Patronenhülse auf Straße am Ort einer Schießerei in Chicago
APA/AFP/Getty Images/Scott Olson
„Notfall“ in New York

Waffengewalt in USA steigt signifikant

Über hundert Verletzte und mindestens 18 Tote nach Schusswechseln innerhalb von drei Tagen: So ist die Bilanz in Chicago am vergangenen Feiertagswochenende ausgefallen. Der US-Bundesstaat New York hat indessen wegen der zunehmenden Gewalt mit Schusswaffen den „Katastrophennotfall“ ausgerufen. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der Tötungsdelikte in den USA deutlich gestiegen.

„Wenn man sich die aktuellen Zahlen ansieht, sterben jetzt mehr Menschen an Waffengewalt und Verbrechen als an Covid“, sagte New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo am Dienstag. Er will einen Beauftragten zur Prävention von Waffengewalt ernennen, der an der Schnittstelle von Sozialdiensten, Gefängnissen, Polizeikräften und anderen Behörden agieren soll. Zur Bekämpfung des Handels mit Schusswaffen soll eine Spezialeinheit der Polizei geschaffen werden.

Rund um den US-Unabhängigkeitstag ereigneten sich heuer landesweit deutlich mehr als 500 Gewaltakte mit Schusswaffen, bei denen über 230 Menschen getötet und knapp 620 verletzt wurden, wie CNN unter Berufung auf das Gun Violence Archive schrieb. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das sogar einen Rückgang: An den Tagen rund um den 4. Juli 2020 gab es 314 Tote und 751 Verletzte nach Schusswechseln.

New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo unterzeichnet einen Rechtsakt
AP/Seth Wenig
Cuomo unterzeichnete einen neuen Rechtstext, der die Waffengewalt in New York einzäumen soll

Kaum Besserung in Sicht

Der Rückgang entspricht allerdings nicht der derzeitigen Entwicklung – landesweit sind Großstädte mit einem Anstieg der Gewaltkriminalität konfrontiert. Seit Beginn der Pandemie im vergangenen Frühjahr hat die Zahl der Tötungsdelikte dort um 30 Prozent zugenommen.

In New York etwa wurden bis zum 6. Juni nach Polizeiangaben mindestens 687 Menschen durch Schusswaffen verletzt oder getötet, im selben Zeitraum des Vorjahres waren es 409. Gouverneur Cuomo warnte in der Folge auch davor, dass die Angst vor Gewalt die Menschen davon abhalte, nach dem Homeoffice während der Pandemie an ihre Arbeitsplätze in der Stadt zurückzukehren.

Und vieles deutet darauf hin, dass sich die Lage noch verschlimmern wird: Politikerinnen und Sicherheitsexperten warnten bereits vor einem „blutigen Sommer“, auch weil sich immer mehr US-Bürgerinnen und -Bürger Waffen zulegen würden oder das bereits getan hätten.

Menschen begutachten Waffen auf einer Waffenmesse in Las Vegas
Reuters/Steve Marcus
Auch Menschen, die sich bisher nicht unter der typischen Klientel fanden, greifen in den USA vermehrt zu Schusswaffen

Waffenverkäufe florieren

„Die Waffenverkäufe in den USA schnellten kurz vor der 59. US-Präsidentschaftswahl in bisher nicht da gewesene Höhen. So wurden im Juni 2020 nach Schätzungen von Analysten der gemeinnützigen Journalistenagentur The Trace über 2,6 Millionen Schusswaffen in den USA verkauft. Die Gründe dafür sind vielfältig: neben den Unsicherheiten infolge der Coronavirus-Krise, den Black-Lives-Matter-Protesten und drohenden Unruhen im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl sorgte auch die Furcht vor einer möglichen Anpassung des Waffenrechts nach der Wahl für ein drastisches Ansteigen der Waffenverkäufe. Im Juni 2021 lagen die Waffenverkäufe nach Schätzungen bei rund 1,58 Millionen verkauften Schusswaffen“, ist bei der Statistikdatenbank Statista zu lesen.

US-Präsident Joe Biden hatte im April angekündigt, alles dafür zu tun, die „Epidemie der Schusswaffengewalt in Amerika“ zu beenden: „Es ist lange überfällig, dass wir handeln.“ Biden will mit Hilfe des Justizministeriums unter anderem die Verbreitung von im Internet gekauften und selbst zusammengebauten Schusswaffen – „Ghost Guns“ („Geisterwaffen“) genannt – eindämmen.

Strengere Überprüfungen von Waffenbesitzern und das Verbot von Kriegswaffen werden in den USA allerdings schon seit Längerem diskutiert, fanden bisher jedoch nicht die nötigen Mehrheiten im Kongress. Viele Republikaner lehnen eine Verschärfung der Waffengesetze ab – das Recht, eine Waffe zu tragen, ist im zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung festgeschrieben.

Ort einer Schießerei in Chicago
AP/Anchorage Daily News/Bill Roth
Knapp 10.400 Menschen wurden in diesem Jahr in den USA durch Schusswaffen getötet

Entsetzen in Chicago

Für besonderes Entsetzen sorgte jüngst der Mord an einem Paar in Chicago – das Gewaltverbrechen wurde noch dazu auf Video festgehalten. Nachdem sie die alljährliche Parade zu Ehren von puerto-ricanischen Menschen, die auf dem US-amerikanischen Festland leben, besucht hatten, waren Gyovanny Arzuaga und Yasmin Perez Berichten zufolge in einen „kleinen Unfall“ verwickelt. Ihr Auto war mit einer puerto-ricanischen Flagge geschmückt. Kurz danach wurden sie von mehreren Angreifern überfallen.

„Man sieht, wie sie die Frau, die das Fahrzeug gelenkt hatte, schlagen, am Weiterfahren hindern und sie dann schließlich herausziehen“, sagte Brendan Deenihan, Chef der Polizei von Chicago. Offenbar fiel auch ein Schuss. Ihr Mann stürzte aus dem Auto und kniete sich schützend über die Frau. „Und dann sieht man, dass ein Verdächtiger ihm in den Kopf schießt – fast wie bei einer Hinrichtung.“ Arzuaga war sofort tot, Perez starb zwei Tage später – sie hinterlassen zwei kleine Kinder.

Im Jahr 2020 wurden in den USA laut dem Gun Violence Archive insgesamt 19.402 Menschen durch Schusswaffen getötet, 24.156 weitere verübten auf diese Weise Suizid. 2021 gab es in den USA bis zum 7. Juli insgesamt 10.395 erfasste Todesopfer durch Schusswaffen. Rechnet man Suizide dazu, erhöht sich die Zahl auf 22.803.