Eine unbemannte Predator B des US-Militärs
AP/Eric Gay
Afghanistan

US-Drohnenangriff gegen IS-Miliz

Die USA haben mit einem Vergeltungsangriff auf den tödlichen Terroranschlag in Kabul reagiert und einen örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angegriffen. Der unbemannte Luftschlag in der afghanischen Provinz Nangarhar habe „einem Planer“ des IS-Ablegers Provinz Khorasan (ISKP) gegolten, teilte das US-Zentralkommando Centcom am Freitagabend (Ortszeit) mit.

„Ersten Anzeichen zufolge haben wir das Ziel getötet“, sagte Sprecher Bill Urban. „Wir wissen von keinen zivilen Opfern“, so der Centcom-Sprecher. Weitere Einzelheiten gab das Zentralkommando nicht bekannt. Es war auch nicht klar, ob die angegriffene Person direkt in den blutigen Anschlag auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt verwickelt war.

Als unbemannte Luftschläge bezeichnen die US-Streitkräfte in der Regel Angriffe mit ferngesteuerten Drohnen, die ihre Ziele unbemerkt aus großer Höhe ins Visier nehmen können. Die USA hatten im Zuge des Abzugs ihrer Truppen aus Afghanistan immer wieder gesagt, dass sie auch ohne Streitkräfte auf dem Boden die Fähigkeit hätten, Luftschläge aus der Ferne auszuüben.

Biden stellte Vergeltungsmaßnahmen in Aussicht

US-Präsident Joe Biden hatte nach der blutigen Attacke von Kabul Rache geschworen. Bei dem Terrorangriff am Flughafen waren am Donnerstag Dutzende Menschen getötet worden – darunter 13 US-Soldaten. Laut „New York Times“ gab es neben 170 Todesopfern auch rund 200 Verletzte. Das Blatt berief sich in seinem am Freitag veröffentlichten Bericht (Onlineausgabe) auf Spitalsvertreter, die anonym bleiben wollten. Die Taliban hätten ihnen verboten, mit den Medien zu sprechen, hieß es.

Am Freitag bekräftigte Bidens Sprecherin Jen Psaki die Entschlossenheit des Präsidenten: „Er hat klargemacht, dass er nicht will, dass sie noch auf der Erde leben.“ Sie reagierte damit auf die Frage, ob Biden die Urheber der Attacke töten lassen oder vor Gericht stellen wolle. Biden sei über entsprechende Pläne zu möglichen Angriffszielen informiert worden, sagte Psaki.

Bedrohung in Kabul „akut“

Gleichzeitig befürchten die USA einen weiteren Terroranschlag in Kabul. Die US-Botschaft veröffentlichte in der Nacht erneut eine Sicherheitswarnung und rief alle Landsleute dazu auf, die Gegend rund um die Eingangstore zum Flughafen sofort zu verlassen.

US-Bürger, die sich am Abbey-Gate, Ost-Gate, Nord-Gate oder New-Ministry-of-Interior-Gate aufhielten, „sollten das Gebiet sofort verlassen“, appellierte die US-Botschaft. Stunden vor der Terrorattacke am Donnerstag hatte sie eine ähnliche Warnung veröffentlicht. „Die Bedrohung ist akut, sie dauert an. Unsere Truppen sind immer noch in Gefahr“, so Psaki am Freitag. Biden sei bei einem Treffen mit seinem nationalen Sicherheitsteam darüber informiert worden, „dass ein weiterer Terroranschlag in Kabul wahrscheinlich ist“.

Die kommenden Tage werden nach Angaben des Weißen Hauses die gefährlichsten des Evakuierungseinsatzes sein. Biden hatte am Freitag dennoch betont, dass die USA weiter Menschen ausfliegen würden und es ein „lohnender Einsatz“ sei. Nach Angaben des Weißen Hauses flogen die USA und ihre Verbündeten seit dem Start der Evakuierungsmission in Kabul Mitte August rund 112.000 Menschen aus Afghanistan aus.

Tausende warten noch

Bis Dienstag wollen die USA und wenige Verbündete noch Menschen aus Kabul ausfliegen. Innerhalb eines Tages wurden insgesamt 6.800 Menschen aus Kabul ausgeflogen, wie eine Sprecherin des Weißen Hauses am Samstagvormittag sagte. 4.000 Menschen wurden von der US-Luftwaffe befördert, 2.800 von den Allierten. Man sei auch in Kontakt mit mehreren hundert Staatsbürgern, die sich noch nicht entschieden hätten, ob sie das Land verlassen wollten, hieß es aus dem US-Außenministerium.

Was nach Dienstag in Kabul passieren wird, ist unklar. Deutschland, Australien, Belgien, Dänemark, Polen, die Niederlande, Schweden, Spanien, Italien und Kanada beendeten inzwischen ihre Rettungseinsätze. Russland plant zumindest vorerst keine weiteren Flüge aus Afghanistan. Frankreich will die Flüge über Freitagabend hinaus fortsetzen.

Die Pläne der USA

ORF-Korrespondent Christophe Kohl spricht über das weitere Vorhaben der USA in Afghanistan.

Großbritannien beendet Einsatz

Auch Großbritannien wird die Evakuierungen in Afghanistan am Samstag einstellen. Das sagte Nick Carter, Chef des britischen Verteidigungsstabs, dem Sender BBC Radio 4. Es sei „herzzerreißend“, dass man nicht in der Lage gewesen sei, mehr Menschen aus der Region zu holen, so Carter in der Sendung „Today“. Es werde noch einige zivile Evakuierungsflüge von Kabul nach Großbritannien gegeben, aber „nur noch sehr wenige“. „Wir nähern uns dem Ende der Evakuierung, die im Laufe des heutigen Tages stattfinden wird, und dann wird es natürlich notwendig sein, unsere Truppen mit den verbleibenden Flugzeugen zu evakuieren“, so Carter in der BBC.

„Verbittert und frustriert“

„Die Möglichkeit für Ortskräfte Deutschlands, rauszufliegen, ist jetzt (…) nicht mehr vorhanden“, sagte am Freitag der Leiter des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, Marcus Grotian. Alle seien nach dem Ende der deutschen Luftbrücke und dem Anschlag vom Donnerstag „verbittert und frustriert und auch hoffnungslos, denn so richtig, wie es jetzt weitergehen soll, wissen sie alle nicht“, so Grotian zu Reuters TV.

Dass die Taliban die früheren Ortskräfte einbinden könnten, hält er für unmöglich. Sie hätten schließlich 20 Jahre dabei geholfen, die Taliban zu bekämpfen. „In dem Sinne sind die quasi ja wie ein Stachel im eigenen Fleisch.“ Am Freitag gab das deutsche Außenministerium bekannt, dass es noch rund 10.000 Ortskräfte und zur Ausreise identifizierte Personen in Afghanistan gebe, die Zahl der Deutschen in Afghanistan schätzte man auf etwa 300. Den Zurückgelassenen versprach die Regierung in Berlin Hilfe.

Menschen sammeln sich bei einem Checkpoint in der Nähe des Kabuler Flughafens
AP/Khwaja Tawfiq Sediqi
Checkpoint nahe dem Flughafen Kabul: Die Sicherheitslage nach dem Anschlag vom Donnerstag ist höchst angespannt

Widersprüchliche Meldungen über Kontrolle des Flughafens

Das US-Verteidigungsministerium wies am Freitag Berichte zurück, wonach die Taliban den Flughafen Kabul unter ihre Kontrolle gebracht haben sollen. Der Flughafen stehe weiter gänzlich unter der Kontrolle des US-Militärs, sagte der Sprecher des Pentagons, John Kirby, am Freitag. „Sie kontrollieren keines der Tore, sie kontrollieren nicht den Betrieb des Flughafens – das ist weiter unter der Kontrolle des US-Militärs“, sagte Kirby.

Taliban-Sprecher Bilal Karimi hatte zuvor auf Twitter erklärt, das US-Militär habe „drei wichtige Bereiche“ im militärischen Teil des Flughafens verlassen. Diese Bereiche seien nun „unter der Kontrolle des Islamischen Emirats“, und nur noch „ein sehr kleiner Teil“ des Airports werde von US-Soldaten kontrolliert. Gegenüber der dpa sagte ein Vertreter der Taliban am Samstag, dass in der Nacht „zwei, drei“ Zugänge zum Flughafen von den USA an Kräfte der Islamisten übergeben worden seien.

Evakuierung auch auf dem Landweg

Auch die Außerlandesbringung von Österreichern wird zunehmend schwierig. Mehr als hundert Menschen sind nach Angaben des Außenministeriums vom Freitag bisher mit österreichischer Unterstützung aus Afghanistan außer Landes in Sicherheit gebracht worden. Zum Teil sei das auch über den Landweg erfolgt, hieß es am Freitag gegenüber der APA. Derzeit seien aber immer „noch einige Dutzend“ österreichische Staatsbürger mit afghanischen Wurzeln in und um Kabul. Dazu kämen noch afghanische Staatsbürger, deren Aufenthalt in Österreich aber teilweise noch nicht abgeklärt sei.

Man werde weiterhin alle Möglichkeiten ausschöpfen, diese Personen aus Afghanistan zu bringen. Die zivilen Evakuierungsflüge der Partner seien aber beendet, teilte das Außenministerium mit. Über eigene Evakuierungsflüge verfügt Österreich nicht. Nun konzentrierten sich die laufenden Bemühungen auf eine Ausreise über den Landweg. Die österreichischen Stellen bemühten sich, einen Grenzübertritt in die Nachbarländer zu ermöglichen. Derzeit seien aber die Grenzen geschlossen.

Taliban versprechen offene Grenzen

Die radikalislamischen Taliban geben sich indes weiter gemäßigt. Am Freitag versprach ein ranghoher Vertreter zukünftig offene Grenzen und Reisefreiheit für alle Bürger mit gültigen Papieren. „Die Grenzen Afghanistans werden offen sein, und die Menschen werden jederzeit ein- und ausreisen können“, so Sher Mohammad Abbas Stanikzai, Vizechef der politischen Kommission der Dschihadisten in einer Fernsehansprache.

Im öffentlichen Gesundheitssektor beschäftigte Frauen wurden unterdessen aufgefordert, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Das Gesundheitsministerium weise alle weiblichen Mitarbeiter in der Hauptstadt und den Provinzen an, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, hieß es in einem Tweet des Taliban-Sprechers Zabihullah Mujahid von Freitagabend. Der Ausübung ihrer Arbeit stehe nichts im Weg.

Im Gesundheitsbereich hatte es zuletzt Berichte aus dem Norden des Landes gegeben, dass etwa Hebammen nicht mehr an Sitzungen mit männlichen Ärzten teilnehmen durften. Während der Taliban-Herrschaft 1996 bis 2001 durften Frauen nicht von männlichen Ärzten behandelt werden, was ihre Gesundheitsversorgung stark einschränkte.