Russischer Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik
Putin gegen „Verräter“

Neue Repressionen in Russland befürchtet

Andersdenkende als „Verräter“ und „prowestlicher Abschaum“: Mit seiner Rede am Mittwochabend, in der der russische Präsident Wladimir Putin von einer „notwendigen Selbstreinigung der Gesellschaft“ sprach, ließ Putin keinen Zweifel daran, dass er noch härter gegen Kritikerinnen und Kritiker im eigenen Land vorgehen möchte. Beobachterinnen und Beobachter befürchten weitere Repressalien.

„Die russische Bevölkerung wird immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden, und sie einfach wie Fliegen, die zufälligerweise in den Mund geflogen sind, ausspucken“, sagte Putin in der Rede, mit der er die Russinnen und Russen ob eines „wirtschaftlichen Blitzkrieges“ des Westens auf schwierige Zeiten einstimmte.

„Ich bin überzeugt, dass so eine natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land, Solidarität, Zusammenhalt und Bereitschaft, auf jede Herausforderung zu reagieren, nur stärken wird“, setzte Putin fort. Der Westen wolle Russland „zerstückeln“ und „Unruhen“ hervorrufen. Ähnlich scharfe Worte wählte am Donnerstag Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: In Russland würden sich viele Menschen als „Verräter“ entpuppen. Er deutete auf diejenigen, die ihre Jobs aufgäben und das Land verließen.

Putins Kampf „an allen Fronten“

Kommentatoren und Kommentatorinnen reagierten alarmiert auf Putins Rede. Diese sei „ziemlich außergewöhnlich“, schrieb etwa der Russland-Korrespondent der BBC, Steve Rosenberg. „Wir haben einen russischen Präsidenten gesehen, der an allen Fronten kämpft“, so Rosenberg mit Verweis auf die Kämpfe in der Ukraine, internationale Sanktionen und damit einhergehende mögliche soziale Unruhen in Russland.

„Er sprach über eine steigende Inflation, steigende Arbeitslosigkeit. Er sucht also nach Sündenböcken – nach Leuten, denen er die Schuld geben kann, damit die russische Bevölkerung ihm nicht Vorwürfe macht, wenn der wirtschaftliche Schmerz anfängt, akut zu werden“, so Rosenbergs Einschätzung.

Die Sündenböcke habe er schon auserkoren: „Verräter“, „prowestlicher Abschaum“ und die „fünfte Kolonne“. Als „fünfte Kolonne“ werden der Subversion verdächtigte Gruppen bezeichnet, die insgeheim mit den Interessen einer äußeren feindlichen Macht sympathisieren und tatsächlich oder vermeintlich mit dieser kollaborieren.

Neue Welle an Repressionen befürchtet

Putin bereite den Weg für ein „noch härteres Vorgehen zu Hause und noch mehr Aggressionen im Ausland“, so der Russland-Korrespondent der „New York Times“, Anton Troianowski. Der russische Führer verglich den Westen mit Nazi-Deutschland und verspottete in seiner Rede die „politische hübsche Welt“ in Europa und den Vereinigten Staaten sowie die „sklavenähnlichen“ Russen, die sie unterstützten.

Obwohl russische Vertreter derzeit mit der Ukraine über Bedingungen für ein mögliches Kriegsende verhandelten, sei Putin bereit, den Einsatz im Konflikt mit dem Westen zu erhöhen. Indem er die „härteste Sprache“ für Russen, die seine Ansichten nicht teilen, verwendet habe, habe Putin die Tür für eine „neue Welle an Repressionen“ geöffnet, so Troianowski. Diese könnten nicht nur Aktivisten und regimekritische Journalisten, sondern breitere Bevölkerungsschichten treffen, so Troianowski mit Verweis auf Fachleute.

Demonstrant wird von Polizisten abgeführt am Manezhnaya Square in Moskau
APA/AFP
Tausende Regimekritiker wurden im Zuge von Antikriegsprotesten in den vergangenen Wochen festgenommen

Hartes Vorgehen gegen FSB, Medien und Kritiker

Ein härteres Vorgehen gegen kritische Medien und Andersdenkende, aber auch gegen hochrangige Behördenvertreter zeichnete sich bereits in den letzten Wochen ab. Vor wenigen Tagen berichtete die Onlinezeitung Medusa, dass der Leiter der Abteilung 5 des Inlandsgeheimdienstes FSB, General Sergej Besseda, und sein Stellvertreter Anatoli Boluch unter Hausarrest gestellt worden seien.

Ein vom ehemaligen Oligarchen und heutigen Oppositionspolitiker Michail Chodorkowski finanziertes Portal behauptet hingegen, Besseda sei zwar verhört worden, aber noch im Dienst. Boluch wurde demnach entlassen. Die für die Ukraine zuständige Abteilung scheint innerhalb des Geheimdienstes ins Visier des Kremls geraten zu sein. Der in Frankreich lebende russische Dissident Wladimir Osetschkin veröffentlichte eine Reihe von Briefen eines angeblichen Whistleblowers, der behauptet, im FSB herrsche ein Klima der Angst, weil der Geheimdienst es versäumt habe, vor dem Widerstand gegen die russische Invasion zu warnen.

Die russischen Behörden leiteten überdies auch Ermittlungen gegen eine Lifestyle-Bloggerin, die sich auf Instagram gegen den Krieg in der Ukraine positionierte, ein. Außerdem wurden die Hauptseite der britischen BBC und anderer unabhängiger Medien für Nutzerinnen und Nutzer im Land gesperrt. „Ich denke, das ist nur der Anfang der Gegenmaßnahmen in dem vom Westen angezettelten Informationskrieg gegen Russland“, teilte die Regierung in Moskau mit.

Russland zieht bei Meinungsfreiheit Daumenschrauben an

Putin hatte nur kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mehrere Gesetze zur weiteren Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Russland unterzeichnet, mit denen unabhängige Medienberichterstattung weiter beschnitten wurde.

Bis zu 15 Jahre Haft drohen für die Verbreitung von angeblichen „Falschinformationen“ über die russischen Streitkräfte. Strafen drohen auch jenen, die öffentlich die Armee „verunglimpfen“. Zudem wurden seit Kriegsbeginn Tausende Menschen, die gegen die russische Regierung und die Offensive in der Ukraine auf die Straße gingen, in Russland festgenommen.

Protestaktion der russischen TV-Journalistin Marina Owsjannikowa
Reuters/Channel One
Jene Journalistin, die im russischen Fernsehen gegen den Krieg protestierte, wurde vorerst mit einer Geldstrafe belegt

„Die Rede war beängstigend“

Laut Tatiana Stanowaja, der Gründerin der politischen Analysefirma R. Politik, wollte Putin Strafverfolgungsbehörden in ganz Russland signalisieren, dass sie gegen „alle Gesellschaftssphären, die mit einem westlichen Lebensstil sympathisieren, vorgehen sollen“. Die Rede sei „teils eine informelle und indirekte Verhängung von Massenrepression“, so Stanowaja zur „New York Times“. „Die Rede war beängstigend, sehr beängstigend.“

Putin beteuerte im Zuge der Rede auch, dass der Ukraine-Krieg „nach Plan“ verlaufe. Militärexperten teilten zuletzt mehrfach die Einschätzung, dass der Kreml nicht mit dem starken ukrainischen Widerstand und der Gegenwehr der ukrainischen Truppen gerechnet hatte. „Die Militäroperation verläuft zweifellos schwieriger als erwartet“, sagte selbst der kremlfreundliche Kommentator Sergej Markow.

Stanowaja zufolge würde Putin die „unangenehme Arbeit der Aushandlung eines Kompromisses für das Kriegsende“ seinen Beamten überlassen, während er selbst die Voraussetzungen „für einen größeren Showdown mit dem Westen und den prowestlichen Russen bereite“. Möglich ist laut Stanovaya aber auch, dass die Verhandlungen „ein Bluff“ waren, um dem Kreml Zeit zu verschaffen, sich auf einen Angriff auf Kiew vorzubereiten.

Debatte über Wiedereinführung der Todesstrafe

Mittlerweile wird in Russland sogar schon wieder über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachgedacht. Die Abschaffung oder zumindest Aussetzung war eine der Aufnahmebedingungen in den Europarat. 1996 setzte der damalige Präsident Boris Jelzin das Moratorium in Kraft. 1999 wurde es vom russischen Verfassungsgericht explizit festgelegt und zuletzt 2009 bekräftigt.

Mit dem Verlassen des Europarats steht die Todesstrafe nun wieder zur Debatte. Ex-Präsident Dimitri Medwedew hatte die Wiedereinführung im Zuge der Europaratsdebatte schon vergangene Woche laut angedacht. Die ultranationalistische LDPR von Wladimir Schirinowski brachte praktisch gleichzeitig mit dem Ende der Mitgliedschaft Russlands in der Organisation einen entsprechenden Vorschlag ein. Die LPDR gilt im Wesentlichen als kremlloyal, es wäre nicht der erste Vorschlag, den die Partei als Testballon lanciert.