Frau mit einem „No War“-Banner hinter einer Moderatorin
EBU/RUC1R
„No War“-Protest

Schicksal von Staats-TV-Mitarbeiterin unklar

Auch mehr als 15 Stunden nach ihrer außergewöhnlichen Protestaktion im russischen Staatsfernsehen gegen die Invasion in der Ukraine ist völlig unklar, wo sich Marina Owsjannikowa aufhält. Sie wurde verhaftet, der Kreml wirft ihr „Rowdytum“ vor. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will sich einschalten.

Owsjannikowa hat die bisher wohl ungewöhnlichste Protestaktion in Russland gegen den Kreml und dessen Einmarsch in die Ukraine und die darüber verhängten drastischen Zensurmaßnahmen ausgeführt, als sie während der Hauptnachrichten im stramm kremltreuen Staatssender Russland Kanal 1, der für viele in Russland die wichtigste Informationsquelle ist, plötzlich hinter der Moderatorin auftauchte, ein Plakat mit „No War“ ausrollte und das Publikum aufrief, den Nachrichten des Senders nicht zu glauben.

Der Sender schaltete nach einigen Schrecksekunden um und zeigte eine Einspielung aus einem Krankenhaus. Währenddessen wurde Owsjannikowa aus dem Studio entfernt und verhaftet. Ihr Anwalt Daniil Berman sagte der Nachrichtenagentur AFP am Dienstag, dass er keinen Kontakt zu seiner Mandantin habe und nicht wisse, wo genau sie festgehalten werde. Der Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow bestätigte ebenfalls auf Twitter, dass bisher kein Anwalt sie sehen konnte.

Anwalt befürchtet harte Bestrafung

Berman befürchtet, dass seine Mandantin nach dem neuen russischen Mediengesetz bestraft werden könnte, das bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über das Militär vorsieht. „Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Behörden daran ein Exempel statuieren, um andere Protestierende zum Schweigen zu bringen“, fügte er hinzu.

Eine andere Anwältin, Anastasia Kostanowa, betonte gegenüber der BBC, sie habe die ganze Nacht nach Owsjannikowa gesucht. Die Behörden würden sie vor ihren Anwälten verstecken und „versuchen offensichtlich, sie ihres Rechts auf Rechtsbeistand zu berauben und eine möglichst strenge Verfolgung vorzubereiten“.

Für Kreml „Rowdytum“

Das Anfang März erlassene Zensurgesetz verbietet es unter anderem, den russischen Krieg in der Ukraine als Krieg oder Invasion zu bezeichnen. Laut Tschikow kann die Polizei Owsjannikowa eigentlich nur zwecks Erstellens eines Protokolls nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, wegen Widerstandes gegen Staatsgewalt oder beim Verdacht auf eine Straftat, nicht aber bei einem Verwaltungsdelikt länger als drei Stunden festhalten.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach am Dienstag von „Rowdytum“. Der TV-Sender müsse die Umstände, wie es dazu kommen konnte, genau untersuchen, so Peskow weiter. Das könnte darauf hindeuten, dass sie nicht wegen einer Straftat verfolgt werden soll. Allerdings nannte Peskow die Tatsache, dass sie während einer Live-TV-Sendung protestiere, einen „erschwerenden Umstand“. Damit ist offen, wie der Kreml mit Owsjannikowa verfahren wird.

Macron will mit Putin reden

Frankreichs Präsident Emmanuel Macro bot Owsjannikowa Hilfe an. Paris werde diplomatische Schritte unternehmen. Macron kündigte zudem an, auch Putin beim nächsten Telefonat auf Owsjannikowa ansprechen zu wollen. Ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell bezeichnete die Aktion von Owsjannikowa als „mutig“.

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf rief Moskau dazu auf, sicherzustellen, dass Owsjannikowa wegen ihrer Aktion, mit der sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen habe, nicht bestraft wird.

Chef des Senders Kanal 1 ist seit 1999 – als auch Putin an die Macht kam – Konstantin Ernst. Für ihn und andere im Staatssender könnte die Aktion jedenfalls auch unangenehm werden. Das umso mehr, als sich Owsjannikowa während ihrer Arbeit eigentlich nie politisch geäußert haben soll. Das berichtet die Journalistin Farida Rustamowa unter Berufung auf Kolleginnen von Owsjannikowa. Das dürfte den Kreml nicht gerade beruhigen.

Voraufgezeichnete Videobotschaft

Owsjannikowa hatte vor ihrem aufsehenerregenden Protest auch ein Video aufgenommen, in dem sie ihre politische Position erklärt. „Das, was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Und Russland ist der Aggressor. Und die Verantwortung für diese Aggression liegt nur auf dem Gewissen eines Menschen – und dieser Mensch ist Wladimir Putin.“

Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin, und sie seien nie Feinde gewesen. In den vergangenen Jahren „habe ich leider beim Kanal 1 gearbeitet und mich mit Kreml-Propaganda beschäftigt. Ich schäme mich jetzt sehr dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass vom TV-Bildschirm gelogen wurde. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass Russen in Zombies verwandelt wurden.“

2014, als alles anfing, habe die russische Bevölkerung geschwiegen. Jetzt habe sich die ganze Welt von Russland abgewandt. „Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren! Fürchtet nichts! Sie können uns nicht alle einsperren.“

Russische Moderatorin verlässt Land

Unterdessen berichten mehrere Medien, darunter die BBC, dass die russische Moderatorin Lilia Gildejewa ihren Job als Nachrichtensprecherin bei einem der wichtigsten TV-Sender Russlands gekündigt und das Land verlassen hat.

„Ich habe (Russland) zuerst verlassen, weil ich Angst hatte, dass sie mich nicht einfach so gehen lassen würden, und dann meine Kündigung eingereicht“, so die NTW-Moderatorin gegenüber dem prominenten Blogger Ilja Warlamow. Gildejewa moderierte die abendliche Nachrichtensendung „Segodnja“ (Heute) des Senders NTW. NTW gilt als drittbeliebtester Fernsehsender Russlands. Der Sender befindet sich im Besitz von Gasprom und ist regierungsnahe.