Porträt des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski  (1821-1881)
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200 Jahre Dostojewski

Der Starpsychologe der Weltliteratur

Am 11. November 1821 ist der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski in Moskau geboren worden. Bücher wie „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“ und „Die Brüder Karamasow“ brachten ihm den Ruf eines herausragenden Psychologen der Weltliteratur ein. Sein Werk handelt von Krisen, Konflikten und menschlichen Abgründen – und ist damit noch immer so aktuell wie bei dessen Erscheinen.

Albert Camus nannte ihn „Prophet des 20. Jahrhunderts“. Thomas Mann bezeichnete sein Meisterwerk „Verbrechen und Strafe“ als „größten Kriminalroman aller Zeiten“, und Friedrich Nietzsche seine „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ als „wahren Glücksgriff für die Psychologie“. Lenin sagte über seine Bücher: „Für so einen Mist habe ich keine Zeit.“

Vor 200 Jahren wurde Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Moskau geboren. Neben Alexander Puschkin, Lew Tolstoj und Nikolai Gogol zählt er zu den international bekanntesten russischen Autoren. In der Beschreibung seiner Charaktere – wie dem von Gewissensbissen zerfressenen Studenten Raskolnikow aus „Verbrechen und Strafe“ und dem gutmütigen und naiven Fürst Myschkin aus „Der Idiot“ – seziert Dostojewski die menschliche Psyche mit all ihren Widersprüchen bis ins kleinste Detail. Er selbst sagte kurz vor seinem Tod: „Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist in einem höheren Sinne, das heißt: Ich zeige alle Tiefen der Menschenseele.“

„Menschenkenner und Prophet“

Dostojewskis Werk stelle nach wie vor „ein Faszinosum“ dar, sagt Fedor Poljakov, Professor für Russische und Ostslawische Literatur und Vorstand des Instituts für Slawistik der Universität Wien. Dostojewski sei ein Schriftsteller mit einer breiten und tiefgehenden internationalen Wirkung. Er habe die ethischen und religiösen Aspekte menschlicher Existenz über das Literarische hinaus hinterfragt und betont. „Sein Werk ist viel mehr als ein Klassiker, dessen Namen alle Welt kennt, aber nicht mehr wirklich liest“, so Poljakov im Interview mit ORF.at.

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Foto um 1860
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Dostojewski um 1860

Die Kritik habe „die Entwicklung von Dostojewskis Schwerpunkten von der sozialen Analyse, der Darstellung von ,Erniedrigten und Beleidigten‘ zur psychologischen und religiösen Erforschung von Mensch und Gesellschaft“ aber nicht immer nachvollziehen können.

Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts „haben die Vorstellungen seiner zeitgenössischen Leserschaft völlig verändert und begründen seine bis heute andauernde Reputation als Menschenkenner, Psychologe, ja, als Prophet und geistige Autorität“, so Poljakov, der im Alter von 13 Jahren erstmals ein Buch von Dostojewski las. „Auf der Suche nach einer Lektüre, die nicht mehr ,nur für Kinder‘ bestimmt war, fiel mir der Roman ,Die Dämonen‘ in die Hände, und es sollte ein guter Anfang für die erste Bekanntschaft werden.“

Heißer Tee auf dem Schreibtisch

„Dostojewskij ist ein Autor der Krise“, schreibt Andreas Guski, emeritierter Professor für Slawistik an der Uni Basel, in seiner 2018 erschienen Biografie „Dostojewskij“. Krisen prägten nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben. Der Sohn eines Arztes aus einer verarmten Adelsfamilie wurde mit 24 Jahren zum Shootingstar der Sankt Petersburger Literaturszene – mit „Arme Leute“, seinem Erstlingswerk über eine unglückliche Liebe in einem Petersburger Armenviertel.

Nur vier Jahre später wurde Dostojewski wegen Kontakten zu linksgerichteten Zarengegnern zum Tod verurteilt. Nach einer Scheinhinrichtung wurde das Urteil in eine Verbannung nach Sibirien umgewandelt. Erst zehn Jahre später begann Dostojewskis literarisches Comeback. In den darauffolgenden Jahren flüchtete der Autor sich immer wieder in die Spielsucht und vor seinen Gläubigern ins Ausland. Erst in seinen letzten Lebensjahren konnte Dostojewski von seinen Buchverkäufen leben, zuvor erschienen viele seiner Texte in mehreren Folgen gegen Honorar in Zeitschriften. Als Höhepunkt seiner öffentlichen Anerkennung hielt er 1880 die Rede zur Einweihung des Puschkin-Denkmals in Moskau.

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Gefängnis
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Dostojewski (links) im Arrest

Am 9. Februar 1881 starb Dostojewski in seiner Sankt Petersburger Wohnung, die seit 1971 ein Museum ist. Auf seinem Schreibtisch, an dem etwa „Die Brüder Karamasow“ entstand, steht auch heute immer noch ein frisches Glas Tee, um daran zu erinnern, dass der Schriftsteller oft nachts arbeitete und dabei gerne Tee trank.

Glücksfall der Übersetzung

Dostojewskis Bücher wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt. Als früheste deutsche Übersetzung gilt ein Auszug aus „Arme Leute“, der nur wenige Monate nach Erscheinen des russischen Originals veröffentlicht wurde. Umfangreiche Übertragungen von Dostojewskis Texten ins Deutsche begannen aber erst nach seinem Tod. Große Beachtung fanden die Neuübersetzungen von Swetlana Geier, die modern und dennoch ganz nahe am Original sind.

Die Übersetzerin Swetlana Geier
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Swetlana Geier 2006 im Garten ihres Hauses in Freiburg, Deutschland

Neben einigen kleineren Werken Dostojewskis übersetzte Geier seit den späten 1980er Jahren bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 die fünf großen Romane „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Die Brüder Karamasow“ und „Der Jüngling“ neu. Dass sie diese Bücher selbst als ihre „fünf Elefanten“ bezeichnete, brachte der 1923 in Kiew geborenen Geier den Spitznamen „Die Frau mit den fünf Elefanten“ ein. So lautet auch der Titel eines Dokumentarfilms über Geiers Leben und den ersten Besuch ihrer Heimat, die sie 1943 verließ, mit 85 Jahren.

Aus „Schuld und Sühne“ wurde „Verbrechen und Strafe“

Aufsehen erregte Geier auch damit, dass sie Dostojewskis Romanen neue deutsche Titel gab, die genauer dem russischen Wortsinn entsprechen als frühere Übersetzungen: Aus „Schuld und Sühne“ machte die Literaturübersetzerin „Verbrechen und Strafe“, aus „Die Dämonen“ „Böse Geister“ und „Der Jüngling“ wurde als „Ein grüner Junge“ neu aufgelegt.

Manuskript des russichen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski zu „Die Dämonen“
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Manuskriptseite zu „Böse Geister“

Ungewöhnlich ist auch, dass eine Übersetzerin aus der Erstsprache in die erlernte Sprache übersetzt – anstatt umgekehrt. Bei Geier, die für ihre Übersetzungen von russischer Literatur ins Deutsche mehrfach ausgezeichnet wurde, zeigt sich, wie sehr ein Text dadurch gewinnen kann. Sie rettete Nuancen aus Dostojewskis Texten in die deutsche Übersetzung, die sich nur erkennen lassen, wenn man mit Details, etwa aus alten russische Volksmärchen, vertraut ist.

Fedor Poljakov
Fedor Poljakov
Fedor Poljakov ist Vorstand des Instituts für Slawistik der Uni Wien

Sprachliche Aktualisierung „wünschenswert“

„Swetlana Geier war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, mit einem denkwürdigen Schicksal in der schlimmsten Zeit der Nazi-Herrschaft, und eine ausgezeichnete Vermittlerin der russischen Literatur“, sagt Poljakov. Über ihre Gründe, Dostojewskis Werk neu zu übersetzen, habe sie oft gesprochen, auch in Wien. „Ihr Bestreben war, die Sprache jener Literatur, zu der man eine zeitliche Distanz hat, der deutschsprachigen Leserschaft näherzubringen, ohne dass eine gewisse Ausstrahlung von Dostojewskis Bildern verloren geht.“

Eine solche sprachliche Aktualisierung sei zweifellos wünschenswert, wenn man im Laufe der Zeit zur Auffassung gelange, die ursprüngliche Version sei nicht mehr ausdrucksvoll und unverständlich, so Poljakov gegenüber ORF.at. Geier habe zudem das Glück gehabt, „verständige Verlage für ihre Vorhaben zu finden“.

Dostojewski trifft noch immer wunde Punkte

Nicht nur Geiers deutsche Übersetzung ist modern, auch die Originaltexte sind immer noch relevant. "So wie Dostojewskij die kulturellen Krisen Russlands und Europas im 19. Jahrhundert literarisch auf den Punkt gebracht hat, treffen seine Werke noch immer wunde Punkte unserer (post)modernen Welt“, schreibt sein Biograf Guski: „das Verhältnis von Wissen und Glauben, von Leib und Seele, von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und nationaler und transnationaler Identität, um nur einige zu nennen.“

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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Dostojewski-Porträt des russischen Malers Wassili Perow (1872)

Auch Poljakov sieht mehrere Zusammenhänge, in denen Dostojewskis Werk auch heute noch eine wesentliche Rolle spielt: literarische, psychologische, religiöse, politische und gesellschaftliche. Diese Zusammenhänge seien zwar in jedem Land, jeder Kultur, jeder Gesellschaft unterschiedlich – dennoch: „Es bleibt etwas, was als eine umspannende, über die Grenzen hinausgehende Wirkung eines Schriftstellers wie Fjodor Dostojewski verstanden werden kann, und dies dürfte in einer schwierigen Zeit eine besondere Bedeutung haben.“