Sicherheitspersonal vor dem neuen geschlossenen Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Kos
APA/AFP/Aris Messinis
Grenzschutz vor Asylrecht

Mauern der „Festung Europa“ werden höher

Ob an den EU-Außengrenzen, auf griechischen Inseln oder am Ärmelkanal – das Scheitern europäischer Migrationspolitik zeigt sich derzeit an mehreren Schauplätzen. Unter dem Deckmantel eines verstärkten Grenzschutzes würden europäische Rechtsnormen zum Schutz von Geflüchteten zunehmend erodieren, so der Tenor der Kritikerinnen und Kritiker gegenüber ORF.at. Sie vermissen sowohl Recht als auch Gerechtigkeit.

Seit Wochen harren Geflüchtete an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus. Die Bedingungen sind „lebensbedrohlich“, sagt Marianna Wartecka von der polnischen NGO Ocalenie im Gespräch mit ORF.at. „Es ist sehr kalt, es liegt Schnee, es friert jede Nacht.“ Die Geflüchteten seien „ohne passende Kleidung oder Schutz. Viele sind unterkühlt, haben Erfrierungen“, so Wartecka.

Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge gebe es bereits 17 verifizierte Todesopfer. Wartecka gehe aber davon aus, dass es viel mehr, Dutzende, vielleicht sogar Hunderte sein könnten, sie sagt: „Es ist erbärmlich, Menschen im Wald mitten in Europa im 21. Jahrhundert sterben zu lassen. Nichts kann das rechtfertigen.“ Selbst wenn sich die EU dazu entschließe, eine strikte Migrationspolitik zu verfolgen, müssten Asylrechte eingehalten werden – doch diese würden hier „nicht existieren“.

EU-Kommission: Schutzrechte temporär aussetzen

Erst diese Woche kam es zu einem weiteren Vorstoß zur Lockerung von EU-Asylregeln. Angesichts der angespannten Lage an der Grenze zu Belarus verkündete die EU-Kommission, dass es Polen, Lettland und Litauen erlaubt werden soll, bestimmte Schutzrechte von Geflüchteten vorübergehend auszusetzen.

Unter anderem sollen die Abschiebungen einfacher und schneller durchgeführt werden. Und so soll ein Asylprozess in Zukunft bis zu vier Monate dauern dürfen. Das könnte bedeuten, dass Geflüchtete so lange in Auffangzentren nahe der Grenze untergebracht werden und diese nicht verlassen dürfen.

Flüchtlinge an der polnisch-weißrussischen Grenze
APA/AFP/Wojtek Radwanski
Seit Monaten versuchen Tausende Menschen über Belarus in die EU zu kommen. Die EU-Kommission will nun Asylansuchen direkt an der Grenze prüfen und Abschiebungen erleichtern.

EU betont Einhaltung der Grundrechte

Die EU betont, Grundrechte sollen dabei nicht gefährdet werden. Doch das sehen nicht alle so. Im Gespräch mit ORF.at meinte etwa der Migrationsexperte Giuseppe Campesi von der Universität Oxford, die EU argumentiere hierbei mit Solidarität einem Mitgliedsstaat gegenüber. Allerdings sei es „eine sehr seltsame Vorstellung von Solidarität, wenn die EU darunter versteht, Polen zu erlauben, Teile des Asylrechts auszusetzen“.

Denn anstelle, dass Polen für die Nichteinhaltung von EU-Recht sanktioniert werde, kreiere die Kommission legale Wege, sodass Polen EU-Prinzipien und -Recht offiziell verletzen kann. Das sei „erstaunlich“ und „extrem problematisch“. Ähnliche Töne schlägt auch Alberto-Horst Neidhardt, Analyst der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre (EPC), gegenüber ORF.at an: Die Europäische Kommission sei „die Hüterin“ der Verträge, einschließlich der EU-Grundrechtscharta. Wenn nationale Behörden EU-Gesetze nicht umsetzen, sei die Kommission folglich verpflichtet, ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Doch stattdessen würde sie mit dem Vorschlag das Vorgehen der Länder auch noch abgesegnen.

Aufnahme des neuen geschlossenen Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel Samos
AP/Thanassis Stavrakis
Zufluchtsort oder Gefängnis? Die Meinungen zu „geschlossenen“ Flüchtlingscamps gehen auseinander.

NGO: Stärkung der „Festung Europas“

Auch Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Ankündigung der Kommission scharf. Seitens Oxfam hieß es dazu: „Menschen, die in Europa Schutz suchen, zu stoppen, festzunehmen und zu kriminalisieren, bricht internationales Recht und europäisches Asylrecht.“ Der Vorschlag verstoße gegen alles, wofür die EU stehen sollte und stärke die „Festung Europas“. Pro Asyl zufolge zeigt der Vorstoß, „dass die Hardliner in Europa mittlerweile die Brüsseler Agenda bestimmen“.

Polen lehnte die Vorschläge zu den neuen Maßnahmen jedoch ohnehin als unzureichend ab und forderte die gänzliche Einstellung von Asylverfahren. So, wie es bereits im vergangenen Frühjahr in Griechenland der Fall war, als im Grenzkonflikt mit der Türkei einen Monat lang gar keine Asylanträge angenommen worden sind.

„Geschlossene“ Flüchtlingslager, Mauern, Pushbacks

Mittlerweile wurden auch auf griechischen Inseln neue „geschlossene“ Flüchtlingslager eröffnet – mit Stacheldraht, Überwachungskameras und in der Nacht geschlossenen magnetischen Toren. Weitere sollen folgen. Während Kritiker und Kritikerinnen in Camps wie diesen nichts weniger als Gefängnisse sehen, kam seitens der EU Lob.

EU-Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas sagte bei der Eröffnung: „Heute schlägt die EU eine neue Seite in ihrer Migrationspolitik auf.“ Europa werde weiterhin ein „Zufluchtsort sein für all diejenigen, die vor Diktatur, Krieg und Verfolgung fliehen, und es ist in unserem Interesse, dass wir menschliche Bedingungen bereitstellen.“

Doch nicht alle Geflüchtete schaffen es überhaupt über die Grenze. Derzeit wird Europa durch mehr als 1.000 Kilometer Grenzanlagen abgesichert. Und: Berichten zufolge kommt es regelmäßig zu Pushbacks. Gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtscharta werden diese als illegal eingestuft, da es Asylwerbern und -werberinnen ermöglicht werden muss, einen Asylantrag zu stellen.

Kritik an „Asylprozessen von Bewaffneten im Wald“

Griechenland, aber auch andere EU-Staaten wie Kroatien und Ungarn bestreiten die Vorwürfe, sie würden Geflüchtete an den Grenzen gewaltsam zurückweisen. Nicht so Polen. Dort wurden Pushbacks auf nationaler Ebene de facto per Gesetz legalisiert.

Wartecka übt an dieser Praxis scharfe Kritik: „Es sollte nicht irgendein Typ mit einer Waffe im Wald entscheiden, dass jemand kein Recht auf Asyl hat und deshalb zurückkehren muss. Ohne das Wissen oder die Befähigung zu haben, ohne im Klaren darüber zu sein, wer da vor ihm steht, und oft ohne sich überhaupt mit der Person in einer Sprache verständigen zu können.“

Wartecka fordert offizielle Asylprozesse und grundlegende humanitäre Hilfe. Doch „die polnische Regierung hat sich dafür entschieden, die Leben dieser Menschen für einen politischen Machtkampf aufs Spiel zu setzen.“ Und die EU sei „wahrscheinlich froh, dass jemand die Drecksarbeit übernimmt“. Folglich falle es ihr schwer, hier noch von „europäischen Werten“ zu sprechen.

Flüchtlingsboot im Mittelmeer
AP/Valeria Mongelli
Geflüchtete sollen an der Grenze gewaltsam zurückgeschickt oder auf dem Meer ausgesetzt werden – Pushback-Vorwürfe gegen Grenzschutzbeamte wiegen schwer

Keine „Einzelfälle, Unfälle oder Ausnahmen“

Kritik zur europäischen Migrationspolitik äußerte kürzlich auch die niederländische Europaparlamentarierin Sophie in ’t Veld (ALDE). Gegenüber der „New York Times“ („NYT“) sagte sie: „Angesichts der Zehntausenden von Opfern, die im Mittelmeer ertrunken sind, der Tausenden, die in Libyen in Lagern dahinsiechen, dem Elend in den Lagern auf den griechischen Inseln (…), der Menschen, die im Ärmelkanal ertrinken oder an der Grenze zwischen Belarus und der EU erfrieren, kann die Europäische Kommission nicht mehr behaupten, dass es sich dabei nur um Einzelfälle, Unfälle oder Ausnahmen handelt.“ Und: Es handle sich nicht mehr um politisches Scheitern, sondern ganz einfach um die Politik der EU.

Experten orten verschärfte Migrationspolitik

Ähnlich äußerte sich der Migrationsexperte Campesi. Er sei besorgt über die Art und Weise, wie die EU versuche, das Asylsystem in eine Grenzschutzinfrastruktur umzuwandeln. Auch Susan Fratzke, Analystin am Migration Policy Centre (MPC) in Brüssel sieht im Gespräch mit ORF.at Verschärfungen bei der Migrationspolitik der EU-Länder. Diese seien in ihrem Grenzmanagement „sehr viel strenger“ geworden, die öffentliche sowie politische Meinung dazu zustimmender.

Im aktuellen IOM-Bericht ist dazu zu lesen: Die Kombination interner und externer Herausforderungen habe zu einer Verschlechterung der öffentlichen Wahrnehmung von Migration beigetragen und die Fremdenfeindlichkeit verstärkt.

Ein Flüchtlingslager auf Samos
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Verantwortung und Solidarität – dass jedes EU-Land diese Begriffe anders definiert, zeigt sich etwa, wenn es um die Frage der EU-internen Verteilung Geflüchteter geht

„Doppelte“ Krise

Die große Migrationsbewegung 2015 spiele Fachleuten zufolge bei dieser Entwicklung freilich eine große Rolle. Es war „klar ein kritischer Punkt“, so Campesi. Allerdings nicht nur wegen der schieren Anzahl der ankommenden Geflüchteten, sondern auch wegen Konflikten innerhalb der EU hinsichtlich einer gemeinsamen Migrationspolitik – etwa, wenn es um Fragen der Verantwortung und Solidarität gehe.

Campesi meinte dazu: „Ich würde sagen, es gibt auch eine Krise innerhalb der Europäischen Union, es ist in vielerlei Hinsicht eine Krise der EU-Politik und nicht nur einfach eine Migrationskrise.“ Eine Krise, die bis heute anhalten würde, so Campesi.

„Neues Migrations- und Asylpaket“?

Zwar gibt es mit dem „Neuen Migrations- und Asylpaket“ seit vergangenem Jahr bereits einen Vorschlag der EU-Kommission zur Neuausrichtung der gemeinsamen Migrationspolitik, doch eine Einigung konnte bisher nicht erzielt werden – zu unterschiedlich sind die einzelnen Positionen der Mitgliedsländer. Kommende Woche wird der Pakt wieder einmal im EU-Parlament diskutiert.

Ein wichtiger Teil des Pakts sieht eine engere Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Ländern vor. Neidhardt meint dazu: „Innerhalb der EU bleibt die Migration ein spaltendes politisches Thema. Außerhalb der EU beobachten wir eine zunehmende geopolitische Instabilität.“ Wenn das Migrationsmanagement an Nachbarländer ausgelagert werde und die Grenzen der „Festung Europas“ sich dadurch immer weiter verschieben würden, setze sich die EU nicht zuletzt auch dem Risiko der Epressung aus.

„In einem unsicheren geopolitischen Kontext kann Belarus wie jedes andere skrupellose Regime damit drohen, die grenzüberschreitende Migration weder zu kontrollieren noch zu verhindern, um sich so politische und finanzielle Vorteile zu verschaffen“, warnt der Experte. Doch eine rasche Lösung in der europäischen Migrationspolitik ist all den befragten Personen zufolge nicht in Sicht.