Afghanischer Präsident Ashraf Ghani während einer Fernehansprache
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Afghanistan

Präsident Ghani wendet sich an Nation

Während die militant-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul umzingeln, hat Präsident Ashraf Ghani versucht, die Bevölkerung zu beruhigen. In einer kurzen TV-Ansprache am Samstag sagte er, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen.

Seit Tagen geht in sozialen Netzwerken das Gerücht um, dass Ghani bereit sei zurückzutreten. Im Gegenzug soll es eine Feuerpause geben. Doch in seiner Ansprache am Samstag war davon noch keine Rede. Er wolle nicht, dass weiter das Blut unschuldiger Menschen in Afghanistan vergossen werde, sagte der Präsident.

Es war Ghanis erster öffentlicher Auftritt seit den jüngsten Erfolgen der Taliban. Mittlerweile haben die Kämpfer bereits mehrere regionale Hauptstädte eingenommen und marschieren auf Kabul zu. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

Gespräche mit Milizenführern

„Wir haben Konsultationen innerhalb der Regierung mit Ältesten und politischen Führern, Vertretern der verschiedenen Ebenen der Gemeinschaft sowie unseren internationalen Verbündeten begonnen“, sagte er. „Bald werden wir Ihnen die Ergebnisse mitteilen“, fügte er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Der Präsident war am Mittwoch nach Mazar-e-Sharif geflogen, um die Verteidigungskräfte der Stadt zu versammeln, und traf sich mit mehreren Milizenführern, darunter Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Nour, die Tausende von Kämpfern befehligen. Die Einwohner von Mazar-e-Sharif äußerten sich besorgt über den Zusammenbruch der Sicherheit.

Die Milizenführer sind nach wie vor mit der Regierung verbündet, aber während früherer Kämpfe in Afghanistan waren die Kriegsherren bekannt dafür, dass sie die Seiten wechselten, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Ismail Khan, ein mächtiger ehemaliger Warlord, der versucht hatte, Herat zu verteidigen, wurde von den Taliban gefangen genommen, als die Aufständischen die westliche Stadt nach zwei Wochen schwerer Kämpfe einnahmen.

Taliban vor Kabul

Unterdessen setzen die Taliban ihren Vormarsch in Afghanistan fort. Am Samstag habe es Gefechte um Maidan Shar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer von Kabul gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der dpa. In Kabul trafen unterdessen erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen.

Afghanisches Militär kontrolliert Zufahrten nach Kabul
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Das afghanische Militär bewacht nun die Zufahrten nach Kabul

Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagte ein US-Vertreter. Allerdings versuchten die Islamisten, die Hauptstadt mit ihren vier Millionen Einwohnern zu isolieren, sagte Ministeriumssprecher John Kirby. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Taliban innerhalb weniger Tage auf Kabul vorrücken könnten. „Afghanistan gerät außer Kontrolle“, warnte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Er forderte die Taliban auf, ihre Offensive sofort zu stoppen.

Landesweit setzten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und Regierungstruppen in mindestens fünf Provinzen fort. Auch Mazar-i-Sharif, wo die deutsche Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, ist ein klares Ziel der Islamisten. Die Taliban versuchten, in die Stadt im Norden einzudringen, konnten aber nach Angaben örtlicher Politiker zurückgedrängt werden. Die Taliban haben umliegende Provinzen bereits eingenommen.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org

Personal wird abgezogen

Da der Widerstand der afghanischen Regierungstruppen bröckelt, bemühen sich westliche Staaten fieberhaft, Landsleute und Botschaftspersonal in Sicherheit zu bringen. Die US-Regierung hatte angekündigt, dafür vorübergehend rund 3.000 Soldaten zu entsenden. Großbritannien will rund 600 Soldaten nach Kabul entsenden, um Botschaftspersonal und einheimische Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Auch weitere Länder organisieren die Ausreise ihrer Botschaftsangehörigen, u. a. Deutschland, die Niederlande und Spanien.

afghanische Flüchtliche an der pakistanischen Grenze
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Tausende Menschen flüchten vor den Taliban

Paris will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hieß es am Freitagabend aus Elysee-Kreisen. Man unternehme „außerordentliche Anstrengungen“, um etwa afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.

Sorge vor Angriff auf Kabul

Die Taliban erobern in Afghanistan immer weitere Gebiete. Nun wächst die Sorge vor einem Angriff auf die Hauptstadt Kabul, in die viele Menschen geflohen sind. Strategisch wichtige Städte südlich von Kabul wurden bereits eingenommen.

UNO-Generalsekretär Guterres sagte, die Staatengemeinschaft müsse deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Das könne nur „zu einem längeren Bürgerkrieg oder der kompletten Isolation Afghanistans führen“. Die Vereinten Nationen hatten am Donnerstag vor einer humanitären Katastrophe gewarnt und die Nachbarn Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten.

Österreich unterstützt Friedensgespräche

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) forderte die Taliban auf, „ihr rücksichtsloses Vorgehen sofort zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“. In einer Stellungnahme ließ Schallenberg die islamistischen Milizen wissen: „Man kann nicht die eine Hand zum Dialog ausstrecken und mit der anderen weiter die Waffe umklammern.“ Österreich unterstütze die intensiven Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Friedensgespräche in Doha voranzubringen.

Die Taliban hatten in Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 geherrscht und eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchgesetzt. Das wird nun erneut befürchtet. Es herrscht die Sorge, dass die in den vergangenen 20 Jahren mit westlicher Hilfe erzielten Fortschritte bei den Menschen- und Freiheitsrechten, insbesondere für Frauen, wieder verloren gehen und es zu einer Flüchtlingskrise kommt.