Menschen zwischen zerstörten Gebäuden in Gaza
Reuters/Mohammed Salem
Nahost

Welche Hürden nach Waffenruhe warten

Die Kampfhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas mit mehr als 250 Toten, unter ihnen großteils Zivilbevölkerung, sind mit der von den USA und Ägypten herbeigeführten Waffenruhe vorerst beendet. US-Präsident Joe Biden und die gesamte internationale Gemeinschaft sehen nun eine Chance für politische Gespräche und die langfristige Lösung des jahrzehntealten Konflikts. Allerdings gibt es gewichtige Faktoren, die dagegen sprechen.

Denn eine internationale Vermittlung kann nur erfolgreich sein, wenn beide Seiten ernsthaft daran interessiert sind. Doch das ist derzeit nicht der Fall – dafür gibt es auf palästinensischer wie israelischer Seite vor allem innenpolitische Gründe.

Beide – die im Gazastreifen regierende Hamas und Israel – nehmen den Sieg für sich in Anspruch. Das ist natürlich Unsinn, aber beide Seiten können zu Recht beanspruchen, jeweils für sie selbst wichtige Ziele erreicht zu haben: Die Hamas ist innerpalästinensisch gegenüber der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas deutlich gestärkt. Es gelang ihr, sich als entschlossene Verteidigerin der palästinensischen Interessen darzustellen – insbesondere des Anspruchs auf Ostjerusalem und den Tempelberg mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee.

Israel sieht Abschreckung wiederhergestellt

Israels Übergangsregierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wiederum zählt nach der Zerstörung weiter Teile der militärisch-terroristischen Infrastruktur von Hamas und Islamischem Dschihad die Wiederherstellung des Abschreckungseffekts als Haupterfolg.

Und für Israel besonders wichtig: US-Präsident Joe Biden stellte sich trotz parteiinterner Kritik und obwohl er alles andere als einen engen Draht zu Netanjahu hat, klar hinter Israels außergewöhnlich heftige militärische Reaktion auf den – ebenfalls außergewöhnlich heftigen – Raketenbeschuss aus Gaza. Immerhin hatte Netanjahu Ex-Präsident Barack Obama – Biden war dessen Vize – teils öffentlich brüskiert und mit dessen Nachfolger Donald Trump ein demonstrativ enges Verhältnis gepflegt.

Familie verlässt Schutzbunker in Ashkelon
Reuters/Ronen Zvulun
Eine israelische Familie verlässt nach der Waffenruhe den Bunker.

Gesichtswahrender Ausstieg aus Eskalation

Auf den ersten Blick wirkt es, als hätte US-Druck die Waffenruhe diktiert. Doch beide Seiten hatten taktisch ihre Ziele de facto erreicht. Die Intervention der USA mit Unterstützung Ägyptens ermöglichte den nötigen gesichtswahrenden Ausstieg aus den Kampfhandlungen. Denn keine der beiden Seiten wollte eine weitere Eskalation. Die Hamas musste mit jedem weiteren israelischen Luftangriff wachsende Wut der Bevölkerung im Gazastreifen gewärtigen, die nun jahrelang unter den Zerstörungen leiden wird. Zudem wurde mit jedem Angriff ihre militärische Fähigkeit gemindert.

Israel will, dass es weiter eine – wie eingeschränkt auch immer – funktionierende Verwaltung in Gaza gibt. Denn ein neuerlicher Einmarsch ist keine Option in dem schmalen Küstenstreifen, in dem rund zwei Millionen Menschen in größter Armut und unter schwierigsten Verhältnissen leben. Selbst eine Bodenoffensive wollte Israels Armee nicht wagen – zu groß ist die Angst, ein Soldat könnte in die Hände der Hamas fallen.

Der Fall Gilad Schalit steckt Israel noch zu sehr in den Knochen. Der israelische Soldat war 2006 auf israelischem Boden von der Hamas entführt und durch einen nach Israel gegrabenen Tunnel verschleppt worden. Erst nach mehr als fünfjährigen Verhandlungen und gegen die Freilassung zahlreicher palästinensischer Gefangener gelangte Schalit wieder nach Israel.

Menschen zwischen zerstörten Gebäuden in Gaza
Reuters/Mohammed Salem
Palästinenserinnen im Gazastreifen kehren nach der Waffenruhe in ihre zerstörten Häuser zurück

Nebeneffekt von Stärkung der Hamas

Zudem setzt Israel – nicht erst, aber noch konsequenter unter Netanjahu – alles daran, die politische Spaltung der Palästinenser in Hamas im Gazastreifen und Fatah im Westjordanland – aufrechtzuerhalten. Es schwächt das Gegenüber und diente Netanjahu immer wieder als Begründung dafür, Verhandlungen über eine dauerhafte Lösung abzulehnen. Es gebe keinen „Partner“ auf palästinensischer Seite, so sein Argument. Netanjahus Politik ist es seit vielen Jahren, Fakten durch den Bau von Siedlungen zu schaffen und den Konflikt mit den Palästinensern zu managen, nicht zu lösen.

So betrachtet, ist auf israelischer Seite zumindest für Netanjahu und alle, die gegen Friedensverhandlungen und stattdessen für eine Ausweitung der Siedlungstätigkeit im Westjordanland und in Ostjerusalem sind, die innerpalästinensische Stärkung der Hamas durchaus ein positiver Effekt der jüngsten Eskalationsrunde.

Erkennt Israels Existenzrecht nicht an

Denn nicht nur für Israel, sondern auch für die USA und Europa ist die Hamas nicht nur eine Terrororganisation, sondern auch kein Partner, wenn es um Verhandlungen zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts geht. Immerhin erkennt die Hamas bis heute das Existenzrecht Israels nicht an. Die USA und die EU sehen daher nur die Palästinenserbehörde, de facto also die Fatah, als legitime Vertretung an. Doch sie ist so schwach wie nie seit den Osloer Verträgen und ihrer Rückkehr aus dem Exil.

Wenn überhaupt, haben aber nur die USA das nötige Gewicht und den Einfluss, um Friedensgespräche zu initiieren. Weder die UNO, Russland, China noch die EU kommen als Vermittler infrage. Realistischer sind, wenn überhaupt, ohnehin Verhandlungen über die Festlegung eines Status quo des Koexistierens – mit der Option für eine längerfristige Vereinbarung.

Andere Probleme für Israel prioritär

Dazu kommt, dass Israel – unabhängig von der politischen Ausrichtung – selbst vorerst andere Prioritäten hat: Sicherheitspolitisch ist die Bedrohung durch eine Atommacht Iran mit Abstand das größte Thema. Innenpolitisch befindet sich das Land nach vier Wahlen binnen zweier Jahre weiter in der Dauerkrise. Vor der Eskalation standen die Chancen für eine Anti-Netanjahu-Koalition und das Ende von dessen Dominanz sehr gut. Ausgerechnet die Hamas hat Netanjahu die Tür zu einem innenpolitischen Comeback weit aufgemacht.

Denn die Rechtspartei Jamina scherte mit Verweis auf die nationale Sicherheit nach Beginn der jüngsten Kämpfe aus der Anti-Netanjahu-Koalition aus. Am wahrscheinlichsten ist derzeit, dass es zu einer weiteren Neuwahl kommt. Die Dynamik könnte aber auch noch völlig kippen – je nach den prognostizierten Wahlchancen für mehrere Kleinparteien – und der rechtskonservative Netanjahu doch noch die nötige Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset zusammenbekommen.

Neuer Staatspräsident muss gewählt werden

Dazu kommt, dass mitten in dieser Phase die Amtszeit von Staatspräsident Reuven Rivlin abläuft. Aussichtsreichster Kandidat für die Wahl in der Knesset am 2. Juni ist der ehemalige Chef der Arbeitspartei, Jizchak Herzog. Ähnlich wie in Österreich hat der Staatspräsident in Israel bei der Regierungsbildung formal eine zentrale Rolle, da er den Regierungsbildungsauftrag erteilt.

Ausschreitungen am Tempelberg in Jerusalem
AP/Mahmoud Illean
Die Waffenruhe dürfte vorerst halten, auch wenn in Jerusalem erneut Palästinenser mit der israelischen Polizei zusammenstießen

Jüdisch-arabische Spaltung als Schock

Innenpolitisch länger nachwirken werden aber vor allem die Ausschreitungen in israelischen Städten während der jüngsten Nahost-Kampfrunde: Arabische Israelis griffen jüdische Israelis und mehrere Synagogen an und zündeten etwa Autos an. Umgekehrt attackierten jüdische Israelis arabische Bürgerinnen und Bürger. Die offene Gewalt war für weite Teile der Bevölkerung ein Schock. Es wurde unübersehbar, wie fragil, konfliktbeladen und von Misstrauen geprägt das Verhältnis der beiden Bevölkerungsgruppen zueinander ist. Und es zeigte sich, wie sehr – neben anderen Faktoren – der ungelöste Nahost-Konflikt das Verhältnis der 80 Prozent jüdische Bevölkerung zu den 20 Prozent arabische Bevölkerung prägt.

Arabische Israelis beklagen seit vielen Jahren eine systematische Benachteiligung durch den Staat – etwa was Budgetmittel für die arabischen Bürgerinnen und Bürger betrifft. Der soziale Aufstieg ist für sie ungleich schwieriger.

Keine politische Partizipation

Und es gab bisher keine einzige Koalition, in der eine arabische Partei vertreten war. Genau das hätte sich nun ändern können, denn die religiös-konservative Raam-Partei von Mansur Abbas, eine Abspaltung von der arabischen Einheitsliste, war der potenzielle Mehrheitsbringer für die Anti-Netanjahu-Koalition, die es aller Voraussicht nach aber nun nicht geben wird.

Und nach den gewalttätigen Ausschreitungen in Israel ist zu befürchten, dass eine Kooperation jüdisch-israelischer Parteien mit arabischen Parteien wieder länger vom Tisch ist. Es sei denn, die nächste Regierung bricht ein Tabu und macht die jüdisch-arabische Spaltung der Gesellschaft zu einem zentralen Thema ihrer Arbeit. Das könnte – wenn konsequent verfolgt – mittelfristig auch neue Perspektiven im Konflikt mit den Palästinensern eröffnen.

Bericht zur Waffenruhe aus Tel Aviv

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet aus Tel Aviv über die von Ägypten vermittelte und auf Druck der USA zustande gekommenene Waffenruhe zwischen Israel und den Palästinensern.

Interne Klärungen auf beiden Seiten Voraussetzung

Kurz gesagt: Auf palästinensischer Seite braucht es nach der – wenige Tage vor der Eskalation erfolgten – Absage der Wahlen eine interne Klärung. Eine Kooperation von Fatah und Hamas war in der Vergangenheit mehrmals versucht worden, aber immer gescheitert. Und für die Hamas gibt es nun wohl weniger Anreiz dafür als je zuvor. In Israel muss zunächst eine neue Regierung gebildet werden – und wie diese aussieht, wird ebenso sehr darüber entscheiden, ob es überhaupt Aussichten auf eine Annäherung unter internationaler Vermittlung geben kann.

Zwei- vs. Einstaatenlösung

Für eine diplomatische Initiative stellt sich zudem ein weiteres Problem: Die internationale Gemeinschaft hält am Prinzip der Zweistaatenlösung fest. Doch bei Palästinensern wie Israelis wird seit Jahren dieses Prinzip oder schlicht deren Umsetzbarkeit angesichts der weit fortgeschrittenen jüdischen Siedlungstätigkeit zusehends infrage gestellt. Verhandlungen auf Basis einer Einstaatenlösung sind freilich derzeit erst recht nicht absehbar.