und das in einer heiklen Phase an den Börsen und ohne telefonischen Support vonseiten des Unternehmens. Und selbst wenn Gewinne eingefahren werden, bleibt die Frage, wie diese zu versteuern sind – bei einigen Apps ist das integriert, bei den meisten nicht.