EU-Ratspräsident Charles Michel
AP/Francisco Seco
EU-Gipfel

Suche nach Ausweg aus Impfwirrwarr

Produktion, Lieferung, Kampagne, Pass und Verteilung – die Agenda der Staats- und Regierungsspitzen beim zweitägigen EU-Gipfel rund um die Coronavirus-Impfstoffe ist lang, das Diskussionspotenzial hoch. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) warnte vorab bereits vor einer sich vergrößernden Kluft der EU. Indes möchte EU-Ratspräsident Charles Michel bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Impfwirrwarr ein ganz bestimmtes Thema offenbar vermeiden.

Michel will beim virtuellen Gipfel keine Debatte um die von Kurz und anderen Ländern geforderte Neuverteilung von Coronavirus-Impfstoffen in der Europäischen Union. Das Treffen der 27-Staats- und Regierungschefs sei „nicht der richtige Ort“, um das zu besprechen, hieß es am Mittwochnachmittag aus Ratskreisen. Ähnliches war Donnerstagvormittag auch vonseiten der EU-Kommission zu hören. Ein neuer Verteilmechanismus sollte nicht auf dem Gipfel diskutiert werden, sagte ein Kommissionsvertreter.

Die Verteilung der von Kommissionschefin Ursula von der Leyen angekündigten zusätzlichen zehn Millionen Impfdosen würde anteilsmäßig erfolgen, hieß es von EU-Diplomaten. Dass Ländern, die besonders von der Coronavirus-Pandemie getroffen wären und bisher zu wenig Impfstoffe hätten, geholfen werde, sei ein Akt der Solidarität und wohl wahrscheinlich.

Bundeskanzler Sebastian Kurz am Bildschirm
Reuters/John Thys
Die von Kurz und fünf osteuropäischen Ländern geforderte Neuverteilung von Coronavirus-Impfstoff in der Europäischen Union spaltet derzeit die 27 EU-Staats- und -Regierungsspitzen

Kurz sieht Verteilungsdebatte auf Gipfelagenda

Anders sah das vor Beginn des Gipfels der Bundeskanzler. „Wenn die Impfstoffverteilung kein Thema für einen Gipfel sein soll, was dann?“, sagte Kurz bei einer Pressekonferenz. Es sei auch völlig unverständlich, dass die EU 70 Millionen Dosen von CoV-Impfstoffen in alle Teile der Welt exportiere, selber habe keine Impfstoffe von außerhalb der EU erhalte.

„Das ist ein massives Missverhältnis“, sagte Kurz. Er unterstütze daher die Kommissionspräsidentin bei ihrem Ziel, hier gegenzusteuern und sich für Exportkontrollen einzusetzen. Allerdings könne er das Ergebnis des Gipfels nicht vorwegnehmen, so der Bundeskanzler.

Gegenüber der „Welt“ vom Mittwoch hatte Kurz gesagt: „Wir können kein Interesse daran haben, dass sich die Kluft innerhalb der Europäischen Union bei der Durchimpfung der Bevölkerung immer mehr vergrößert und wir somit EU-Mitgliedsstaaten zweiter Klasse schaffen. Die Bürgerinnen und Bürger Europas erwarten sich von uns zu Recht eine Lösung bei der Impfstoffverteilung, denn es steht die Solidarität innerhalb der Europäischen Union auf dem Spiel.“

Absage aus Deutschland

Kurz hatte gemeinsam mit fünf osteuropäischen Ländern auf eine Neuaufteilung der Impfstoffe gedrungen, um bestehende Abweichungen vom Bevölkerungsschlüssel zu korrigieren. Auf seiner Seite hatte er Bulgarien, Kroatien, Lettland, Slowenien und Tschechien. Heftige Kritik am Korrekturmechanismus kam vor allem aus Deutschland.

Der deutsche Europastaatssekretär Michael Roth argumentierte am Dienstag, dass einige Staaten, darunter Österreich, die ihnen nach Bevölkerungsgröße zustehenden Impfstoffkontingente nicht ausgeschöpft hätten. Diese Mengen seien anderen EU-Ländern angeboten worden. „Daraus einen Konflikt zu konstruieren, der der Heilung bedarf, sehe ich überhaupt nicht“, sagte Roth. „Ich sehe derzeit keine Veranlassung, an diesem transparenten und sehr fairen Verfahren etwas zu verändern“, so Roth.

Merkel verteidigt gemeinsame Beschaffung

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verteidigte den gemeinsamen europäischen Weg bei der Bekämpfung der Pandemie. „Bei allen Beschwerlichkeiten glaube ich, dass sich in der Pandemie wieder gezeigt hat, dass es gut ist, dass wir diese Europäische Union haben“, sagte Merkel am Donnerstag in einer Regierungserklärung im deutschen Bundestag in Berlin vor dem EU-Gipfel. Ausdrücklich nannte sie auch die Impfstoffbeschaffung.

„Es war richtig, auf die gemeinsame Beschaffung und Zulassung von Impfstoffen durch die Europäische Union zu setzen“, sagte Merkel. Wenn man sehe, dass selbst bei kleinen Unterschieden in der Verteilung große Diskussionen ausbrechen, wolle sie sich nicht vorstellen, was wäre, wenn einzelne EU-Staaten Impfstoff haben und andere nicht. „Das würde den Binnenmarkt in seinen Grundfesten erschüttern“, sagte Merkel.

Raschere Impfungen als „Top Priorität“

Angesichts der anschwellenden dritten Coronavirus-Welle fast überall in der EU versucht die Staatengemeinschaft, nun endlich mehr Impfstoff zu bekommen. Die EU-Staaten wollen deshalb noch mehr tun, um die Herstellung der Vakzine hochzufahren und die Lieferungen auszubauen, wie aus dem Entwurf der Gipfelerklärung hervorgeht. Zudem hat die EU-Kommission die Anfang Februar eingeführten Exportkontrollen erweitert – ohne generelle Exportverbote.

Vor allem wollen die Staats- und Regierungsspitzen mehr Tempo bei der europäischen Coronavirus-Impfkampagne in der ganzen EU erreichen. Das sei eine „Toppriorität“, schrieb Michel in seinem Einladungsbrief vom Dienstag. „Wir müssen schnelle und ausreichende Lieferungen an die EU-Bürger sicherstellen“, so Kommissionschefin Ursula von der Leyen. „Jeder Tag zählt.“

Strategien zur Öffnung

Gleichzeitig wolle der Gipfel „mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit der Versorgung“ mit Impfstoffen. Und: Auch wenn derzeit fast überall in Europa die Coronavirus-Beschränkungen verschärft werden – der Gipfel soll auch eine gemeinsame Strategie zur Öffnung vorbereiten. Mit Priorität solle die Arbeit an europäischen digitalen Zertifikaten vorangetrieben werden, heißt es in der Erklärung.

Gemeint ist ein gegenseitig anerkannter Nachweis für Impfungen, Tests und Immunisierung durch eine überstandene Covid-19-Erkrankung. Die sehr komplexen Einzelheiten werden aber nicht auf dem Gipfel diskutiert, sondern in den nächsten Wochen auf Fachebene.

Biden per Video zugeschaltet

Inmitten der Debatten um die Koordinierung der Coronavirus-Maßnahmen wird sich am Donnerstagabend US-Präsident Joe Biden per Video zuschalten. Er werde seine Sicht der künftigen Zusammenarbeit mit den Europäern teilen, teilte Ratspräsident Michel mit. „Es ist Zeit, das transatlantische Bündnis neu aufzubauen.“

Unter Bidens Vorgänger Donald Trump war das Verhältnis zwischen den USA und der EU mitunter ziemlich angespannt. Auch die Handelsbeziehungen hatten sich erheblich verschlechtert. Biden wolle daher das transatlantische Verhältnis, den Kampf gegen die Pandemie und gegen die Klimakrise ansprechen, aber auch außenpolitische Fragen etwa mit Blick auf Russland und China, teilte das Weiße Haus mit

Umgang mit Türkei und Russland

Ein weiteres Thema des EU-Treffens ist die Frage des richtigen Umgangs mit der Türkei. Zuletzt hatte es aufseiten Ankaras im Gasstreit im östlichen Mittelmeer versöhnliche Signale gegeben. Michel verwies lediglich auf den EU-Gipfel im Juni. Die Europäer wollten ihr Engagement gegenüber Ankara in einer „stufenweisen, bedingten und umkehrbaren Art und Weise“ verstärken.

Kurz betonte dazu, dass angesichts des eben erfolgten Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt und dem Verbotsantrag für die Oppositionspartei HDP weiter Bedarf für eine konsequente Position der EU vorhanden sei, auch wenn es zuvor Entspannungssignale gegeben habe. Er werde sich „weiterhin für den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einbringen“, so Kurz.

Für den Gipfel ist unter anderem eine außenpolitische Grundsatzdebatte über das Verhältnis zu Russland vorgesehen. Michel will die Gipfelteilnehmer auch über seine jüngsten Kontakte mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin informieren. Das Verhältnis zwischen der EU und Russland befindet sich nach der Verhängung von EU-Sanktionen im Zuge der Nawalny-Affäre auf einem Tiefpunkt. Die Debatte zur Russland-Politik dürfte nach Angaben von EU-Diplomaten beim Gipfel aber relativ kurz ausfallen.

Wirtschaftspolitik und Digitalisierung

Für einen zweiten Gipfeltag am Freitag stehen mehrere wirtschaftspolitische Themen an. Stichworte sind die Stärkung des Binnenmarkts, der internationalen Rolle des Euro und der Digitalisierung. Die EU-Kommission hatte kürzlich einen „Digitalen Kompass“ mit konkreten, messbaren Zielen bis 2030 vorgelegt.

Dann soll zum Beispiel jeder in der EU Behördengänge online erledigen können und Zugriff auf einen eigenen elektronischen Patientenakt haben. Das wollen die EU-Staaten begrüßen. Zudem verweist der Entwurf der Gipfelerklärung auf den Ausbau der Datennutzung und der künstlichen Intelligenz sowie auf die Dauerbrenner Regulierung und Besteuerung der großen Plattformen.