Ein US-Helikopter kreist über der US-Botschaft in Kabul
AP/Rahmat Gul
„Das ist nicht Saigon“

Hektische Flucht aus Botschaften in Kabul

Noch vor wenigen Tagen hat US-Präsident Joe Biden angekündigt, dass es ungeachtet der laufenden Taliban-Offensive in Afghanistan keinen „Saigon-Moment“ und somit auch keine hektische Evakuierung wie nach dem verlorenen Vietnam-Krieg im Jahr 1975 geben werde. Seit Sonntag steht der Machtübernahme der radikal-islamischen Taliben nichts mehr im Weg – und während die Islamisten die Übernahme der afghanischen Hauptstadt angingen, räumten auch die USA mit Hubschraubern ihre Vertretung in Kabul.

Die Evakuierung der Botschaft sei „in vollem Gange“ und solle bis spätestens Dienstagfrüh abgeschlossen sein, berichtete der Sender CNN am Sonntag unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten US-Regierungsbeamten. Zuvor hatte der Sender gemeldet, dass Hubschrauber Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Botschaft zum Flughafen brächten. Auch die „New York Times“ berichtete, die USA habe damit begonnen, diplomatische und zivile Mitarbeiter aus Kabul rauszubringen.

Der Plan sehe vor, zunächst das Botschaftspersonal in Sicherheit zu bringen, gefolgt von US-Bürgerinnen und -Bürgern und anschließend Inhaberinnen und Inhabern spezieller Einwanderungsvisa für die USA, schreibt CNN. Geprüft werde, ob auch Personen, die sich zurzeit im Antragsprozess für ihr Visum befänden, auch außer Landes gebracht werden könnten, ebenso wie afghanische Staatsangehörige, die in der US-Botschaft arbeiteten. Man arbeite „ununterbrochen an der Evakuierung von Tausenden, die uns geholfen haben“, teilte die US-Botschaft in Kabul dazu via Twitter mit.

Eine Handvoll Botschaftsmitarbeiter solle vorerst in Kabul bleiben. Die „New York Times“ berichtete unter Berufung auf einen hochrangigen Beamten, dass diese aber in eine diplomatische Einrichtung auf dem Flughafen gebracht werden. Dort sollen sie für unbestimmte Zeit bleiben. Das Botschaftsgebäude soll dem Sender CNN zufolge komplett evakuiert werden. Albaniens Präsident Edi Rama erklärte sich indes nach einer entsprechenden Bitte aus den USA bereit, vorübergehend Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, die in die USA wollen.

Blinken: „Das ist nicht Saigon“

Angesichts des raschen Vorrückens der Taliban hatte Biden am Samstag die Zahl der US-Soldaten erhöht, die bei der Evakuierung der Botschaft helfen sollen. Statt der zunächst vorgesehenen 3.000 Soldaten stehen nun „etwa 5.000 Soldaten“ im Einsatz, um die Ausreise von Botschaftspersonal und zahlreicher ziviler Ortskräfte zu sichern.

Für US-Außenminister Antony Blinken ist die Evakuierung des Botschaftspersonals die „Aufgabe Nummer eins“. „Daran arbeiten wir gerade“, sagte Blinken. Das gelte auch für afghanische Helfer, die US-Truppen während des Einsatzes unterstützt haben. Blinken betonte: „Das ist nicht Saigon.“ Damit spielte er auf die Niederlage der USA im Vietnam-Krieg 1975 an. Damals gingen Bilder einer chaotischen Rettung des Botschaftspersonals aus Hanoi um die Welt. Blinken äußerte sich nicht zum Stand der Evakuierung in Kabul.

Evakuierung der US-Botschaft in Saigon am 29. April 1975
AP/Frances Starner
Im April 1975 wurde die US-Botschaft in Saigon evakuiert

Blinken verteidigte erneut den Truppenabzug. „Wir sind vor 20 Jahren nach Afghanistan gegangen, mit einer Mission“, sagte er. Es sei darum gegangen, sich mit den Leuten zu befassen, welche die USA am 11. September 2001 angegriffen hätten. „Und wir haben diese Mission erfolgreich erfüllt“, sagte Blinken. Er räumte allerdings ein, dass auch die USA von den Ereignissen in Afghanistan überrascht worden seien. „Wir sehen, dass die Streitkräfte nicht in der Lage waren, das Land zu verteidigen – und zwar schneller, als wir es erwartet hatten.“

Auch Briten schicken Spezialkräfte

So wie viele andere Länder stellte auch Großbritannien bereits vor Tagen die Weichen der nun laufenden Evakuierungsaktionen. Der britische Premier Boris Johnson kündigte an, dass die britische Botschaft in Kabul in den kommenden Tagen größtenteils geräumt werde. Gleichzeitig solle ein Team des Innenministeriums entsandt werden, um die Ausreise von Afghanen zu organisieren, die für die britischen Streitkräfte tätig waren.

„Es ist offensichtlich sehr schwierig“, sagte Johnson angesichts des dramatischen Vormarschs der Taliban nach dem Abzug westlicher Truppen. Großbritannien könne aber „extrem stolz“ auf seine Rolle in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren sein. Nach der US-Ankündigung zum Abzug hatten auch Großbritannien und die übrigen Alliierten wie Deutschland entschieden, den Einsatz zu beenden. Seitdem haben die militant-islamistischen Taliban weite Teile des Landes erobert.

Johnson sprach sich gegen eine Anerkennung einer Taliban-Regierung durch einzelne Länder aus. „Wir wollen nicht, dass jemand die Taliban bilateral anerkennt“, sagt Johnson. „Wir wollen eine einheitliche Position unter allen Gleichgesinnten, soweit wir eine bekommen können.“ Es sei klar, dass es in Afghanistan bald eine neue Regierung geben werde, fügt Johnson hinzu.

Deutsche verlassen Kabul über Taschkent

Angesichts der bevorstehenden Machtübernahme durch die Taliban will auch Deutschland die im Land verbliebenen Deutschen sofort ausfliegen. Noch am Sonntag solle ein Großtransporter vom Typ A400M der Bundeswehr sowie ein weiterer Airbus A310 nach Afghanistan starten, berichtete die „Bild“-Zeitung ohne nähere Angaben von Quellen. Eigentlich war eine Evakuierung erst für Montag geplant. Die Botschaft wurde unterdessen geschlossen und das Personal zum militärischen Flughafen in Kabul verlegt, teilte Außenminister Heiko Maas mit.

Passagiere am internationalen Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul
AP/Rahmat Gu

Nach einem Hickhack um die Ausreise von afghanischen Mitarbeitern nach Deutschland in den vergangenen Wochen wird nun eine „All-in-Lösung“ vorbereitet. Deutsche und ihre Mitarbeiter werden in einem gemeinsamen Einsatz ausgeflogen. Allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Entwicklungsministeriums haben derzeit noch mehr als 1.000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan. Gefährdet sind aber auch Mitarbeiter deutscher Medien.

In Kabul sollen noch rund 100 Deutsche sein, darunter das rund 30-köpfige Botschaftspersonal und Polizeikräfte. Die Deutschen sowie afghanischen Ortskräfte sollten von der Luftwaffe zunächst nach Taschkent in Usbekistan ausgeflogen werden. Geschützt würden sie von rund 200 Fallschirmjägern, die in das Land flögen. „Bild“ zufolge ist die Regierung mit dem Bundestag im Gespräch, der den Einsatz wegen der akuten Gefahr auch erst im Nachhinein genehmigen könnte. Agenturberichten zufolge handelt es sich um den bisher wohl größten Evakuierungseinsatz der Bundeswehr.

Russland bleibt

Während Italien und die Niederlande ihr Botschaftspersonal ebenfalls ausfliegen wollen, bleibt Russland vorerst in Kabul. Eine Evakuierung sei nicht geplant, sagte der Afghanistan-Beauftragte des russischen Außenministeriums, Samir Kabulow, am Sonntag der Agentur Interfax. „Der Botschafter und unsere Mitarbeiter nehmen ihre Aufgaben in aller Ruhe wahr.“ Die jüngste Entwicklung im Land sei Kabulow zufolge als „trauriges Bild der Folgen der amerikanischen Präsenz“.

Österreich hat kein Botschaftspersonal in Kabul, der Amtsbereich Afghanistan wird von Islamabad aus betreut. Das Außenministerium in Wien weiß aktuell nur von einer Person mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die sich derzeit noch in Afghanistan aufhält, wie eine Sprecherin am Sonntag auf APA-Anfrage mitteilte. Das Ministerium stehe mit der Person laufend in Kontakt, eine Ausreise sei geplant, hieß es. Weitere Österreicher hätten sich bisher nicht gemeldet.

Die Taliban versicherten am Sonntag indes, dass alle Ausländerinnen und Ausländer die afghanische Hauptstadt verlassen können, wenn sie das wünschten. Andernfalls müssten sie sich in den kommenden Tagen bei von den Taliban eingerichteten Stellen registrieren lassen, sagt ein Taliban-Vertreter. Kabul sei eingeschlossen, der Flughafen und damit der Dreh- und Angelpunkt für eine Ausreise aus dem Land bleibe aber in Funktion.

Sorge um Ortskräfte

Die EU bemüht sich um den Schutz ihrer afghanischen Mitarbeiter in dem Land. Die EU arbeite zusammen mit den Mitgliedstaaten „hart daran, schnelle Lösungen für sie zu finden und ihre Sicherheit zu gewährleisten“, erklärte ein EU-Sprecher. Ziel sei es, die örtlichen Mitarbeiter und ihre Angehörigen an einen sicheren Ort zu bringen.

Frankreich will seine Botschaft in Kabul offenhalten. Diese werde an den Flughafen verlegt, wo alles dafür getan werde, um weiter Visa an afghanische Ortskräfte und andere gefährdete Personengruppen ausstellen zu können, teilte das Außenministerium mit. Das Verteidigungsministerium werde zudem auf Geheiß von Präsident Emmanuel Macron militärische Verstärkung in die Vereinigten Arabischen Emirate schicken. Ziel dieser Mission sei es, Evakuierungsflüge nach Abu Dhabi zu ermöglichen.