Rauch über Kabul in der Nähe der US-Botschaft
AP/Rahmat Gul
Kabul eingekesselt

Taliban vor Machtübernahme

Die afghanische Regierung hat angesichts der bis an den Stadtrand der Hauptstadt Kabul vorgerückten Taliban eine „friedliche Machtübergabe“ angekündigt. „Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben“, sagte Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal am Sonntag. Es soll eine „Übergangsregierung“ gebildet werden. Medienberichten zufolge kontrollieren die Taliban bereits Teile von Kabul.

Die Sicherheit der Hauptstadt sei garantiert, sagte der Innenminister. Mirsakwal rief die Menschen dazu auf, keiner Propaganda anheimzufallen. „Die Leute brauchen sich keine Sorgen zu machen, die Stadt ist sicher“, erklärte er. Jeder, der Unordnung in der Stadt verursache, werde in Übereinstimmung mit dem Gesetz behandelt.

Kurz zuvor hatte der Taliban-Sprecher Sabiullah Mujahid der BBC gesagt, er könne bestätigen, dass es Gespräche mit dem Präsidentenpalast über eine friedliche Machtübernahme gebe. Der Leiter des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, organisiere diese. Der ehemalige afghanische Innenminister und Botschafter in Deutschland, Ali Ahmad Jalali, ist Diplomatenkreisen zufolge im Gespräch, eine Übergangsregierung zu führen. Ob die Taliban Jalalis Ernennung zustimmen, sei noch nicht klar. Er gelte aber als Kompromisskandidat, der potenziell von allen Seiten akzeptiert werden könnte.

Der Innenminister von Afghanistan Abdul Sattar Mirsakwal
Reuters/Ministry of Interior
Innenminister Mirsakwal kündigte per Videobotschaft eine „friedliche Machtübergabe“ an

Verhandlungen in Doha

Afghanistans Präsident Aschraf Ghani forderte die Regierungstruppen auf, in der Hauptstadt weiterhin für „die Sicherheit aller Bürger“ zu sorgen. Die Verbreitung von Chaos oder Plünderungen würden nicht geduldet, erklärte Ghani in einer am Sonntag verbreiteten Videobotschaft.

Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi erklärte indes in einer auf Facebook veröffentlichten Videoansprache, er als Vertreter der Streitkräfte garantiere die Sicherheit Kabuls. Die Menschen sollten nicht in Panik verfallen. Es sei bekannt, dass sich Ghani mit heimischen Politikern getroffen habe und ihnen die Verantwortung übertragen habe, eine autoritative Delegation aufzustellen, die am Montag nach Doha reisen solle, um mit den Taliban eine Einigung über die Afghanistan-Frage zu erzielen. Die Sicherheit von Kabul werde aufrechterhalten, bis eine Einigung erzielt wird, sagte er.

Taliban in Kabul vor Machtübernahme

Nachdem sie in den Tagen zuvor zahlreiche weitere Städte eingenommen haben, haben die Taliban am Sonntag die afghanische Hauptstadt Kabul erreicht. Der Innenminister des Landes spricht bereits von einer „friedlichen Machtübergabe“.

In Kabul spielten sich Medienberichten zufolge dennoch chaotische Szenen ab. Es kam zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben, Lebensmittel zu kaufen und zu ihren Familien heimzukehren. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt. Regierungsmitarbeiter hätten ihre Büro fluchtartig verlassen.

Berichte: Teile von Stadt bereits übernommen

Die Taliban seien eigenen Angaben zufolge angewiesen, noch nicht in die Hauptstadt Kabul vorzudringen. Sie sollten an den Toren der Stadt Stellung beziehen, heißt es in einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung der Islamisten. Die Erklärung wurde veröffentlicht, während in sozialen Netzwerken von bereits in die Außenbezirke der Stadt vorgedrungenen Taliban-Kämpfern die Rede war. Sie hielten sich in Kalakan, Qarabagh und Paghman auf, sagten dazu drei Regierungsbeamte gegenüber der Nachrichtenagentur AP.

Anderen Medienberichten zufolge haben die Taliban bereits die Kontrolle in Teilen der Stadt übernommen. Berichtet wird von übernommenen Polizeistationen, in sozialen Netzwerken wurden zudem Bilder veröffentlicht, auf denen Taliban-Kämpfer auf dem Universitätsgelände der Stadt zu sehen seien. Die Taliban-Führung erklärte, dass allen Menschen, die Kabul verlassen wollten, ein sicherer Abzug gewährt werde. Frauen sollten sich an geschützte Orte begeben. Man werde keine Rache üben, sagte ein Taliban-Sprecher. Allen, die der Regierung oder im Militär gedient hätten, werde vergeben. Zivilisten müssten das Land nicht aus Angst verlassen.

Auch Ausländerinnen und Ausländer können den Taliban zufolge die afghanische Hauptstadt verlassen, wenn sie dies wünschten. Andernfalls müssten sie sich in den kommenden Tagen bei von den Taliban eingerichteten Stellen registrieren lassen, sagt ein Taliban-Vertreter. Kabul sei eingeschlossen, der Flughafen bleibe aber in Funktion. Die Versorgung von Krankenhäusern werde nicht unterbunden. Mitglieder der afghanischen Armee könnten nach Hause gehen. Die Taliban hätten zum jetzigen Zeitpunkt Freuden-Schüsse als Siegeszeichen untersagt.

Jalalabad gefallen

Nur wenige Stunden vor Vorrücken Richtung Kabul übernahmen die Taliban die Kontrolle über die Großstadt Jalalabad im Osten des Landes. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner am Sonntag. Die Islamisten seien um 6.00 Uhr (Ortszeit) nach Jalalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. „Kämpfen wäre sinnlos gewesen.“

Die militant-islamistischen Taliban auf einem Platz der Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans
Reuters/Social Media Website
Am Sonntag rückten die Taliban in Jalalabad ein

Erst am Samstagabend hatten die Taliban die wichtige Stadt Mazar-e Sharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen. Der örtliche Provinzrat und Bewohner von Mazar-e Sharif berichteten, dass die Stadt eingenommen wurde. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen. In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Die Stadt galt als eine der letzten Hochburgen des Regierungslagers. Kabul ist nun angesichts des raschen Vorrückens der Taliban de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen.

Hubschrauber für US-Botschaftspersonal

Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai sorgte international für Fassungslosigkeit. Unter Hochdruck arbeiten westliche Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland, an der Rückführung von Botschaftspersonal sowie der Ausreise von afghanischen Ortskräften aus Kabul.

Ein US-Helikopter kreist über der US-Botschaft in Kabul
AP/Rahmat Gul
Die USA bringen ihr Botschaftspersonal per Hubschrauber zum Flughafen von Kabul

US-Präsident Joe Biden verteidigte am Vortag erneut seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren komplett aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, sagte er. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“ In einer Mitteilung des Präsidenten hieß es: „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“ Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

Präsident mit TV-Ansprache

Der afghanische Präsident Ghani war in einer am Samstag übertragenen TV-Ansprache noch um Beruhigung der Bevölkerung bemüht. Er sagte, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

Laut dem Kabuler Experten Sajed Naser Mosawi scheinen Ghani die Optionen auszugehen: Der Staatschef scheine nicht bereit, „bis zum Ende zu kämpfen“. Vielmehr wolle Ghani offenbar „eine Art von Einigung“ erzielen oder gar kapitulieren. Die US-Regierung hatte der afghanischen Armee zuvor einen „Mangel an Widerstand“ vorgeworfen.

UNO: „Entsetzliche“ Berichte

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach zuletzt von „entsetzlichen“ Berichten über Menschenrechtsverletzungen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Zehntausende Menschen sind vor den Taliban nach Kabul geflohen. Die Staatengemeinschaft muss laut Guterres nun deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Nach UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres damit 400.000. Intern Vertriebene sind in großer Zahl nach Kabul gereist und campieren dort etwa in Parks und auf öffentlichen Plätzen.

Afghanistan-Konferenz geplant

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) verweisen indes auf eine geplante Afghanistan-Konferenz mit den zentralasiatischen Nachbarländern des Krisenlandes und einigen EU-Ländern, um möglichst zielsicher Hilfe vor Ort bieten zu können. Die Konferenz sei für Ende August oder Anfang September in virtueller Form geplant, wie eine Sprecherin Schallenbergs der APA mitteilte. Auf welcher Ebene die Länder vertreten sein werden, sei „noch in Ausarbeitung“.