Impfbild aus den frühen 1970er Jahren
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Impfpflicht

Warum der Staat eingreift

Freiheit, Zwang und Pflicht sind zu Schlüsselworten geworden, die sich in der Pandemie auch gegen ihre maximale Verdrehung nicht wehren können. Dass nun, spät, aber doch, eine Impfpflicht kommen soll, liegt an einer der Grundaufgaben des Staates in der Politik seit 1945 – wie auch ein Blick in die Geschichte belegt. Die etwas älteren Impfgegner, die am Wochenende auf die Straße gehen, dürfen in ihre alten Impfpässe und auf das ebenfalls vom Staat erzwungene Vorhandensein einer Pockenimpfung blicken.

FPÖ-Chef Herbert Kickl nannte es kürzlich „eine Diktatur“, die Österreich durch die jüngsten Pandemiemaßnahmen geworden sei. Die jetzt angedachte Impfpflicht hält der Hegel-Experte Kickl, wie er am Freitag sagte, für „verfassungswidrig“. Bei Fachleuten wird das freilich differenzierter betrachtet. Ob eine Einführung der Impfpflicht verfassungsrechtlich halte, hänge – so lässt sich die Meinung von Expertinnen und Experten, die zuletzt in Medien vorgetragen wurden, zusammenfassen – im Wesentlichen von der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ab.

Vom Ö1-Mittagsjournal befragte Verfassungsjuristen sahen diese Verhältnismäßigkeit angesichts der eskalierenden Covid-19-Situation gegeben. Eine Impfpflicht für Gesundheitspersonal wäre durch das Epidemiegesetz gedeckt – für eine generelle Impfpflicht, so sagt es etwa der Innsbrucker Verfassungsexperte Peter Bußjäger, sei ein Gesetz nötig, „das durch das Parlament gebracht werden muss“.

„Schwelle der Verhältnismäßigkeit erreicht“

„So wie die Entwicklung der Dinge läuft und die Beurteilung durch die Fachleute, kann man annehmen, dass nun die Schwelle der Verhältnismäßigkeit erreicht ist“, meinte zuletzt Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk. Der Jurist und Rektor der Linzer Johannes-Kepler-Universität, Meinhard Lukas, hatte zuletzt gemeint, er glaube, „keinen Verfassungsexperten und keinen Rechtswissenschaftler zu kennen, der der Meinung ist, dass eine solche allgemeine Impfpflicht verfassungswidrig“ sei.

Irmgard Griss, die ehemalige Richterin und frühere Abgeordnete zum Nationalrat (NEOS), hatte es als eine der Ersten (und im Gegensatz zu der Partei, für die sie früher im Parlament saß) zuletzt öffentlich so formuliert: „Man darf die Freiheit des Einzelnen einschränken, wenn es notwendig ist, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.“ Das sei nicht nur legitim, es sei auch Verantwortung und Verpflichtung der Politik, Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass die öffentliche Gesundheit nicht gefährdet werde, so Griss. Griss trifft damit einen Grundsatz, der in westlichen Demokratien zum Sockel des Verständnisses von Gesundheitspolitik geworden ist.

Schutz der Gesundheit als Ziel seit 1945

Es ist ja der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und jedes Einzelnen, der wieder einmal weitgehende Eingriffe und Ermächtigungen des Staates rechtfertigt. In Österreich sieht dies das Epidemiegesetz vor. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung zum vorrangigen Ziel der Staatsführung in westlichen Demokratien.

Begannen bereits im 18. Jahrhundert Verzahnungen von Politik, Ökonomie und Biologie, wie es die Forschungen etwa des französischen Historikers Michel Foucault nahelegen, so gilt der „Beveridge Plan“ der britischen Regierung aus den Kriegstagen 1942 als wesentlicher Systemsprung zum Schutz des Einzelnen und zum Recht auf Gesundheit.

Lord Beveridge
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William Henry Beveridge, britischer Ökonom und Politiker der liberalen Partei, von 1919 bis 1937 war er Direktor der London School of Economics and Political Science

Gesundheit der Bevölkerung, Gesundheit des Einzelnen

Mit dem „Beveridge-Plan“, der eigentlich das Argument für die Steuerfinanzierung des Gesundheitssystems war, übernimmt der Staat die Verantwortung für die Gesundheit.

Texte zum Thema

  • Michel Foucault: „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit“, Bd. 1.
  • Michel Foucault: „Die Krise der Medizin oder die Krise der Antimedizin“: In: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3.

Im Gefolge des „Beveridge-Plans“ verwandle sich die Gesundheit in einen Gegenstand, „um den sich Staaten nicht um ihrer selbst, sondern um der Individuen willen kümmern“, argumentiert Foucault. Das Recht etwa, die Arbeit unterbrechen zu dürfen, nehme unter diesen Prämissen erstmals Gestalt an und „wird wichtiger als die alte Pflicht zur Sauberkeit, die für die moralischen Beziehungen der Individuen zu ihren Körpern kennzeichnend war“.

Für die „westliche Welt“ sind für Foucault die Jahre 1940 bis 1950 eine, wie er schreibt, „Referenzperiode“, „die für die Entstehung dieses neuen Rechts, dieser neuen Moral, dieser neuen Politik und dieser neuen Ökonomie des Körpers maßgeblich ist“. Seit damals sei der „Körper des Individuums“ Hauptzielpunkt „für den staatlichen Eingriff und zu einem der großen Gegenstände geworden, für den der Staat Verantwortung übernehmen müsse“.

Früher galt: Starker Körper für die Stärke der Nation

Der „Beveridge-Plan“ zeige, so Foucault, dass der Staat die Verantwortung für die Gesundheit übernehme; „man könnte nun sagen, dass dies nichts Neues sei, da es schließlich seit dem 18. Jahrhundert eine Funktion des Staates ist, die physische Gesundheit seiner Bürger zu gewährleisten“. Allerdings, so fügt er hinzu, habe die Erhaltung der Gesundheit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutet, dass ein Staat damit hauptsächlich den Erhalt der „physischen Kraft der Nation, ihrer Arbeitskraft, ihres Produktionsvermögens und ihrer militärischen Stärke bedeutete“.

Das Innere des Hotel Dieu, quasi allgemeines Krankenhaus in Paris, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
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Das Pariser Hotel Dieu im vierten Arrondissement in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor dem 18. Jahrhundert ging man in Spitäler, um darin zu sterben.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aber sei die Finanzierung und Gewährleistung von Gesundheit in jedem entwickelten Land zentrale Aufgabe des Staates geworden.

„Eine neue Moral des Körpers“

Der neue Umgang mit dem Körper wurde in Österreich nach 1945 im Umgang mit den Pocken deutlich. Am 30. Juni 1948 wurde ein „Bundesgesetz über Schutzimpfungen zu Pocken“ beschlossen, das zwar keine allgemeine Impfpflicht festlegte, einer solchen aber ziemlich nahe kam. Denn auch wenn keine Zwangsimpfung (wie davor in der NS-Zeit) festgelegt wurde, so stellte man die Nichtbefolgung der Impfung unter Strafe.

Schutzimpfung gegen Pocken der Österreichischen Fußball Nationalspieler. Adolf Knoll; Horst Hirnschrodt und Karl Koller. Wien. 12. März 1962.
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Schutzimpfung gegen Pocken der österreichischen Fußballnationalspieler 1962: Adolf Knoll, Horst Hirnschrodt und Karl Koller

Das Gesetz von 1948 im Wortlaut

„Jedermann ist verpflichtet, sich nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zum Schutz gegen Pocken (Blattern, Variola) impfen zu lassen“, damals der erste Satz des Gesetzes. Diese Verpflichtung umfasste auch nach sieben Tagen eine Nachuntersuchung zur Überprüfung des Impferfolges bzw. falls nötig eine Wiederimpfung.

Damals sollten vor allem Kinder den Impfschutz bekommen. Zur Impfung verpflichtet wurden darüber hinaus Erwachsene, die einen „pockengefährdeten Beruf“ ausübten bzw. in „pockengefährdeten Anstalten oder Betrieben“ arbeiteten. De facto waren damit also alle Kinder von der Impfpflicht umfasst sowie Erwachsene in „gefährdeten“ Berufen bzw. in einem „gefährdeten“ Arbeitsumfeld. Was als solch gefährdeter Beruf bzw. gefährdetes Umfeld galt, wurde per Verordnung festgelegt. Darüber hinaus konnten auch „Notimpfungen“ angeordnet werden – etwa wenn im Umfeld von Ungeimpften ein Pockenfall aufgetreten war.

Von der Impfpflicht ausgenommen waren schon damals Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden konnten, oder in den letzten zehn Jahren eine Infektion durchgemacht hatten. Eine Verwaltungsstrafe bis zu 1.000 Schilling (nach heutigem Wert: 1.200 Euro) oder bis zu 14 Tagen Arrest drohten bei Verstößen. Aufgehoben wurde das Gesetz erst am 1. Jänner 1981, nachdem das World Health Assembly die Pocken dank der Impfung offiziell für ausgerottet erklärt hatte.