Soldaten bei einer belarussisch-russischen Militärübung in Belarus
AP/Russian Defense Ministry Press Service
Manöver und Gerüchte

Angst vor Ausweitung des Krieges wächst

Die Warnungen vor einer deutlichen Ausweitung des russischen Krieges auf die Ukraine mehren sich. Seit Tagen kursieren Spekulationen, dass der Kreml am 9. Mai zur traditionellen Weltkrieg-Gedenkparade das Kriegsrecht verhängen und eine Generalmobilmachung anordnen könnte. Der Kreml bezeichnete diese zuletzt zwar als „Unsinn“, doch auch ein überraschendes Militärmanöver beim Russland-Verbündeten Belarus in der Nacht auf Mittwoch nährt Sorgen wegen des weiteren Kriegsverlaufs.

Belarus hatte in dem unangekündigten Manöver seine schnelle Eingreiftruppe geprüft. Dabei sollten Gefechtsbereitschaft, Gefechtsaufgaben und Aspekte des Marsches in Einsatzgebiete geprüft werden, so das belarussische Verteidigungsministerium auf Telegram.

Laut Belarus soll das Manöver die Abwehr von Boden- und Luftangriffen trainieren. Die Anzahl der beteiligten Truppenteile werde schrittweise vergrößert. Ziel sei es zu überprüfen, wie schnell die Eingreiftruppe auf plötzliche Krisensituationen reagieren könne.

„Keine Gefahr für Nachbarländer“

Die Militärübung berge „keine Gefahr, weder für die europäische Gesellschaft im Ganzen noch für die Nachbarländer im Besonderen“, betonte die Führung. Doch das Verhältnis zwischen Kiew und Minsk ist zerrüttet, Belarus ist ein enger Verbündeter Russlands. Die Ukraine teilte mit, man schließe nicht aus, dass Russland an einem Punkt des Krieges auf die belarussischen Truppen und das Territorium von Belarus zurückgreifen könne, so ein Sprecher des ukrainischen Grenzschutzes. Man sei für diesen Fall gerüstet.

Präsidenten von Russland und Belarus Vladimir Putin und Alexander Lukashenko bei Besuch in Vostochny Cosmodrome in Amur
Reuters/Sputnik
Putin, Lukaschenko und Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin Mitte April

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar, der teilweise auch von belarussischem Gebiet aus erfolgte, sind die Beziehungen zwischen Minsk und Kiew angespannt. Die Ukraine geht davon aus, dass Russland versuchen wird, Belarus in den Krieg zu ziehen. Die USA und die EU haben bereits Sanktionen gegen das Land verhängt. Machthaber Alexander Lukaschenko hat bisher aber stets dementiert, sich an der russischen Invasion mit eigenen Truppen zu beteiligen.

Warten auf den 9. Mai

Die Nachricht von dem Militärmanöver schließt an Spekulationen über eine Ausweitung des Krieges an, der in Russland bisher unter dem Schlagwort einer „militärischen Spezialoperation“ läuft. Es wurde spekuliert, dass Russland offen in den Krieg treten und so eine Generalmobilisierung starten könnte. Der Chef der ukrainischen Militäraufklärung, Kyrylo Budanow, hatte zuletzt von russischen Vorbereitungen auf eine offene Mobilisierung von Soldaten und Reservisten gesprochen. Belege dafür gibt es nicht.

Zerstörte Gebäude in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Verwüstung im Osten der Ukraine

Doch auch im Westen wird diese Überlegung offenbar für plausibel gehalten. Der US-Sender CNN zitierte den britischen Verteidigungsminister Ben Wallace mit entsprechenden Mutmaßungen: „Ich glaube, er (Russlands Präsident Putin, Anm.) wird sich von der ‚Spezialoperation‘ wegbewegen. Er hat das Spielfeld aufbereitet und die Grundlage gelegt, um sagen zu können: ‚Seht her, das ist ein Krieg gegen Nazis, und ich brauche mehr Leute. Ich brauche mehr russisches Kanonenfutter.‘“ Wallace sagte, er habe keine entsprechenden Informationen, wäre aber nicht überrascht, wenn das am 9. Mai verkündet würde.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, sagte: „Es wäre eine große Ironie, wenn Moskau den Tag des Sieges nutzen würde, um einen Krieg zu erklären. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir im Vorfeld des 9. Mai mehr aus Moskau hören werden.“

Richtungsweisende Rede erwartet

Am 9. Mai feiert Russland traditionellerweise den Sieg über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade und einer Rede von Putin auf dem Roten Platz in Moskau. Heuer soll es laut dem Kreml Paraden in 28 Städten geben. Laut Kiew soll auch eine in der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol stattfinden, derzeit würden Vorbereitungen – etwa die Beseitigung von Trümmern, Sprengkörpern und Opfern – laufen. In Kiew war die Rede von einer großangelegten Propagandakampagne.

Putin wird eine Rede halten – von dieser erhoffen sich Beobachter Indikatoren für die weiteren Pläne Russlands in der Ukraine. Der amerikanische Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter, wiederum geht eigenen Aussagen zufolge eher von einer Annexion der ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk aus. Ähnliche Pläne könnte Moskau auch für das besetzte südukrainische Gebiet Cherson haben, sagte Carpenter.

Aktuelle Lage im Ukraine-Krieg

Im Ukraine-Krieg mehren sich die Warnungen, Russland könnte mit manipulierten Referenden versuchen, mehrere Regionen im Osten des Landes aus der Ukraine herauszulösen – ähnlich wie man es 2014 auf der Krim gemacht hatte. Nach der ukrainischen Regierung warnten nun auch US-Vertreter vor einer solchen Vorgangsweise, etwa in Luhansk und Donezk.

Einsatz von Reservisten wäre möglich

Der Kreml wies die Gerüchte über das Kriegsrecht am Mittwoch zurück. „Da gibt es keine Chance. Das ist Unsinn“, sagt Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Auch in den ersten Wochen nach dem Angriff auf das Nachbarland am 24. Februar hatte Moskau entsprechende Sorgen der eigenen Bevölkerung kommentiert und betont, dass eine Generalmobilmachung nicht geplant sei.

Selbst für den Fall einer solchen Anordnung wäre das Ausmaß völlig unklar. Russlands Gesetzgebung sieht etwa auch die Möglichkeit einer Teilmobilmachung vor, von der dann nur einzelne Regionen des Landes betroffen wären. Russland verfügt über geschätzt zwei Millionen Reservisten.

Militärstratege Sandtner zur aktuellen Lage und Russlands Problemen

Berthold Sandtner, Oberst des Generalstabsdienstes und Militärstratege, spricht über die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg.

Die russische Investigativplattform istories berichtet dazu, dass bereits Briefe an russische Veteranen geschickt wurden. In diesen soll pensionierten Militärangehörigen der Reserve angeboten worden sein, in der „Verwaltung“ in den besetzten Gebieten der Ukraine tätig zu werden. Die Plattform sieht darin einen Hinweis darauf, dass Russland deutliche Engpässe in der Armee verzeichnet.

Spekulation über Referenden

Viele Fachleute gingen ursprünglich davon aus, dass der russische Präsident am 9. Mai Erfolge in der Ukraine feiern will, deren angebliche „Entnazifizierung“ er als Ziel des Krieges nennt. Der Überfall war als schnelle Operation angelegt, geriet aber de facto ins Stocken.

Nun rechnen einige Beobachter eher mit einer Intensivierung der Kampfhandlungen. Spekuliert wurde zuletzt auch, Russland könnte mit manipulierten Referenden versuchen, mehrere Regionen im Osten des Landes aus der Ukraine herauszulösen – ähnlich wie man es 2014 auf der Krim gemacht hatte.

Attacken auf Versorgungslinien

Zuletzt intensivierte Russland seine Attacken auf die ukrainische Militärinfrastruktur und das Transportnetz. Der Kreml teilte zuletzt mit, man werde auch Waffentransporte des Westens an die Ukraine ins Visier nehmen. Dazu kam es auch im Westen des Landes zu Beschuss. „Es wurden sechs Umspannwerke der Eisenbahn nahe den Stationen Pidbirzi, Lwiw, Wolowez, Tymkowe und Pjatychatky vernichtet, durch die Transporte von Waffen und Munition aus den USA und den europäischen Ländern für die ukrainischen Truppen im Donbas liefen“, teilte das Verteidigungsministerium mit.

Brennendes Öldepot in Donetsk
Reuters/Alexander Ermochenko
Brennendes Öllager in Donezk

Darüber hinaus wurde von schweren Luft- und Artillerieangriffen der russischen Truppen entlang der Front im Osten berichtet. So hätten Artillerieeinheiten rund 500 Ziele beschossen, darunter Kommando- und Stützpunkte, Depots und Truppenansammlungen. Dabei seien mehr als 300 ukrainische Soldaten getötet worden. Durch russische Raketen wiederum seien mehrere ukrainische Artilleriestellungen und Luftabwehrsysteme ausgeschaltet worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.