Der israelische Permierminister Benjamin Netanjahu.
AP/Yuval Chen
Netanjahu

Einsatz in Gaza „wird einige Zeit dauern“

Trotz internationaler Appelle für ein rasches Ende der Gewalt stehen die Zeichen in Nahost weiter auf Eskalation: Aus dem Gazastreifen wurden erneut Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert, in mehreren israelischen Städten gab es gewalttätige Auseinandersetzungen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu stimmte die Bürgerinnen und Bürger unterdessen auf einen längeren Einsatz im Gazastreifen ein.

„Es wird einige Zeit dauern, aber mit großer Entschlossenheit, sowohl defensiv als auch offensiv, werden wir unser Ziel erreichen – die Ruhe im Staat Israel wiederherzustellen“, sagte er am Donnerstag bei einem Besuch der Raketenabwehreinheit. Die Verteidigung durch das System „Iron Dome“ (Eisenkuppel) gebe Israel Raum für Angriffe, so Netanjahu.

Israels Verteidigungsminister Benni Ganz genehmigte unterdessen die Mobilisierung von weiteren 9.000 Reservisten. Dies teilte sein Büro am Donnerstag mit. Die zusätzlichen Kräfte sollen demnach unter anderem dem südlichen und zentralen Regionalkommando der Streitkräfte zugeteilt werden. Am Dienstag hatte die israelische Armee bereits 5.000 Reservisten mobilisiert.

Israelische Soldatenbeim abfeuern einer Haubitze.
APA/AFP/Menahem Kahana
Israelischen Angaben zufolge wurden knapp 1.000 Ziele im Gazastreifen angegriffen

Militärsprecher: 1.750 Raketen aus Gazastreifen abgefeuert

Seit Montagabend beschießen militante Palästinenser Israel massiv mit Raketen, es wurden bereits weit über tausend Geschoße abgefeuert. Seit Beginn des Beschusses aus dem Gazastreifen starben bisher sieben Menschen in Israel, sechs Zivilisten und ein Soldat, wie Militärsprecher Jonathan Conricus am Donnerstag mitteilte. Seinen Angaben zufolge seien bisher insgesamt über 1.750 Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert worden. Rund 300 davon seien noch in dem Küstengebiet niedergegangen.

Auch aus dem Libanon sind israelischen Angaben zufolge drei Raketen auf Israels Norden gefeuert worden. Die Geschosse seien im Meer gelandet, teilt das israelische Militär am Donnerstagabend mit. Dabei sei weder jemand verletzt noch Schaden angerichtet worden.

Hamas-Chef: „Unbefristete Konfrontation mit dem Feind“

Raketenalarm gab es in der Nacht auf Donnerstag unter anderem in der Küstenmetropole Tel Aviv. Medienberichten zufolge ertönten erstmals auch im Norden des Landes die Alarmsirenen. Polizeiangaben zufolge wurden mehrere Menschen verletzt in Spitäler gebracht. In Petah Tikva nahe Tel Aviv wurden fünf Menschen verletzt, als ein Geschoß aus dem Gazastreifen in einem Wohnkomplex einschlug.

Israel macht die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas für jegliche Angriffe aus dem Gazastreifen verantwortlich. Die Palästinensergruppe wird von Israel und der EU als Terrororganisation eingestuft. Hamas-Chef Ismail Hanijeh sprach von einer „unbefristeten Konfrontation mit dem Feind“.

Hamas: „Mehr als 100“ Tote in Gaza

Die israelische Armee reagiert auf den Beschuss mit dem umfangreichsten Bombardement seit dem Gaza-Krieg des Jahres 2014. Wie das von der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas geführte Gesundheitsministerium in Gaza-Stadt am Donnerstagabend mitteilte, wurden seit Montag 103 Menschen durch israelischen Beschuss getötet, darunter 27 Kinder und elf Frauen. Rund 580 Menschen seien verletzt worden.

Das israelische Militär beschoss nach Angaben von Netanjahu knapp 1.000 Ziele im Gazastreifen. Angegriffen worden sei am Donnerstag laut Conricus auch eine Anlage des Hamas-Geheimdienstes.

Auf dem Areal befindet sich das wichtigste militärische Beobachtungszentrum der Organisation, wie die Armee am Donnerstag mitteilte. Dutzende Mitglieder der islamistischen Hamas sollen sich zur Zeit des Angriffs dort aufgehalten haben. Ob es Tote oder Verletzte unter ihnen gab, sagte die Armee nicht.

Raketen werden von Gaza aus abgeschossen
AP/Khalil Hamra
In der Nacht auf Donnerstag wurden aus dem Gazastreifen erneut Dutzende Raketen Richtung Israel abgefeuert

Zusammenstöße in israelischen Städten

Vor dem Hintergrund des Konflikts nahmen auch die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis zu. Die Polizei berichtete am späten Mittwochabend von gewaltsamen Zwischenfällen in Akko, Haifa und Lod. Mehr als 370 Menschen wurden festgenommen.

In Akko im Norden des Landes wurde nach Angaben des israelischen Fernsehens ein jüdischer Einwohner von arabischen Demonstranten lebensgefährlich verletzt. In Bat Jam südlich von Tel Aviv attackierten ultrarechte Juden laut Medienberichten arabische Geschäfte.

„Kampf an zwei Fronten“

Netanjahu prangerte die Gewalt in israelischen Städten als „inakzeptabel“ an. „Nichts rechtfertigt das Lynchen von Arabern durch Juden und nichts rechtfertigt das Lynchen von Juden durch Araber“, betonte er. Mit Blick auf die Ausschreitungen im Land und den gleichzeitigen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen sprach Netanjahu von einem Kampf „an zwei Fronten“.

Auch Präsident Reuven Rivlin verurteilte die Gewalt auf Israels Straßen. Sie sei „eine echte Bedrohung für die israelische Souveränität“. Die gemäßigte Mehrheit von Juden und Arabern müsse sich für Rechtsstaatlichkeit und eine gemeinsame Existenz einsetzen, forderte Rivlin. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten den Ton angeben.“ Rivilin warnte vor einem Bürgerkrieg und forderte ein Ende des „Wahnsinns“.

Demonstranten in Hebron, Westjordanland
Reuters/Mussa Issa Qawasma
Aus mehreren Städten wurden Zusammenstöße zwischen jüdischen und arabischen Israelis gemeldet

Internationale Vermittlungsversuche

International wächst die Besorgnis über die Eskalation des Konflikts. Die Vereinten Nationen warnten den UNO-Sicherheitsrat laut Diplomaten vor einem großen Krieg. Der britische Premierminister Boris Johnson rief zu einer sofortigen Deeskalation auf. Auch Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will zu Beruhigung im Gaza-Konflikt beitragen. In einem Telefonat mit dem Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas habe der 43-Jährige die Raketenangriffe der islamistischen Hamas und „anderer terroristischer Gruppen“ auf Israel verurteilt, teilte der Elyseepalast am Donnerstag mit. US-Präsident Joe Biden erklärte nach einem Telefonat mit Netanjahu, er gehe davon aus, dass die Kämpfe bald enden werden.

Ägypten bemühte sich indes erneut um Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern. Eine ägyptische Delegation traf dafür am Donnerstag in Tel Aviv ein, um auf eine Feuerpause zwischen beiden Seiten hinzuarbeiten, wie es aus Sicherheitskreisen hieß. In den Gesprächen solle es auch um Wohnungsräumungen gehen, die palästinensischen Familien in Jerusalem drohten.

Auch Russland bemüht sich um Vermittlung. „Verschiedene Länder unternehmen Anstrengungen und nutzen ihre Kontakte, um die Parteien zur Zurückhaltung zu ermutigen – auch Russland“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag in Moskau der Staatsagentur TASS zufolge. Details nannte er nicht. Israelis und Palästinenser müssten erkennen, dass es keine Alternative zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts gebe. Präsident Wladimir Putin forderte bei einem Gespräch mit UNO-Generalsekretär Antonio Guterres ein Ende der Gewalt.

Analyse: Raketenalarm in Israel

ORF-Korrespondent Tim Cupal meldet sich aus Tel Aviv und berichtet, ob den Luftangriffen in Israel auch Bodenangriffe folgen könnten.

Diplomatische Bemühungen bisher erfolglos

Ähnlich äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow. Nach seinem Telefonat mit dem ägyptischen Kollegen Samih Shoukry teilte das russische Außenministerium mit, Moskau und Kairo wollten sich eng abstimmen bei ihren Bemühungen um einen Neustart der Verhandlungen zwischen der palästinensischen und der israelischen Seite. Lawrow will etwa das Nahost-Quartett aus den USA, Russland, den Vereinten Nationen und der EU einberufen.

Die diplomatischen Bemühungen um eine Beilegung der Kämpfe blieben bisher jedoch ohne erkennbaren Erfolg. Aus Palästinenser-Kreisen verlautete, Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen, Ägyptens und Katars hätten keine Fortschritte gebracht. US-Außenminister Antony Blinken hatte die Entsendung des Nahost-Experten Hady Amr als Sondergesandten in die Region angekündigt. Auch er soll sich um eine Deeskalation bemühen.

Als Auslöser der jüngsten Gewalteskalation gelten etwa Polizeiabsperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden. Hinzu kamen drohende Zwangsräumungen von Familien und daraus resultierende Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg.