Silhouetten von Menschen vor dem Außenministerium in Moskau
AP/Pavel Golovkin
Ukraine-Krieg

Junge und Gebildete verlassen Russland

Während bereits mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen sind, zeichnet sich auch aus Russland, wenngleich in gänzlich anderem Ausmaß, eine Fluchtbewegung ab. Hunderttausende – vor allem gut ausgebildete – Russinnen und Russen haben ihre Heimat bereits verlassen. Sie gehen teils aus Angst vor Repressalien seitens der Regierung, teils aus Sorge um ihre wirtschaftliche Zukunft angesichts der westlichen Sanktionen.

Sei es nicht funktionierende Software oder gesperrte Kreditkarten: Für IT-Spezialisten in Russland gestaltet sich die Arbeit zurzeit alles andere als einfach. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es unmöglich geworden, in Russland Hightech-Produkte zu entwickeln“, berichtet etwa Start-up-Gründer Mike Melanin der „Süddeutschen Zeitung“. „Wenn sich die Situation nicht schlagartig ändert, werden wir als Team auswandern.“

Nicht nur in modernen, an den USA orientierten Sparten wie dem Tech-Sektor erscheint Auswandern aus Russland zurzeit als beste Option. Die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens und der Rückzug zahlreicher US-amerikanischer und europäischer Unternehmen trifft russische Zivilistinnen und Zivilisten finanziell hart, Tausende von ihnen haben ihre Arbeit verloren. Aber auch die neuen Gesetze des russischen Präsidenten Wladimir Putin schränken viele in der Ausübung ihrer Arbeit ein.

Kritik am System unter Strafe gestellt

Seit Inkrafttreten des „Falschinformationsgesetzes“ am 5. März ist es Journalisten, Bloggern und Aktivisten nicht mehr möglich, Kritik am Vorgehen Russlands zu üben; bei Verstößen, beispielsweise durch Verwendung der Worte „Invasion“ oder „Krieg“, drohen bis zu fünfzehn Jahre Haft.

Der Chefredakteur des unabhängigen Fernsehsenders Doschd, Tichon Dsjadko, gab an, wegen persönlicher Sicherheitsbedenken das Land verlassen zu haben – der Sender wurde „bis auf Weiteres“ eingestellt. Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen wurden bereits etliche Journalistinnen und Journalisten vorübergehend festgenommen. Bis zu 14.000 Menschen wurden zudem bei Demonstrationen verhaftet, berichtet die Rechtshilfe OVD.

„Es ist unmöglich, in einem Land zu leben, selbst in seinem eigenen und geliebten Land, in dem man den Mund hält. Besonders für eine Person, deren einziges Werkzeug das Wort ist“, schrieb der bekannte Filmkritiker Anton Dolin in einem Posting, in dem er seine Ausreise aus Russland bekanntgab.

„Jede Minute einer solchen Existenz bestätigt das Offensichtliche – dass man ein Komplize ist.“ Auf die Tür der Wohnung, in der er mit seiner Familie gelebt hatte, sei zudem kurz vor seiner Ausreise ein „Z“ gesprüht worden – ein Symbol, das als Zustimmung zur russischen Invasion und Einschüchterung gegen Oppositionelle verwendet wird.

Prominente Kritik an Putin wird lauter

Der russische Rapper Oxxxymiron, mit bürgerlichem Namen Miron Yanovich Fyodorov, kündigte am Freitag an, ein Benefizkonzert für die Ukraine abhalten zu wollen.

„Es gibt Dutzende von Millionen Russen, die diesen Krieg kategorisch ablehnen, und ich denke, das sollte so laut wie möglich gesagt werden“, so der Rapper auf Instagram. „Und so kündige ich eine Reihe meiner Wohltätigkeitskonzerte an, die ich Russians Against War nenne, kurz RAW.“ Aus Sicherheitsgründen müsse das Konzert jedoch außerhalb Russlands stattfinden.

Auch im Sport melden sich Putin-Kritiker zu Wort: So postete der Fußballnationalspieler Fedor Smolov am Donnerstagabend ein schwarzes Bild mit den Worten „Nein zum Krieg!“, der Tennisspieler Andrey Rublev schrieb nach seinem Halbfinal-Sieg in Dubai „No war please“ auf eine Fernsehkamera.

Tausende Russinnen und Russen bereits geflohen

Am 27. Februar, als die meisten europäischen Länder angaben, ihren Luftraum für russische Flugzeuge sperren zu wollen, breitete sich in der russischen Mittelschicht Panik aus, berichtete der „Spiegel“. Die Preise für Tickets nach Dubai, Baku oder Istanbul stiegen infolge fast um das Zehnfache. Laut dem russischen Ökonomen Konstantin Sonin könnten inzwischen bis zu 200.000 Russinnen und Russen das Land verlassen haben. Handfeste Zahlen, die das bestätigen, gibt es allerdings noch nicht.

Georgien gilt seit Jahren als Zufluchtsort für russische Oppositionelle und als eines der wenigen Länder, in denen Russen ein Jahr lang ohne Visum bleiben dürfen. Laut Angaben der georgischen Regierung sind seit Kriegsbeginn bereits 20.000 bis 25.000 russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Tiflis angekommen.

„Ich bin gegen Putin und die einzige Perspektive, die ich in Russland habe, ist wie Nawalny im Gefängnis zu landen“, sagt etwa der 25-jährige Logistikmanager Roman Michailow. Oppositionsführer Alexej Nawalny hatte in den vergangenen Jahren die größten Proteste gegen Präsident Putin angeführt und wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt. „Die Mehrheit der Russen unterstützt Putin, und es ist sehr schwer, selbst politisch neutral zu sein“, so Michailow.

Die Programmiererin Marina Boldyrewa machte gerade in Georgien Urlaub, als Putin den Krieg begann. Als sie die Nachricht hörte, beschloss Boldyrewa, nicht nach St. Petersburg zurückzukehren. „Es wird unmöglich sein, in Russland zu leben“, erklärt die 26-Jährige. „Es wird eine schreckliche Wirtschaftskrise geben.“

Zunehmend antirussische Stimmung in Georgien

Der Zustrom von Russen löst gemischte Gefühle bei den Georgiern aus, die antirussische Stimmung im Land wächst. Tausende Menschen forderten die Regierung in einer Onlinepetition auf, eine Visumspflicht für russische Staatsangehörige einzuführen und die Einwanderungsbestimmungen zu verschärfen. Andere forderten ihre Vermieter auf, russischen Neuankömmlingen die Miete zu verweigern.

„Wir haben versucht zu erklären, dass Russen nicht Putin sind – wir hassen Putin auch“, so die russische Aktivistin Leyla Nepesova, die von einem georgischen Taxifahrer beschimpft und angeschrien wurde, gegenüber der „New York Times“. „Er sagte uns: ‚Ihr seid Russen, ihr seid Besatzer‘“, so Nepesova. „Die Russen sind hier verhasst – und ich kann es ihnen nicht verdenken.“

Fast täglich gehen in Tiflis Tausende aus Solidarität mit der Ukraine auf die Straße. Georgien erlebte 2008 selbst eine russische Invasion. Manche fürchten, dass Putin die ehemalige Sowjetrepublik als Nächstes ins Visier nehmen könnte. Die Bank von Georgien fordert, dass russische Kundinnen und Kunden eine Erklärung unterzeichnen, in der sie die Invasion in die Ukraine verurteilen und anerkennen, dass Russland damals einige Teile Georgiens besetzt hat.

Proteste in Tiflis
APA/AFP/Vano Shlamov
Demonstrierende protestieren vor der ehemaligen russischen Botschaft in Tiflis gegen die russische Invasion in der Ukraine

Russen im Exil vernetzen sich

Um der antirussischen Stimmung entgegenzuwirken und sich bei der Organisation der Ausreise zu unterstützen, haben sich einige Russen mittlerweile zusammengeschlossen. So berichtete etwa der Journalist Aleshkovsky der „New York Times“, er habe mit Kollegen eine Initiative namens „OK Russians“ gegründet, um jenen zu helfen, die aus Russland ausreisen müssten oder wollten und sowohl russisch- als auch englischsprachige Medieninhalte zu produzieren.

Auch der russische Unternehmer Michail Chodorkowski, der zehn Jahre lang in Russland inhaftiert war und mittlerweile im Exil in London lebt, finanziert ein Projekt, das unter anderem Unterkünfte in Istanbul und psychologische Unterstützung anbietet. Seit dem Start am Donnerstag seien bereits 10.000 Anfragen bei „Kovcheg“ („Die Arche“) eingegangen, so die „New York Times“.