Taliban-Fahne
Reuters/Wana News Agency
Radikale Riege

Besorgnis über Taliban-Übergangsregierung

In Afghanistan sorgt die Präsentation der Übergangsregierung der radikalislamischen Taliban für Unmut: Die Nationale Widerstandsfront (NRF) bezeichnete diese als illegal. Vereinzelt gingen Frauen dagegen auf die Straße, auch Minderheiten übten Kritik. Die neue Führungsriege besteht fast ausschließlich aus Paschtunen, Frauen fehlen völlig. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den Taliban verkündeten Übergangsregierung ausgeschlossen.

Die Taliban hatten nach ihrer Machtübernahme im August immer wieder betont, eine „inklusive Regierung“ ernennen zu wollen. Auch trafen sie regelmäßig andere Politiker des Landes wie den Ex-Präsidenten Hamid Karzai und den bisherigen Leiter des Hohen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, zu Gesprächen. Ihrer Ankündigung wurden sie nun aber nicht gerecht: Die Regierung – sie zählt aktuell 33 Posten – besteht ausschließlich aus Taliban und deren Verbündeten, darunter auch der international wegen Terrors gesuchte Sarajuddin Haqqani.

Ethnisch geht es bisher einseitig zu: Der Afghanistan-Experte der Denkfabrik International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er das beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Amtsträger Paschtunen. Mitglieder der mehrheitlich schiitischen Minderheit der Hazara etwa fehlen völlig. Die Hazara gelten den sunnitischen Extremisten als ketzerische Sekte. Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das stark von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden.

Frauenproteste in Kabul

Die Widerstandskämpfer der NRF – sie umfasst Reste der regulären afghanischen Armee und Spezialeinheiten sowie lokale Milizen – rief die internationale Gemeinschaft laut BBC nun dazu auf, die Übergangsregierung nicht anzuerkennen. Die NRF rief erneut zum Widerstand gegen die Taliban auf. Die NRF und Taliban lieferten einander zuletzt noch Gefechte in der letzten umkämpften Provinz Panjshir. Die Taliban gaben Anfang der Woche aber an, diese eingenommen zu haben, und präsentierten daraufhin ihre neue Führungsriege.

„Es gibt keine Frauen und religiösen Minderheiten“, schrieb die bekannte Frauenrechtlerin Fausi Kufi am Mittwoch auf Twitter. Als sie das erste Mal Vertreter der Taliban getroffen habe, habe man ihr erklärt, es gebe keine Hindernisse für Frauen, Ministerinnen oder Regierungschefin zu werden. „Sie tun aber genau das Gegenteil“, schrieb Kufi weiter.

Am Mittwoch demonstrierten zudem rund 20 Frauen im Stadtteil Dasht-e Bartchi im Westen der Hauptstadt Kabul, wie auf Videos in sozialen Netzwerken zu sehen war und wie lokale Journalisten berichteten. Die Frauen riefen „Ein Kabinett ohne Frauen wird versagen“ und kritisierten damit die am Dienstag verkündete Übergangsregierung der Taliban, die ein reines Männerkabinett ist.

Afghanische Aktivistinnen
Reuters
In Afghanistan gab es seit der Machtübernahme der Taliban immer wieder Frauenproteste

„Wieso sieht die Welt stillschweigend zu?“

Sie hielten auch Schilder mit den Worten „Arbeit, Bildung, Freiheit“ und „Wieso sieht die Welt stillschweigend zu?“ in die Höhe. Ein kleinerer Frauenprotest wurde auch aus der Stadt Faisabad im Norden berichtet, der lokalen Medienberichten zufolge aber schnell aufgelöst wurde. In Kabul finden den dritten Tag in Folge Proteste statt. Die Demonstrationen richteten sich bisher teils gegen eine mutmaßliche Einmischung Pakistans in Afghanistan, forderten teils mehr Frauenrechte und kritisierten die gewaltsame Übernahme der Provinz Panjshir.

In den Provinzen Ghazni und Ghor verhinderten die Islamisten am Dienstag laut Einwohnern Demonstrationen. In der Stadt Herat im Westen kam es am Dienstag zu gewaltsamen Zusammenstößen. Ein Aktivist aus der Stadt sagte am Mittwoch, es seien mindestens zwei Demonstranten getötet und sieben verwundet worden, nachdem Taliban Schüsse abgefeuert hatten, um die Demonstranten auseinanderzutreiben.

Gewalt gegen Journalisten

Auch gegen Journalisten soll Gewalt angewandt worden sein: In Kabul wurden mindestens zwei Journalisten schwer körperlich misshandelt. Im Gesicht und am Kopf von zwei Mitarbeitern der bekannten Tageszeitung „Etilatrus“ seien Dutzende Abdrücke von Kabeln und Peitschen zu sehen, schrieb der Herausgeber von „Etilatrus“, Saki Darjabai, am Mittwoch auf Twitter. Man habe die Kollegen schwach und in einem Zustand der Lethargie ins Büro gebracht.

Er teilte zudem ein Bild, auf dem ein Rücken mit schweren Verletzungen zu sehen ist, und kommentierte es mit den Worten: „Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was Taliban Journalisten von Etilatrus antaten.“ Auf einem Video ist zu sehen, dass ein Journalist nicht mehr selbst gehen kann, auf einem anderen ein weiterer, der zwar alleine steht, aber kaum sprechen kann. Rund zwei Stunden davor hatte Darjabai auf Twitter mitgeteilt, dass fünf seiner Mitarbeiter, darunter der Chefredakteur, von der Taliban festgenommen worden seien, als sie über einen Frauenprotest berichten wollten.

Die größten lokalen TV-Sender haben am Mittwoch offensichtlich die Berichterstattung über die Proteste eingestellt. Am Dienstag hatten Taliban eine Gruppe von Reportern und Kameramännern für mehrere Stunden festgenommen, nachdem sie über den Protest in Kabul berichtet hatten. Auch am Mittwoch kam es offenbar erneut zu Zusammenstößen mit Medienvertretern. Ein Reporter der „Los Angeles Times“ schrieb auf Twitter, er und sein Fotograf seien von Taliban herumgeschubst worden, als sie versuchten, über einen Frauenprotest in Kabul zu berichten.

Ex-Präsident Ghani entschuldigt sich

Zu Wort meldete sich am Mittwoch auch der ehemalige afghanische Präsident Ashraf Ghani: „Ich entschuldige mich beim afghanischen Volk, dass ich nicht für ein anderes Ende sorgen konnte“, schrieb er auf Twitter. Ghani wies Vorwürfe zurück, er habe bei seiner Flucht Millionen Dollar an staatlichen Geldern mitgenommen. Er habe das Land auf Drängen der Sicherheitskräfte verlassen. Damit habe er das Risiko blutiger Straßenkämpfe vermeiden wollen. Ghani hatte Afghanistan am 15. August verlassen und war in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen.

Haqqani wird Innenminister

Der Westen zeigte sich über die jüngste Ereignisse besorgt: Auf der Liste der Kabinettsmitglieder stünden „ausschließlich Personen, die Mitglieder der Taliban oder ihrer engen Verbündeten sind und keine Frauen“, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums laut Medienberichten vom Dienstag (Ortszeit). Zudem gäben die Verbindungen und die Vergangenheit einiger Personen der Übergangsregierung Anlass zur Sorge, hieß es ferner.

So wurde etwa Haqqani, der dritte Vizechef der Taliban und Chef des berüchtigten Haqqani-Netzwerkes, zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird für einige der grausamsten Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Die USA suchen den etwa Mitte 40-jährigen Haqqani mit einem siebenstelligen Kopfgeld.

Blinken fordert Taliban auf, Zusagen einzuhalten

„Die Verkündung einer Übergangsregierung ohne Beteiligung anderer Gruppen und die gestrige Gewalt gegen Demonstrantinnen und Journalisten in Kabul sind nicht die Signale, die (…) optimistisch stimmen“, teilte der deutsche Außenminister Heiko Maas im Rahmen eines Treffens mit seinem US-Kollegen Antony Blinken und einer Konferenzschaltung mit 20 Außenministern mit. Maas unterstrich vor dem Treffen mit Blinken auf dem US-Stützpunkt Ramstein die Notwendigkeit einer engen Abstimmung mit den USA beim Thema Afghanistan.

Blinken sagte nach dem Treffen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz, die militanten Islamisten hätten zuvor beteuert, auch andere Gruppen miteinzubeziehen. „Die Art der Beziehungen der von den Taliban geführten Regierung zu uns und zur internationalen Gemeinschaft wird ganz von ihrem Handeln in den kommenden Wochen und Monaten abhängen“ so Blinken. Eine Anerkennung der Taliban-Regierung könne laut Blinken „nicht schnell verdient werden, sie kann nicht durch Worte allein verdient werden“.

Blinken forderte die Taliban auf, ihre Zusage einzuhalten, Afghanen mit entsprechenden Reisedokumenten ausreisen zu lassen. Der US-Außenminister verwies auf Charterflugzeuge im nordafghanischen Masar-i-Scharif, mit denen schutzsuchende Afghanen und Afghaninnen ausgeflogen werden sollten, die von den Taliban aber aufgehalten würden. Die USA übten weiterhin Druck auf die Islamisten aus, damit die Flugzeuge und die Menschen an Bord Afghanistan verlassen könnten. Blinken rief die Taliban auch auf, humanitäre Hilfe für die notleidende Bevölkerung zuzulassen.

EU übt scharfe Kritik

Scharfe Kritik übte auch die EU: Die Übergangsregierung spiegle nicht die „ethnische und religiöse Vielfalt Afghanistans“ wider, sagte ein EU-Sprecher. „Die Europäische Union ist bereit, weiter humanitäre Hilfe zu leisten“, sagte zudem der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Maros Sefcovic. Längerfristig hingen Gelder davon ab, ob die Machthaber in Kabul Grundfreiheiten aufrechterhielten. „Wir schauen uns sehr, sehr genau an, wie sich die neue Regierung verhält, bevor wir uns engagieren.“

Auch Moskau will die weiteren Schritte der Taliban beobachten. Der Kreml plane vorerst keine direkten Gespräche mit der neuen Übergangsregierung, hieß es. Peking begrüßte die Bildung der Übergangsregierung der Islamisten indes. Damit ende eine Phase der „dreiwöchigen Anarchie“, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums. China rief die Taliban auf, die Ordnung im Land wiederherzustellen. Das Rote Kreuz sprach sich zudem für einen Dialog mit den Taliban aus. Das sei zur Bekämpfung der sozioökonomischen Krise in dem Land notwendig. Humanitäre Hilfslieferungen allein seien nicht genug.