Plakat mit der Aufschrift „Nie wieder Femizid!“
Foto: ORF.at/Christian Öser; Illustration: StoP-Partnergewalt
Frauenmorde

Die vielen Gesichter der gelernten Gewalt

Bereits 28 Frauen wurden heuer von Männern ermordet – fünf davon allein in diesem Monat, bei einem weiteren Fall besteht Verdacht. Femizide sind aber nur die Spitze der Gewaltpyramide. Die Formen von Gewalt, die Frauen durch Beziehungspartner erleben, sind vielfältig. Aber: Gewalt wird gelernt, sind sich Opferschutzorganisationen und Männerberatungsstellen einig. Was es daher braucht und sofort geben kann, sind Vorbilder.

Gewalt in der Familie betrifft zum größten Teil Frauen. 2020 wurden 20.587 Opfer familiärer Gewalt von Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen in Österreich betreut. Rund 82 Prozent der Unterstützten waren Frauen und Mädchen, und rund 91 Prozent der Gefährder waren männlich. Jede fünfte Frau hat in Österreich seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, jede dritte Frau hat sexuelle Belästigung erlebt. Es wird jedoch angenommen, dass die Dunkelziffer noch höher ist. Durchschnittlich starben heuer pro Monat mehr als zwei Frauen durch ihre (Ex-)Partner.

Die Pandemie hat die Situation für viele Frauen weiter verschärft – das zeigt ein Blick in die Statistik über polizeiliche Interventionen bei Gewalt in der Familie. Im Jahr 2020 hat die Polizei 11.495 Annäherungs- und Betretungsverbote verhängt, in den Jahren davor waren es rund 8.000. Wird ein solches Annäherungs- und Betretungsverbot verhängt, darf sich ein Gefährder für zwei Wochen weder der gefährdeten Person noch deren Wohnung nähern. Auch die Anzahl der Anrufe bei der Frauenhelpline gegen Gewalt ist 2020 deutlich gestiegen – in den Monaten März, April und Juni um 71 Prozent.

Gewalt, die nicht nur körperlich ist

Doch Gewalt gegen Frauen beginnt bereits lange vor tätlichen Angriffen. Allgemein wird zwischen struktureller und personeller Gewalt unterschieden. Während sich strukturelle Gewalt auf die Folgen von Ungleichheiten im Gesellschaftssystem bezieht, geht personelle Gewalt von einzelnen Tatpersonen aus – etwa bei Gewalt in der Beziehung. Dabei kommen häufig viele Gewaltformen zusammen: psychische, soziale, körperliche, sexuelle und ökonomische Gewalt. Viele Betroffene berichten zudem von einer stetigen Steigerung der Gewalt.

Grafik listet die Arten von Gewalt gegen Frauen auf
Grafik: ORF.at/Sandra Schober

Gewalt an Frauen beginnt bei den Werten und Einstellungen – an der Spitze stehen Suizide und vor allem Morde. Je weiter sich die Pyramide zuspitzt, desto weniger Menschen sind zwar betroffen, doch die Schwere der Gewalt nimmt immer weiter zu. Strukturelle Gewalt bildet also unter anderem den Nährboden für personelle Gewalt. Das Prinzip von Macht und Kontrolle bleibt aber in allen Stufen das gleiche.

„Gewalt gegen Frauen ist ein anerzogenes, sozialisiertes Problem“, so Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser im Gespräch mit ORF.at. Solange traditionelle Rollenbilder vorherrschten, sei das die Ursache der Gewalt. Denn sobald eine Frau aus diesem Muster ausbreche, versuche die Gesellschaft – beziehungsweise der Mann –, sie wieder dorthin zu bringen.

„Gewalt beginnt ab dem Moment, in dem eine Person verletzt wird“, erklärt Rösslhumer. Auch Blicke und Worte können verletzen, und Gewalt beginnt auch, wenn jemand ein Nein nicht akzeptiert. Besonders psychische Gewalt erkennen Betroffene oft gar nicht als Gewalt, weil Frauen erst körperliche Gewalt als solche definieren. „Systematischer Psychoterror passiert genauso, und das ist für Frauen oft fatal, weil sie nicht wissen, wie sie das einschätzen sollen“, so Rösslhumer weiter.

Macht und Kontrolle als Ziel der Gewalt

Die Stufen der Gewaltentwicklung, wie sie in der Gewaltpyramide veranschaulicht sind, bieten zwar eine Orientierung darüber, wie Gewalt entstehen kann. „Aber nicht alle Frauen erleben dasselbe“, ergänzt Rösslhumer. Auch Alexander Haydn, Psychotherapeut bei der Männerberatung Wien, erklärt: „Mord bei Gewalt in der Familie ist absolut die Spitze des Eisbergs.“ Eine Ursache, warum es viele Femizide gibt, sei die Rolle und Stellung der Frau, und auch das Umfeld trage viel dazu bei. Trotzdem verläuft Gewalt nicht immer linear oder stufenweise. „Gewalt gegenüber der Partnerin hat viel mit Abwertung und Kontrolle zu tun, auch mit ökonomischer Gewalt“, so Haydn.

Anti-Gewalt-Trainingsprogramme haben daher immer eine Verhaltensänderung des Mannes zum Ziel. „Wir versuchen, Männern alternative Verhaltensweisen anzulernen.“ Das betreffe vor allem körperliche Gewalt, die durch ein Trainingsprogramm in den meisten Fällen verhindert werden kann. „Oftmals bleibt aber verbale Gewalt übrig, und das ist eine Form von Gewalt, die genauso verletzend ist wie ein Faustschlag oder eine Watsche“, erklärt Haydn.

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Grafik listet die Arten von Gewalt gegen Frauen auf
Grafik: ORF.at/Sandra Schober
Grafik listet die Arten von Gewalt gegen Frauen auf
Grafik: ORF.at/Sandra Schober

16 Tage gegen Gewalt an Frauen

Die internationale Kampagne findet jedes Jahr vom 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, bis zum 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, statt. Auf der ganzen Welt machen Aktionen und Initiativen auf das Recht auf ein gewaltfreies Leben aufmerksam. Österreich nimmt seit 1992 an der Kampagne teil.

Das Konzept des Rads der Macht und Kontrolle veranschaulicht, wie verschiedene Formen der Gewalt in einer Beziehung ineinandergreifen. „Eine Form der Gewalt ist nicht schlimmer als die andere, das ist nicht miteinander gleichzusetzen“, erläutert Haydn. Wenn etwa die finanziellen Mittel fehlen oder die Kinder bedroht werden, erklärt das auch, wieso es vielen Frauen nicht möglich ist, sich zu trennen. „Eine Gewaltbeziehung ist ein langer Prozess. Die Frauen schaffen es nicht, sich zu lösen, mal geht es ihnen besser, mal schlechter.“ Psychoterror und soziale sowie ökonomische Gewalt als Mittel der Kontrolle verhindern oft eine Flucht aus der Gewaltbeziehung.

Eigene vier Wände sind am gefährlichsten

Auch brauche es eine Differenzierung zwischen den Ursachen und Formen männlicher Gewalt, so Haydn. In der Männerberatung habe er immer wieder Klienten, die beteuern, niemals die Frau oder die Kinder körperlich verletzt zu haben – doch auch psychische Gewalt über viele Jahre kann fatale Folgen haben. Gewalt – egal in welcher Form – könne in der Sekunde eskalieren.

„Viele Männer, die Gewalt in der Familie ausüben, würden in neun von zehn Fällen nie Gewalt in der Öffentlichkeit mit anderen Männern anfangen“, erklärt Haydn. Das sei nicht von außen einsehbar, weil es keine Frage von körperlichem Umgang sei. „Es gibt viele kleine Bausteine, die am Ende einen Mann dazu bringen, seine Frau zu töten, zu misshandeln, zu nötigen – in welcher Form auch immer.“

„Gewalt gegen Frauen beginnt zu Hause“, so Haydn. In der Biografie eines Mannes beginne sie bei der Geburt. Es gebe einen hohen Prozentsatz von Männern, die nicht gewalttätig seien. Aber: „Es kommt darauf an, in welchen sozialen Umständen ein Kind aufwächst. Was ein Kind ist und wird, haben wir als Gesellschaft aus ihm gemacht.“

Vorbilder statt traditionelle Rollenbilder

Deswegen ist es wichtig, dass Kinder in ihrem Umfeld Menschen um sich haben, die eine Vorbildfunktion ausüben. Dazu gehört auch Zivilcourage. „Die beginnt damit, dass Männer frauenfeindliche Witze, Sprüche und Scherze stoppen, nicht mitlachen und sich an der Gewaltprävention beteiligen“, so Rösslhumer. Die Forderung, bei der Kindererziehung anzusetzen, sei richtig, aber es benötige Maßnahmen, die bereits jetzt greifen – wie etwa ein Vorbild für andere zu sein.

Beratung für Männer

Das betreffe auch die Berichterstattung. „Medien tragen dazu bei, dass Gewalttäter geschützt werden, indem sie Gründe für Gewalt an Frauen transportieren, die nicht stimmen – wie Migration, Eifersucht, Liebe oder Leidenschaft“, so Rösslhumer. „Wir wünschen uns alle, dass es diesen einen Bereich oder Aspekt gibt, bei dem man ansetzt, und dann hören die Morde auf, aber so ist es nicht“, erläutert Haydn.

Auch er betont in diesem Zusammenhang die Vorbildfunktion, die Menschen für andere ausüben müssten. Etwa wenn niederschwellige Hilfsangebote wie die Männerhotline von (potenziellen) Tätern angenommen werden. „Jeder Mann, der da anruft, kann der sein, der seine Frau nicht umbringt“, betont Haydn.