US-Präsident Joe Biden
Reuters/Evelyn Hockstein
Afghanistan

Scharfe Kritik an Biden nach Taliban-Vorstoß

Nach dem schnellen Vorstoß der radikalislamischen Taliban bis in die afghanische Hauptstadt Kabul hagelt es Kritik an der US-Führung. Die oppositionellen Republikaner sehen einen „verpfuschten Abzug“, Zeitungskommentatoren etwa die „schlimmste US-Demütigung seit dem Fall Saigons 1975“. Auch bei den US-Demokraten regte sich Kritik.

Der „verpfuschte Abzug“ aus Afghanistan und die „hektische Evakuierung“ von US-Amerikanern und afghanischen Helfern seien ein „beschämendes Versagen der amerikanischen Führung“, sagte der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, am Sonntag (Ortszeit). Die USA hätten die Möglichkeit gehabt, „diese Katastrophe zu vermeiden“.

Die prominente Republikanerin Liz Cheney sagte: „Was wir gerade in Afghanistan erleben, ist das, was passiert, wenn sich Amerika aus der Welt zurückzieht.“ Der ehemalige Präsident Donald Trump und Biden würden dafür die Verantwortung tragen. Die Verbündeten der USA würden sich fragen, ob sie überhaupt auf die Vereinigten Staaten zählen könnten, sagte Cheney, Tochter des früheren Vizepräsidenten Dick Cheney.

Der Abzug der US-Truppen aus dem Land war zwar noch von Bidens Vorgänger Trump auf den Weg gebracht worden; Biden war es jedoch, der ungeachtet der sich verschlechternden Sicherheitslage die Truppen heimholte. Noch Anfang Juli sagte Biden, es sei „unwahrscheinlich“, dass die Taliban das Land überrennen könnten. Noch als Vize von US-Präsident Barack Obama war er gegen die Aufstockung der US-Truppen.

Hitzige Debatten

Am Sonntag gaben hochrangige Vertreter der US-Regierung zu, dass sie vom schnellen Vorstoß der Taliban überrascht wurden. US-Außenminister Antony Blinken sagte gegenüber dem US-Sender CNN, dass das afghanische Militär es nicht schaffe, das Land zu verteidigen – das sei schneller passiert, als man erwartet habe. In „30 bis 90 Tagen“ werde Kabul an die Taliban fallen, lautete die Einschätzung der US-Geheimdienste noch vergangene Woche, berichtete die „Washington Post“.

US-Soldaten in Kandahar (Afghanistan)
AP/Allauddin Khan
Seit 20 Jahren sind US-Soldaten und -Soldatinnen in Afghanistan

In einer Konferenzschaltung zwischen dem US-Kongress und der US-Regierung soll es laut „New York Times“ („NYT“) hitzig zugegangen sein, als es um die Frage ging, warum die US-Geheimdienste bei der Einschätzung der Lage so versagt hätten. Dabei soll es auch von demokratischer Seite Kritik gegeben haben, wenn auch nicht so öffentlich.

Biden wollte Einsatz schnell beenden

Sicherheitsexpertinnen und -experten versuchten Biden laut US-Medien davon zu überzeugen, den Truppenabzug um einige Monate zu verschieben, um der afghanischen Armee Zeit zu geben, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Biden blieb hart: Bis spätestens 11. September – dem 20. Jahrestag der 9/11-Terroranschläge – werde der Abzug abgeschlossen, so der Präsident.

Er sei bereits der vierte US-Präsident, der die Verantwortung für die Truppenpräsenz in Afghanistan trage, so Biden am Samstag. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“ Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz würden keinen Unterschied machen.

Biden habe aber die „psychologische“ Wirkung des Abzugs unterschätzt, so der Afghanistan-Experte Andrew Wilder vom US-amerikanischen Institute of Peace. Diese habe eine Atmosphäre geschaffen, in der ein Sieg der Taliban „unausweichlich“ erscheine. Die Frage sei, heißt es in einer „NYT“-Analyse, wie viel von diesem Versagen in Afghanistan an Biden oder auch Trump hängen bleibt oder ob die US-Bevölkerung die aktuellen Ereignisse als unvermeidbar ansieht.

„Schlimmste US-Demütigung seit Saigon“

Das „Wall Street Journal“ schrieb dazu, dass die von Trump gesetzte Frist für den Abzug ein Fehler war, den Biden aber hätte umgehen können. „Biden hätte die bescheidene (Militär-)Präsenz aufrechterhalten können, die seine militärischen und außenpolitischen Berater vorgeschlagen hatten. (…) Stattdessen ordnete er einen schnellen und vollständigen Rückzug an (…). Nur vier Monate später ist das Ergebnis die schlimmste US-Demütigung seit dem Fall Saigons 1975.“

Ähnlich äußerte sich die liberale dänische Tagezeitung „Politiken“. Es müsse ein Umdenken in der Außenpolitik geben. „Die afghanischen Frauen sind nun auf dem Weg zurück zur Burka, und alle, die dem Westen geholfen und an unsere Vision einer liberaleren und offenen Gesellschaft geglaubt haben, sind in Lebensgefahr. Es ist fast unerträglich, das zu sehen.“

Der ehemalige US-Verteidigungsminister Chuck Hagel stellte dem US-Einsatz in Afghanistan ganz grundlegend ein vernichtendes Zeugnis aus. „Wir haben die Kultur nie verstanden, wir haben die Religion nie verstanden, das Stammesdenken, die Geschichte“, sagte der Republikaner Hagel am Sonntagnachmittag (Ortszeit) dem Sender CNN. „Man ist zum Scheitern verurteilt, wenn man das nicht versteht.“ Die USA hätten zwar auch viel Gutes getan, sie seien aber „vom Weg abgekommen und haben nicht wirklich verstanden, was wir da machen“.

Ex-Präsident Trump: Biden hat sich Taliban „ergeben“

Ex-US-Präsident Donald Trump warf Biden vor, sich den Taliban „ergeben“ zu haben. Biden habe mit seiner Afghanistan-Politik „das Vertrauen in die Macht und den Einfluss Amerikas zerstört“, erklärte Trump am Montag. Die Folgen des Abzugs der US-Truppen wären unter Führung seiner Regierung „komplett anders“ gewesen, behauptete Trump. Er hatte den Abzug der US-Truppen als Präsident durch ein Abkommen mit den Taliban auf den Weg gebracht.

Wenn es nach Trump gegangen wäre, hätten die US-Soldaten Afghanistan schon im Mai verlassen. Trumps früherer nationaler Sicherheitsberater John Bolton sagte dem Radiosender NPR am Montag, dieser hätte vermutlich genauso gehandelt wie nun Biden. Der Präsident habe an der von Trump vorgegebenen „falschen“ Politik festgehalten, sagte Bolton. Trump hatte Bolton 2019 wegen Meinungsverschiedenheiten entlassen.

„Quell der Instabilität“, Angst vor Terror

Afghanistan könne erneut zu einem „Quell der Instabilität für die ganze Region werden“, warnte der „Spiegel“. Afghanische Warlords könnten sich gegen die Taliban in Stellung bringen, die umliegenden Regionalmächte Iran, Pakistan und Indien könnten sich über Stellvertretertruppen einmischen.

Ob sich die USA und Europa nochmals militärisch in der Region engagieren werden, ist höchst ungewiss. „Das monumentale Afghanistan-Debakel markiert eine Wende: In absehbarer Zeit wird es wohl keine westlichen Militärinterventionen mehr geben, so dick kann der humanitäre Anstrich gar nicht sein“, kommentierte die „Presse“. London kündigte schon an, keine weiteren Truppen nach Afghanistan schicken zu wollen – und auch die USA werden eher keine neue Truppen senden.

Der „Telegraph“ erinnerte unterdessen an die eigentlichen Gründe für die US-Truppen in Afghanistan: Hätten die Dschihadisten nicht den Al-Kaida-Fanatikern, die das World Trade Center angriffen, Unterschlupf gewährt, wären die Taliban wahrscheinlich die letzten 20 Jahre an der Macht gewesen: „Sollte es jedoch Anzeichen dafür geben, dass Afghanistan erneut ein Sicherheitsrisiko für den Westen darstellt, wird eine militärische Reaktion ohne Bodentruppen erforderlich sein, um dies zu unterbinden.“