Hauptuniversität Wien
ORF.at/Roland Winkler
Präsenz oder online?

Unistart mit hohem Unsicherheitsfaktor

Für die über 380.000 Studierenden in Österreich hat mit Anfang Oktober ein neues Studienjahr begonnen. Die meisten von ihnen haben seit drei Semestern keinen Hörsaal von innen gesehen. Das soll sich nun ändern: Ein Präsenzsemester soll es werden, zumindest so weit wie möglich – das hoffen auch Studierende, mit denen ORF.at gesprochen hat.

„Willkommen zurück an der Universität“ – unter diesem Motto startete die größte Hochschule des Landes, die Universität Wien, ins Wintersemester. Normalbetrieb wie vor der Pandemie wird es aber noch nicht geben: Beim Eingang wird etwa der „3-G“-Nachweis kontrolliert und die Studierenden müssen ein Sitzplatztagebuch führen, in dem dokumentiert wird, wann sie wo gesessen sind.

Ob „3-G“, „2-G“ oder „1-G“ gilt, ob Mund-Nasen-Schutz oder FFP2-Maske zu tragen ist, wie viele Studierende in einen Hörsaal dürfen, und ob die einzelnen Lehrveranstaltungen in Präsenz, online oder hybrid (also gleichzeitig im Hörsaal und online) stattfinden: Das alles kann jede Universität selbst entscheiden. Die Regelungen sind daher je nach Standort unterschiedlich.

„Gutes Mittelding“ aus Präsenz und online

Anstatt zur Uni zu gehen haben die Studierenden in den letzten eineinhalb Jahren unzählige Stunden alleine vor dem Bildschirm verbracht. Wie Flora, die im dritten Semester Rechtswissenschaften in Wien studiert. Nur drei Lehrveranstaltungen in Präsenz konnte sie bisher besuchen. Ein paar Mal war die 20-Jährige im Juridicum, um mit Freunden und Freundinnen zu lernen, und einmal, um ihre Stimme bei der ÖH-Wahl abzugeben – „aber das war es schon“.

Für das neue Semester hofft sie, dass die Uni geöffnet bleibt. Die Möglichkeit, an einigen Lehrveranstaltungen online teilnehmen zu können, begrüßt sie dennoch. So könne sie „ein gutes Mittelding“ für sich finden. „Alles andere wäre gerade sehr überfordernd, und ich glaube, so geht es vielen, die seit über einem Jahr zwischen ‚Social Distancing‘ und verpflichtendem Präsenzunterricht stehen.“

Studentin mit Unterlagen
ORF.at/Peter Pfeiffer
Gelernt wurde in den letzten Jahren oft im Freien und oft alleine

„Viele kamen mit Fernlehre nicht klar“

Auch Felix studiert Rechtswissenschaften im dritten Semester – allerdings an der Universität Innsbruck. Als er vor einem Jahr mit dem Studium begann, sei noch ein Hybridmodell geplant gewesen. Aufgrund der steigenden Infektionszahlen fanden die Lehrveranstaltungen aber bald nur noch online statt. „Ich hatte bis jetzt nur drei- oder viermal die Gelegenheit, eine Vorlesung ,live‘ zu besuchen.“

Es dürfe nicht wieder passieren, dass die Unis bei höheren Inzidenzen als erstes geschlossen und als letztes geöffnet werden, und die sozialen Bedürfnisse der Studierenden komplett ignoriert werden, so der 20-Jährige. Denn im Studium gehe es um viel mehr als die Vermittlung von Inhalten. Selbst sei er, was den Lernerfolg betrifft, bisher gut durch die Pandemie gekommen – er wisse aber von vielen anderen, die mit der Fernlehre „nicht klarkamen“ und sich von Prüfungen wieder abgemeldet hätten.

50 Stunden arbeiten und studieren im Homeoffice

Doch nicht nur Studierende, die zu Beginn des Studiums stehen, hatten in den vergangenen eineinhalb Jahren mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sarah begann ihr PhD-Studium in Anglistik mitten in der Pandemie. Seither war sie zweimal an der Uni – „um meinen Betreuer zu treffen“. Einen Hörsaal hat sie in den vergangenen zwei Semestern nicht von innen gesehen.

Bei Normalbetrieb wäre sie vermutlich schon weiter, so die 29-Jährige. „Ich arbeite und studiere im Homeoffice – oft mehr als 50 Stunden in der Woche.“ Sich zu konzentrieren falle zu zweit auf 48 Quadratmetern oft schwer. Was sich die PhD-Studentin für das Wintersemester wünscht: „Weniger verpflichtende Zoom-Meetings.“

„Zeit der großen Belastungen“

„Für viele hat es einen Verlust an Routine gegeben“, so Barbara Schober, Professorin für Psychologische Bildungs- und Transferforschung an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien: „In der Früh aufstehen, zur Vorlesung gehen, dann zum Nebenjob – das fiel weg.“ Die Anforderungen an die Resilienz seien in den vergangenen eineinhalb Jahren hoch gewesen. „Es war eine Zeit der großen Belastungen.“

Insgesamt habe es sicher ganz unterschiedliche Verläufe gegeben, so die Bildungspsychologin im Gespräch mit ORF.at. „Gute räumliche Bedingungen, wie zum Beispiel ausreichend Platz zum Lernen, spielten auch eine Rolle. Und für viele kamen existentielle Probleme dazu, zum Beispiel wenn das Geld fehlt, weil das Cafe, in dem man gejobbt hat, plötzlich geschlossen hat“.

„Der Mensch ist ein soziales Wesen“

Es sei ein wichtiger Schritt, wieder sichere Präsenz an den Unis zu ermöglichen, so Schober. „Wir lernen vieles im sozialen, persönlichen Kontext, im Diskurs und im Miteinander. Man darf nicht vergessen, der Mensch ist ein soziales Wesen.“ Die Zeit des Studiums sei zudem auch eine, in der man sich ausprobiert und eine Identität als Studentin oder Student aufbaut.

„Die Uni ist nicht nur ein Ort zum Lernen, sondern auch ein sozialer Ort. Und durch das Schließen sei für viele Studierende ein fundamentaler Teil des Lebens ins Wanken geraten.“ In der öffentlichen Wahrnehmung sei auf die psychische Situation und die Belastung der Studierenden aber eher vergessen worden. „Man hat darauf fokussiert, dass die Onlinelehre technisch ja eh gut funktioniert.“

Studentinnen
ORF.at/Zita Klimek
„Student Spaces“ an den Unis, wo gemeinsam gelernt oder auch geplaudert werden kann, haben wieder geöffnet

Vier von fünf Studierenden geimpft

Auch die Österreichischen Hochschüler_innenschaft (ÖH) wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für die Anliegen der über 380.000 Studierenden. Es brauche jetzt mehr Planungssicherheit, die Hochschulen seien offen zu halten, so die ÖH gegenüber ORF.at. Die Vertretung der Studierenden fordert zudem einen Ausbau der Beihilfen, denn: „Unzählige haben durch die Pandemie ihren Job verloren.“

Dass vier von fünf Studierenden in Österreich mittlerweile grundimmunisiert sind (wie Erhebungen der Statistik Austria mit Datenstand Ende August belegen, Anm.), zeige, dass die Studierenden Verantwortung übernommen haben. Jetzt liege es an Politik und Hochschulen, Verantwortung zu übernehmen. „Die drei Corona-Semester sind nicht spurlos an uns vorbeigezogen: Wir brauchen konsumfreie, sichere Räume und die Bereitschaft von allen Seiten, sozialem Austausch Raum zu geben.“

ÖH ist für Wahlfreiheit

Eine Diskussion hatte die ÖH in den vergangenen Wochen ausgelöst, als sie „hybride Lehre, überall wo das möglich ist“ forderte. Diskussion und Austausch würden dadurch verloren, hieß es. Zudem wurden Befürchtungen laut, durch hybride Lehre werden über kurz oder lang Platzbeschränkungen über die Hintertür eingeführt – mit der Begründung, die Studierenden können ja ohnehin online zuschauen. „Gegen Platz- und Zugangsbeschränkungen treten wir seit Jahrzehnten auf“, entgegnete die ÖH gegenüber ORF.at. Digitalisierung solle zudem „niemals Einsparung, sondern immer Chance sein“.

Psychologin Barbara Schober
Barbara Schober, Foto: Margit A. Schmid
Bildungspsychologin Barbara Schober

Die Pandemie habe aber auch sehr gut gezeigt, welche innovativen, digitalen Lehrangebote möglich sind. Gerade in Vorlesungen ohne Anwesenheitspflicht stehe einem hybriden Lehrangebot nichts im Wege. „Allen, die wollen, soll Präsenz ermöglicht werden, und allen, denen digitale Angebote lieber sind, die digitale Alternative“, so die ÖH. Knapp zwei Drittel der Studierenden arbeiten zudem neben dem Studium. Und fast zehn Prozent der Studierenden haben mindestens ein Kind. Die Flexibilität durch digitale Lehrangebote mache für viele das Studieren überhaupt erst möglich. Man müsse die guten Beispiele aus der Pandemie mitnehmen und aus ihnen lernen.

„Traditionelle Vorlesungen sind überholt“

Ähnlich sieht es Bildungspsychologin Schober: Hybride Lehre könne ein guter Kompromiss zwischen „nur online“ und „nur Präsenz“ sein. Sie könne aber auch an sich gut sein. „Die Spannbreite ist groß: Es gibt Lehrende, die nur Folien online stellen und Lehrende, die sich wirklich etwas trauen.“ Durch die plötzliche Notwendigkeit des „Remote- Teachings“ sei viel passiert: „Es gab einen Boostereffekt: Neue technische Möglichkeiten und neue didaktische Angebote wurden geschaffen.“

Dennoch: Es brauche Präsenzveranstaltungen – „für den sozialen Austausch, um voneinander zu lernen, und für die Persönlichkeitsentwicklung“. Traditionelle Vorlesungen mit 500 Teilnehmenden seien aber überholt, schränkt Schober ein. Sie habe die Hoffnung, dass wir „nicht ganz zum Alten zurückkehren, sondern dort, wo es Sinn macht, die Onlinelehre mit neuen didaktischen Formaten ausbauen. Dass wir aber auch die Präsenz, die nun wieder möglich ist, mehr wertschätzen und gezielter nutzen.“