Bundeskanzler Sebastian Kurz
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Nach EU-Gipfel

Kurz glaubt an mehr Impfstoff für Österreich

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat am Tag nach dem virtuellen EU-Gipfel eine positive Bilanz gezogen. Obwohl das Thema der Impfstoffverteilung nicht auf der Tagesordnung gestanden sei, habe man stundenlang darüber debattiert. Das Ergebnis – eine Einigung auf eine solidarische Verteilung des Impfstoffs – sei sehr gut. Kurz rechnet damit, dass Österreich von einer neuen Umverteilung profitieren werde, die Vertreter anderer EU-Länder erteilten dem Wunsch Österreichs nach zusätzlichen Dosen aber schon eine Abfuhr.

Ein Drittel der EU-Regierungschefs habe sich vehement für eine gerechtere Verteilung ausgesprochen, so Kurz. Auch dass es „endlich“ gelungen sei, die Verhandlungen, statt sie im „Steering Board“ von Beamten führen zu lassen, auf Ebene der EU-Botschafterinnen und -Botschafter zu heben. Diese seien den jeweiligen Regierungen weisungsgebunden.

Am Ende des Tages brauche es aber einen Kompromiss, da in der EU das Einstimmigkeitsprinzip herrsche. „Ich finde es ehrlich gesagt sehr schön, dass sich viele für Solidarität ausgesprochen haben“, sagte Kurz. Wichtig sei, dass es zu einem Ausgleich komme, denn die Europäischen Union habe immer versprochen, dass 70 Prozent der Erwachsenen in der EU bis Sommer geimpft werden. Einige der am massivsten betroffenen Länder seien in der Nachbarschaft Österreichs, wie Kroatien und Tschechien, und es wäre auch für Österreich sehr negativ, wenn diese Staaten stark zurückfallen würden.

Auf eine Prognose, wann und mit wie vielen Dosen Impfstoff für Österreich er rechne, wollte sich Kurz nicht einlassen. Vor einigen Tagen hatte er angedeutet, dass Österreich bis zum Sommer rund 400.000 Dosen zusätzlich erhalten könnte. Nach dem Bevölkerungsschlüssel würden nur 200.000 dieser Biontech-Pfizer-Dosen auf Österreich entfallen.

Pressegespräch von Bundeskanzler Kurz nach EU-Gipfel

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte nach dem EU-Gipfel, dass vor allem die Einhaltung der Verträge bei der Lieferung von Impfstoffen und auch die gerechtere Impfstoffverteilung innerhalb der EU besprochen worden seien.

Niederlande und Italien erteilen Kurz Abfuhr

Die Aussage eines EU-Diplomaten, wonach sich Kurz „verzockt“ habe, kommentierte der Bundeskanzler in seiner Pressekonferenz als „Falschmeldung“. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte aber nach dem Gipfel, ein Blick auf die Zahlen zeige, dass vor allem Bulgarien, Lettland und Kroatien ein Problem hätten. Denen wolle man helfen. Bei Österreich könne er das hingegen derzeit nicht erkennen.

Auch Italiens Premierminister Mario Draghi erteilte Kurz’ Ansinnen eine Absage: „Auch wir haben Impfstoffmängel, Kurz wird keine einzige zusätzliche Dosis erhalten“, wurde Draghi von der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ (Freitag-Ausgabe) zitiert. Ähnlich sah die Lage EU-Parlamentspräsident David Sassoli. Es sei „verantwortungslos“, auf die EU die Ineffizienz einzelner Länder abzuladen. „Streit mit Österreich über die Verteilung der zusätzlichen Dosen“, fasste die Tageszeitung „La Stampa“ die Lage zusammen.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will am festgelegten Schlüssel für die Verteilung des Impfstoffs auf die Mitgliedsstaaten prinzipiell festhalten. Sie sagte laut „Süddeutscher Zeitung“, dass die Lieferverträge „von den Mitgliedsstaaten unterschrieben“ worden seien – „und nicht von einigen dummen Bürokraten“. Zugleich wolle man nun aber „solidarische Mechanismen anwenden“, sagte Merkel nach Gipfelende.

Dank aus Slowenien und Lettland

Unterstützung erhielt Kurz indes vom slowenischen Ministerpräsidenten Janez Jansa und vom lettischen Premier Krisjanis Karins. Jansa dankte Kurz via Twitter „für die Koordinierung dringender, notwendiger Anstrengungen, um die gestrigen Schlussfolgerungen des #EUCO in Bezug auf eine faire Impfstoffverteilung im 2. Quartal“ Realität werden zu lassen.

Die Staats- und Regierungschefs seien sich einig bezüglich „der Achtung des Solidaritätsprinzips“ bei der Umverteilung der zusätzlichen Impfstoffe von Biontech und Pfizer für jene Staaten, die bisher weniger erhalten haben, schrieb Karins ebenfalls auf Twitter.

Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis bekräftigte am Freitag seinen Wunsch nach der Verteilung nach dem Bevölkerungsverhältnis. Wenn das System so weitergeführt werde wie bisher, würden manche Staaten im Sommer genug Impfstoff für 90 Prozent ihrer Bevölkerung haben, andere aber nur für 40 Prozent. „Das ist inakzeptabel.“

„Ambitioniertes Vorgehen“ überzeugte offenbar nicht alle

Nach Einschätzung des EU-Experten Stefan Lehne habe sich Kurz für ein legitimes Anliegen einer Reihe von Staaten eingesetzt, die „wirklich schlecht dasteht“. Aber anderseits falle Österreich gar nicht in diese Kategorie, „da konnte er seine Kollegen nicht überzeugen“. Das „sehr ambitionierte Vorgehen Österreichs“ sei offenbar bei vielen Mitgliedsstaaten nicht gut angekommen, sagte der frühere österreichische Spitzendiplomat und nun für den Thinktank Carnegie Europe tätige Experte.

Dauerhafte Schäden der Beziehungen zu anderen Ländern sieht er aber nicht: „Das ist eine momentane Sache, die schnell überwunden sein wird. Es ist normal, dass sich jeder Regierungschef für nationale Anliegen massiv einsetzt. Manchmal geht das gut, manchmal geht das weniger gut“, so Lehne.

Bei einem Land wie Österreich, das beim Impffortschritt über dem Durchschnitt liege, gebe es für eine Forderung nach zusätzlichen Dosen nur ein sehr beschränktes Verständnis, sagte auch EU-Experte Janis Emmanouilidis am Freitag in einer Onlinediskussion. „Jedem ist klar, dass man jetzt Solidarität zeigen muss“, sagte der Experte vom Brüsseler European Policy Centre (EPC). „Aber am Ende hat Kurz gesagt, auch Österreich braucht weitere Dosen, aber Österreich liegt beim Impfen über dem Durchschnitt der EU.“

Sechs Staaten forderten „Korrekturmechanismus“

Mitte März hatten sechs EU-Länder einen „Korrekturmechanismus“ gefordert, weil sie sich bei der Impfstoffvergabe benachteiligt sahen. Neben Österreich beschwerten sich Tschechien, Slowenien, Bulgarien, Kroatien und Lettland. Während Österreich im EU-Vergleich zurzeit sogar noch überdurchschnittlich viele Impfungen vornimmt, kamen die anderen fünf Staaten zuletzt ins Hintertreffen. Das lag vor allem daran, dass sie bei der Bestellung fast ausschließlich auf den Impfstoff von AstraZeneca gesetzt hatten. Sie sind deshalb von den Lieferproblemen des britisch-schwedischen Herstellers besonders betroffen.

Deutschland hatte deshalb auch argumentiert, dass die Ungleichgewichte dadurch zustande kamen, dass einzelne Länder nicht alle angebotenen Dosen bestellten und sie von anderen aufgekauft wurden. Auch Dänemark, Schweden und die Niederlande seien gegen einen „Korrekturmechanismus“ aufgetreten, hieß es.

Schärfere Exportkontrollen

Angesichts anhaltender Lieferprobleme bei CoV-Impfstoffen stellte sich der EU-Gipfel hinter die von der EU-Kommission eingeführte verschärfte Ausfuhrkontrolle für CoV-Impfstoffe. Auch Kurz bekräftigte seine Unterstützung dafür. Auslöser der Debatte waren vor allem Vorwürfe gegen das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca, seine Zusagen gegenüber der EU nicht einzuhalten, dafür aber in der EU produzierten Impfstoff bevorzugt nach Großbritannien geliefert zu haben.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte auf dem Gipfel eine Grafik, laut der die EU bisher 70 Millionen Impfdosen in mehr als 30 Länder geliefert hat. Die USA und Großbritannien haben dagegen keine Impfdosen exportiert, verzeichnen aber eine hohe Impfrate ihrer Bevölkerungen.

Von den knapp 450 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern sind unterdessen inzwischen 62 Millionen mindestens einmal gegen SARS-CoV-2 geimpft. 18,2 Millionen Menschen haben auch ihre zweite Dosis bekommen. Die Zahlen legte Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Donnerstag vor. Die EU-Staaten erhielten von den Pharmakonzernen bisher rund 88 Mio. Impfdosen. Zugleich gingen seit 1. Dezember 77 Millionen Dosen aus der EU in den Export.

Es sei völlig unverständlich, dass die EU 70 Millionen Dosen von CoV-Impfstoffen in alle Teile der Welt exportiere, selber aber keine Impfstoffe von außerhalb der EU erhalte, sagte Kurz am Donnerstag vor Beginn des Gipfels. „Das ist ein massives Missverhältnis“, so Kurz. „Wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Meinung sei, dass Exportbeschränkungen einen Sinn machen, dann sollte man sie dabei auch voll und ganz unterstützen“, sagte Kurz.

Der akute Impfstoffmangel in allen EU-Staaten soll sich im zweiten Quartal deutlich mildern – dann sollen bis zu 360 Millionen Impfdosen geliefert werden, nach 100 Millionen im ersten Quartal. „Endlich kommen die Impfungen stetig voran“, sagte von der Leyen. Die Pandemielage sei angesichts der Ausbreitung der Virusvarianten sehr schwierig.

Einigkeit bezüglich Türkei

Einigkeit konnte auf dem Gipfel indes bezüglich der Türkei erzielt werden. So wurden die Schlussfolgerungen zur Türkei angenommen. Das teilte der Sprecher von Ratspräsident Charles Michel mit. Darin werden der Türkei konkrete Belohnungen für eine weitere Deeskalation des Erdgasstreits im östlichen Mittelmeer in Aussicht gestellt, etwa eine Ausweitung der Zollunion und Visafreiheit für Türken in der EU.

Eine Entscheidung darüber soll allerdings erst auf dem nächsten EU-Gipfel im Juni getroffen werden. In der Gipfelerklärung wurde auch die Menschenrechtssituation in der Türkei angesprochen, die ein „zentrales Anliegen“ der EU bleibe. Die Staats- und Regierungsspitzen bezeichneten „gezielte Angriffe auf politische Parteien und Medien“ als „schwere Rückschläge für die Menschenrechte“ in der Türkei.

Ankara kritisierte die Signale aus Brüssel. Das türkische Außenministerium sagte, auch wenn auf dem Gipfel „die Notwendigkeit einer positiven Agenda“ festgestellt worden sei, sei die Botschaft an die Türkei „aus einer einseitigen Sicht und unter dem Einfluss der engstirnigen Anschuldigungen einiger weniger Mitgliedsstaaten“ formuliert worden. Zugleich sagte Ankara zu, mit positiven Schritten auf EU-Maßnahmen „in Richtung unserer gemeinsamen Interessen“ zu reagieren.

US-Präsident zugeschaltet

Donnerstagabend schaltete sich US-Präsident Joe Biden beim Videogipfel zu. Biden hielt eine kurze Ansprache zum Neustart der transatlantischen Beziehungen. Erklärtes Ziel des US-Präsidenten ist es, im Kampf gegen die CoV-Pandemie und gegen die Klimakrise mit Europa zusammenzuarbeiten und die gemeinsamen Handelsbeziehungen zu stärken.

Die Teilnahme von US-Präsidenten auf EU-Gipfeln ist selten. 2009 war der damalige Präsident Barack Obama bei einem Treffen der EU-Staats- und -Regierungsspitzen dabei. „Wenn die EU und die USA Schulter an Schulter zusammenstehen, können sie zeigen, dass Demokratien am besten geeignet sind, die Bürger zu schützen, die Würde zu fördern und Wohlstand zu schaffen“, sagte Ratspräsident Michel. Das Verhältnis zwischen den USA und der EU war unter Bidens Vorgänger Donald Trump gespannt. Die Handelsbeziehungen zwischen beiden Seiten hatten sich stark verschlechtert. Trump warf der EU unfairen Wettbewerb vor und verhängte Strafzölle.