Person hält einen Initiativantrag für ein Bundesgesetz in der Hand
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Neue Begutachtung

Mit „Trägerraketen“ durch das Parlament

Kaum etwas ist im Parlament so gegenwärtig und in der Öffentlichkeit so unbekannt wie die „Trägerrakete“: ein leerer Gesetzesantrag, der auf den letzten Metern mit Inhalten bepackt wird und zur Abstimmung kommt. Sie hat ihre Berechtigung, sagen die einen. Für andere hingegen symbolisiert sie einen respektlosen Umgang mit dem Parlamentarismus. Interessierte werden schon bald selbst Bekanntschaft mit der Rakete machen.

Zwar hat das Parlament – bis auf den „Ibiza“-Untersuchungsausschuss – gerade erst seine Sommerpause eingeläutet. Doch mit 1. August tritt eine neue Begutachtung in Kraft. Künftig können alle Gesetzesanträge bis zum Beschluss im Bundesrat online kommentiert werden. Bisher beschränkte sich die Begutachtung ja nur auf Ministerialentwürfe, also Gesetzesvorhaben, die aus den Ministerien stammen und noch nicht im Parlament eingelangt sind.

Mit der Erweiterung des Begutachtungsverfahrens wird eine Lücke gefüllt, die in den vergangenen Jahren oft auf scharfe Kritik stieß: Die – nicht verpflichtende – Begutachtung für Ministerialentwürfe konnte nämlich umgangen werden, indem Vorhaben von Regierungen über Abgeordnete als Initiativanträge eingebracht werden. Meist war und ist das der Fall, wenn ein Gesetz schnell beschlossen werden musste oder man öffentliche Kritik via Begutachtung vermeiden wollte. Ab 1. August wird es schwieriger, diesen Weg zu gehen.

Wenn der Inhalt erst später kommt

Allerdings bleibt ein Schlupfloch übrig: die „Trägerrakete“. Das ist im Extremfall ein leeres Stück Papier, das erst im Fachausschuss oder spätestens im Plenum mit dem eigentlichen Inhalt beladen wird. So starten Anträge den Prozess der Gesetzgebung, ohne einen Inhalt zu haben. Kritiker monieren, dass „Trägerraketen“ dazu verwendet werden, um heikle Punkte „heimlich“ durch das Parlament zu bringen. Jene, die die „Trägerrakete“ zünden, argumentieren, dass das Vorhaben dringend, aber noch nicht fertig sei.

Blick in den Plenarsaal während einer Nationalrats-Sondersitzung
ORF.at/Carina Kainz
Das Plenum gilt als Ort der Debatte – die inhaltliche Auseinandersetzung mit Entwürfen findet in den Ausschüssen statt

Als Klassiker unter den „Trägerraketen“ gelten mittlerweile Novellen des Bundesministeriengesetzes, in dem die Kompetenzen der Minister und Ministerinnen gesetzlich verankert sind. So brachten ÖVP und FPÖ 2017 noch während der Koalitionsverhandlungen eine Rakete ein. Für den Fall einer Einigung wurde auch gleich eine Frist gesetzt, bis wann diese leere Gesetzeshülle zu behandeln ist. So passierte die Novelle die ersten Hürden ohne Inhalt. Die spätere ÖVP-Grünen-Regierung folgte diesem Vorgehen. Dafür hagelte es Kritik von der Opposition.

Ganz anders, aber auch als „Trägerrakete“ fungierte eine Novelle des Universitätengesetzes im Jahr 2006. Der ÖVP-FPÖ-Antrag war zwar reichlich befüllt. Jedoch fehlte im Entwurf genau jener Passus, der die umstrittene „Quotenregel“ für das Medizinstudium regeln sollte. Erst im zuständigen Ausschuss wurde öffentlich konkret bekannt, was im Plenum beschlossen werden soll. Wegen einer Blockade im Bundesrat musste die Regierung allerdings doch noch etwas länger warten.

Punkt gestrichen, aus „In“ wurde „in“

Insbesondere wenn es schnell gehen muss, sind leere Anträge äußerst beliebt und hilfreich. Die Koalition feilt zwar noch am Entwurf, hat sich aber vorgenommen, das Vorhaben zu einem bestimmten Datum im Nationalrat zu beschließen. Die Coronavirus-Gesetzgebung gilt quasi als Lehrbeispiel dafür. „Trägerraketen“ wurden gezündet und erst im Gesundheitsausschuss oder im Parlament durch Abänderungsanträge mit Inhalten vollgepackt – nicht immer zur Freude der Opposition.

So war etwa in einer gemeinsamen „Trägerrakete“ von ÖVP-Grüne vorgesehen, dass im Epidemiegesetz ein „Punkt“ entfernt und im Maßnahmengesetz aus einem „In“ ein „in“ wird. Begründet wurden die Änderungen mit einer „redaktionellen Anpassung“. Später im Gesundheitsausschuss, wo die inhaltlichen Beratungen zu Entwürfen stattfinden, erhielt der inhaltsleere Antrag sein Paket: Änderungen im Ausmaß von acht DIN-A4-Seiten. Im Plenum kamen vier weitere DIN-A4-Seiten hinzu. Die Opposition stimmte dagegen, die Koalition dafür.

Fotostrecke mit 3 Bildern

Initiativantrag und Ausschussbericht zum Epidemiegesetz und Maßnahmengesetz
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Die „Trägerrakete“ (li.) wurde im Ausschuss mit Änderungen des Epidemie- und Maßnahmengesetzes (re.) bestückt
Initiativantrag und Ausschussbericht zum Bundesministeriengesetz
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Wer wofür in der Regierung zuständig ist, wird im Bundesministeriengesetz geregelt. Um dieses schnell zu ändern (re.), werden „Trägerraketen“ (li.) eingesetzt.
Initiativantrag und Ausschussbericht zum Universitätsgesetz
ORF.at/Christian Öser
im Dezember 2005 wurde eine „Trägerrakete“ (li.) eingebracht, im Ausschuss folgte erst die umstrittene „Quotenregelung“ für das Medizinstudium (re.)

Es sei nicht selten der Fall, dass ein Vorhaben bereits politisch paktiert ist, aber legistisch noch nicht fertig, sagt eine Person, die jahrelang im Parlament tätig war, im Gespräch mit ORF.at. Wenn man einen Zeitplan einhalten will, seien „Trägerraketen“ hilfreich, um Vorlaufzeiten zu verkürzen. Andererseits gebe es Raketen, die den Zweck verfolgen, etwas Fixfertiges zu verbergen. „Man will einem erwartbaren Aufschrei entgehen“, sagt er. Eine „Trägerrakete“ aus Dringlichkeitsgründen hält er für legitim, eine, die nur dazu da ist, um etwa umstrittene Punkte durchzuschleusen, für „demokratiepolitisch bedenklich“.

Plenum dient als „Tribüne“

Grundsätzlich stehen alle „Trägerraketen“ in der Kritik. Allerdings rufen jene, die ihren Inhalt erst im Plenum erhalten, ein besonders hohes Unverständnis hervor. Denn diese würden mit den parlamentarischen Usancen brechen, dass Entwürfe in einem Fachausschuss vorberaten werden, ehe sie im Plenum des Nationalrats beschlossen werden. Ist das nicht der Fall und wird eine leere „Trägerrakete“ erst im Zuge der Debatte im Nationalrat mit Inhalten beladen, haben Abgeordnete kaum Zeit, um die Änderungen bis zur Abstimmung zu studieren.

Erfolgen Anpassungen oder vollständige Änderungen der Rakete aber schon im Ausschuss, der für gewöhnlich einige Tage bzw. Wochen vor der Nationalratssitzung tagt, könne man ausführlicher den Inhalt behandeln, betonen Klubreferentinnen und -referenten im Gespräch mit ORF.at. „Für die inhaltliche Bewertung ist der Ausschuss zuständig, das Plenum dient als Tribüne für die politische Abgrenzung“, sagen sie.

„Trägerraketen mit der Scheibtruhe hineinführen“

Mit den „Trägerraketen“ hatte sich auch schon der Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftliche Dienst (RLW-Dienst) beschäftigt. Man ging der Frage nach, ob Gesetzesvorlagen, die erst im Plenum inhaltlich verändert werden, gegen den Grundsatz der Vorberatung im Ausschuss verstoßen. Anlass war ein Antrag auf Änderung eines CoV-Gesetzes, der nur mit der Bestimmung, dass das „Gesetz mit Ablauf des Tages seiner Kundmachung in Kraft tritt“, einem Ausschuss zugewiesen wurde.

Im Ausschuss stimmten ÖVP und Grüne für den inhaltsleeren Entwurf, eine Änderung war für das Plenum erwartet worden, blieb aber aus. Was folgte, war eine heftige Debatte. Die SPÖ sprach von einem „peinlichen Antrag“ und war über den „leeren Zettel“ verärgert. Die ÖVP verwies auf „Trägerraketen“ aus „eurer“ Regierungszeit: „Die kannst du mit der Scheibtruhe in deinen Klub hineinführen, so viele haben wir früher gehabt.“

Juristin Gerlinde Wagner, Leiterin des Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftlichen Dienstes (RLW)
ORF.at/Christian Öser
Gerlinde Wagner leitet seit fast zehn Jahren den RLW-Dienst im Parlament

Am Ende der Debatte wurde die „Trägerrakete“, mit der die Gesundheitskasse während der CoV-Krise finanziell unterstützt werden sollte, zurück in den Ausschuss geschickt. Selbst im Plenum gab es noch keinen Inhalt, mit dem man den Antrag beladen hätte können. „Wir haben halt bis zum Schluss versucht, etwas zu verhandeln, das eben ein bisschen komplexer ist“, hieß es im Plenum von den Grünen.

„In jeder Hinsicht“ verändern

Der RLW-Dienst nahm sich des Themas an und kam zum Schluss, dass der Geschäftsordnung grundsätzlich das Prinzip der Vorberatung von Entwürfen in den Ausschüssen innewohnt. Bis auf wenige Ausnahmen (Budget, Volksbefragung, Geschäftsordnung, Anm.) bestehe allerdings keine „ausdrückliche Verpflichtung“ dazu, sagt die Leiterin des RLW-Dienstes, Gerlinde Wagner, im Gespräch mit ORF.at. Gemäß Verfassung sei der Nationalrat „Herr des Gesetzgebungsverfahrens“ und könne somit jeden Gesetzesantrag bis zum Schluss der zweiten Lesung im Parlament „in jeder Hinsicht“ ergänzen oder verändern.

„Trägerraketen“ mögen „demokratiepolitisch kritisch gesehen werden, aber rechtlich zulässig sind sie“, sagt Wagner. Theoretisch könne nämlich jederzeit der Fall eintreten, dass in einer Nationalratssitzung Ideen aufkommen oder Kompromisse entstehen, die der Gesetzgeber noch in das Gesetz einfließen lassen wolle, sagt die Rechtsexpertin. Durch das erweiterte Begutachtungsverfahren, an dem der RLW-Dienst mit seiner Rechtsexpertise mitgearbeitet hat, werde die Gesetzgebung „noch transparenter“, weil alle Anträge kommentiert werden können – selbst die inhaltsleeren „Trägerraketen“.