Dienstag der 12. Oktober 2021 in einem Kalender.
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Österreich in der Krise

Der Dienstag und der seidene Faden

Gerade hat die Regierung nach Monaten der Pandemiebekämpfung ihr großes inhaltliches Projekt, die Steuerreform, präsentiert, jetzt steht alles auf der Kippe. Die Ermittlungen bei und im Umfeld von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sind am Donnerstag zur handfesten politischen Krise geworden. Die Regierung könnte am Dienstag Geschichte sein, entscheidende Projekte hingen dann aber in der Luft. Und stabile Verhältnisse sind nicht rasch zu erwarten. Vieles ist 2021 anders als im „Ibiza“-Krisensommer 2019.

Die Gründungsväter der österreichischen Verfassung haben aus historischer Erfahrung den Augenblick der Krise eigentlich sehr gründlich durchdacht. Gerade das präsidiale Moment in der Einsetzung und Abberufung der Regierung soll ja ein gewisses Maß an Stabilität garantieren. So liegt der Ball nun auch bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der unterschiedliche Optionen zur Konsolidierung der Situation hat. Doch die verschiedenen Varianten einer Übergangsregierung sind das, was der Name sagt, eine Regierung des Übergangs. Und bestenfalls eine der Verwaltung, die ja auch rasch über entsprechende Mehrheiten im Parlament stürzen könnte.

Quasi italienische Verhältnisse im Parlament mit einer „Konzentrationsregierung“ aller politischen Kräfte abseits der ÖVP wären, wie alle Expertinnen und Experten einschätzen, nur von kurzer Dauer. Vor allem steht aber infrage, wie man mit den Entwürfen zur Steuerreform umgehen würde. Kaum vorstellbar ist, dass eine andere Koalition das verabschieden könnte, was Türkis und Grün gezimmert haben. Daran erinnerten Vertreter der ÖVP am Donnerstag, allen voran Finanzminister Gernot Blümel.

Grafik zu den Vorwürfen in der ÖVP-Affäre
Grafik: ORF.at

Eigentlich geht es nur um eine Frage

Im Grunde geht es im Moment um die Klärung einer einzigen Frage: die der politischen Bewertung der Ermittlungsvorgänge der Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft (WKStA). Die ÖVP hält sich trotz der Ermittlungen für handlungsfähig, der Kanzler beteuert, alle Vorwürfe aufklären zu können. Die Grünen haben letztlich seine, wenn man so will, moralische „Handlungsfähigkeit“ und für sich die Integrität der gesamten Regierung infrage gestellt.

Wackeln und pokern

„Kurz hängt am grünen Faden“, titelte der „Kurier“, „Kurz wackelt und pokert“, die „Krone“. „Es liegt einfach zu viel am Tisch“, schreibt etwa Daniela Kittner im „Kurier“: „Kurz hat unter dem Missbrauch von Steuergeld die Macht in Partei und Staat übernommen. So lautet der schwerwiegende Vorwurf. Ob er selbst oder seine Getreuen die Rechnungen gefälscht haben, macht zwar strafrechtlich einen Unterschied, politisch aber nicht.“ In Deutschland, so bemerkte „SZ“-Korrespondentin Cathrin Kahlweit am Donnerstag via Skype zur ZIB, wäre die Sache schon entschieden – „und eine Angela Merkel“ nicht mehr im Amt.

Für die Grünen bleibt in dieser Situation noch das Abwägen, ob die Umsetzung des entscheidenden Reformprojekts in irgendeiner Form denkbar wäre. Insofern ist die Frage nach der Handlungsfähigkeit von Kurz eine nach jener der ganzen Regierung. Oder, wie Kogler es auch formulierte, „die Abwägung zwischen Stabilität und Verantwortung“. An diesem dünnen Faden hängt die Entscheidung der Grünen. Und die Basis wird, wie man ja schon jetzt in sozialen Netzwerken sieht, nicht stillhalten.

Artikel über Kurz in der Kronen Zeitung.
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Österreich als „House of Cards“: Blick in „Krone“ und „Kurier“ am Freitag

Wettbewerb der Narrative

Im Moment ist es also der Kampf um ein Narrativ – und wie es sich durchsetzen lässt:

  • Das der ÖVP, dass man weiterregieren wolle und die Unschuldsvermutung gelte.
  • Und die Grünen werden darauf setzen wollen, alles zu tun, damit man „stabile Verhältnisse“ habe und zugleich aufgeklärt werde. Möglicherweise müssen sie auch noch medial erklären, dass sie bereit gewesen wären weiterzumachen, wenn es einen anderen Kanzler aus den Reihen der ÖVP gegeben hätte. Dazu hat sich aber ÖVP-Klubobmann August Wöginger im Ö1-Morgenjournal festgelegt: „Wer Kandidat der ÖVP ist, bestimmt immer noch die ÖVP.“

Die Stimmen, die einen Verbleib der Grünen in der Regierung fordern, werden weniger. Petra Stuiber vom „Standard“ hatte sich ja in einem Kommentar dafür ausgesprochen, dass die Grünen gerade jetzt in der Regierung bleiben: „Nichts wäre derzeit schädlicher für Demokratie und Rechtsstaat, als wenn die Grünen diese Koalition Knall auf Fall verließen, damit ein unübersichtliches Chaos auslösten und die Ermittlungsbehörden der Justiz, die sich so weit vorgewagt haben, nun sich selbst – oder der ÖVP – überließen.“ Möglicherweise ist die Entwicklung bei den Grünen hier schon ein Stück weiter.